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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


25. Die Tag- und Nachtwickler (ein Bruchstück)*

Ein Mann hatte in alter Zeit zwei Knaben. Vater stirbt, hinterläßt den beiden Burschen gar nichts, weder Land zum Anbau noch die Kenntnis irgendeines Berufes. Die beiden Burschen bleiben daher während vier Jahren im Elend. Eines Tages kommt nun, nach der einen Angabe ein Amrar asemeni, nach der anderen ein Heiliger (oder Malaike) und fragt die beiden, was sie sich wünschen. Der Altere wünscht sich die Achtung und die Verehrung der Welt zu erobern, vor allem aber klar in der Welt zu sehen, der Jüngere wünscht seinem Herzen Hilfe, um den Himmel zu verehren. Die



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Wünsche kommen zu Gottes (Arbes) Ohren. Gott bestimmt, daß der Altere sich "mit der Arbeit des Tages", der Jüngere "mit der Arbeit der Nacht" beschäftige.

Beide Brüder nun auf der Wanderschaft. Der Jüngere als Tapferer vorneweg, der Ältere als der Bedächtigere hinterher; sie kommen in einen Wald. Der Ältere fürchtet, sie könnten einem Löwen begegnen. Wie sie nachts im Walde sind, fällt plötzlich zwischen beiden Burschen ein Ball schwarzer Wollfaden nieder. Der Ball tanzt hin und her. Er tanzt auf den Jüngsten zu. Der Jüngere springt entsetzt beiseite. Endlich fällt der Ball aber doch in den Schoß des Jüngeren; der Jüngere fällt erst in Ohnmacht, dann erwacht er aber und beginnt nun seine Arbeit, nämlich des Abwickelns des schwarzen Wollfadenballes.

Der Altere setzt sich daneben und schaut erst eine Zeitlang der Arbeit des Jüngeren zu, ohne etwas zu tun; als aber die Nacht dem Ende nahe ist, fällt ein weißer Wollfadenballen vor ihm nieder und tanzt so lange herum, bis er ihn ergreift. Der Ältere beginnt nun die Arbeit des Wickelns; indem er den weißen Wollfaden abwickelt, beginnt der Tag. Der Jüngere ermüdet inzwischen mehr und mehr. Er hört mit dem Abwickeln des dunklen Fadens auf, und die Nacht geht ihrem Ende entgegen. Endlich schläft er ganz ein, während der Bruder in voller Tätigkeit ist. Niemand kann den älteren Bruder sehen. Aber während seiner Arbeit wird es mehr und mehr Tag.

Diese Arbeit führten sie nun Tag und Nacht abwechselnd aus, und so machten sie Tag und Nacht. — Es muß nun eines betont werden: die drei Erzähler sind sich alle drei unklar, ob der Ältere der Wickler des schwarzen Nachtfadens ist oder der Jüngere. Die ersten Referenten erklärten den Weißenfadenwickler für den Jüngeren, die späteren für den Älteren.

D ann wird von den Brüdern noch weiter erzählt (aber weniger exakt).

Nach (sieben) oder (siebenundsiebzig) Jahren geben sie die Arbeit auf, kommen in ein Kaffeehaus, werden von einer Stimme aus dem Himmel informiert, daß Gott mit ihrer Arbeit zufrieden sei. Sie sollen belohnt werden. Ihre neue Zeit beginnt aber mit einer Prüfung. Sie werden vom Wasser weggespült. Sie bleiben gottergeben und werden endlich an das Land gespült. Der Ältere wird nun, nach rechts gehend, ein frommer Einsiedler. Der Jüngere geht nach links und kommt an eine Stadt, gegen die seit einundzwanzig Jahren die



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Wuarssen kämpfen. Die Wuarssen haben alles getötet. Nur Frauen leben da. Vorher war ein Amrar asemeni in der Stadt gewesen. Der Amrar asemeni war gegangen, und nun sind nur noch die Frauen da, da die Wuarssen alle Gewalt über die Männer gewannen und sie vernichteten.

Der Jüngere erfährt das alles, geht in den Wald und ersucht den Amrar asemeni zurückzukommen. Der tut es. Sogleich grünen wieder die Pflanzen, werfen die Tiere Junge und werden die Frauen schwanger.

Der Jüngere brach am Tage nachher, nachdem er seine heiligen Bedenken über das etwaige Sündhafte seiner Maßnahme überwunden hatte, auf zum Kampf gegen die Wuarssen. Kampf. Tötet die meisten Wuarssen. Ein Wuarssenmädchen zeigt ihm den Weg zum unterirdischen Geschoß (sadhau-'demurth), das sieben Khamar (ca. zwanzig Meter) unter der Erde ist und wo der Agelith der Wuarssen lebt und wo auch die Männer der Stadtfrauen gefangen liegen. Der Bursche befreit alle. In der Stadt Seligkeit. — Danach kehrte der Bursche zurück.

Er stellt nun an einem grünenden Zweig (Todeszeichenmotiv) fest, daß sein älterer Bruder noch lebt. Er läßt den alten Amrar asemeni als Agelith in der glücklich gemachten Stadt zurück und folgt nach rechts dem Weg des älteren Bruders. Trifft ihn an einem Platze, an dem der Bruder schon ein Jahr und drei Tage wohnt.

Nun kehren beide heim und heiraten. Der Ältere regiert als Agelith den Morgen. Der Jüngere regiert als Agelith den Abend.

Nochmalige genaue Nachfrage ergibt:

Der weiße Ball - dem Älteren.

Der schwarze Ball - dem Jüngeren. Das Ganze eine Propagandalegende der heiligen Neuzeit, aufgebaut auf einem guten, alten mythologischen Material. Denn die Legende von den beiden wollabspinnenden Brüdern, die Tag und Nacht regieren, habe ich oft gefunden. Dieser Teil ist alt und echt kabylisch.


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