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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Die Feen

Es war einmal eine Witwe, die zwei Töchter hatte. Die Älteste glich ihr so sehr an Gemütsart und Gesicht, daß jedermann glaubte, er sähe die Mutter vor sich. Beide waren so widerwärtig und so stolz, daß man nicht mit ihnen zusammen leben konnte. Die Jüngste dagegen war das getreue Abbild ihres Vaters, was Güte und Sanftmut betraf, und obendrein war sie die schönste Jungfrau, die man hätte finden können. Da man natürlicherweise immer seinesgleichen liebt, so war die Mutter ganz versessen auf ihre älteste Tochter, während sie gleichzeitig eine heftige Abneigung gegen die jüngste empfand. Sie ließ sie in der Küche essen und ohne Unterlaß arbeiten. Unter anderm mußte das arme Kind zweimal am Tage zu einem Brunnen gehen, der eine gute halbe Meile vom Hause entfernt war, und Wasser schöpfen, dessen es einen ganzen Krug voll heimtragen mußte. Eines Tages, da sie bei der Quelle stand, kam eine arme Frau zu ihr, die sie um einen Schluck Wasser bat. »Gern, liebe Mutter!« sagte die schöne Jungfrau, schöpfte sogleich Wasser aus der reinsten Stelle des Brunnen und reichte es der Alten, indem sie dabei



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beständig den Krug hielt, damit jene bequemer trinken könne. Als die gute Frau getrunken hatte, sprach sie zu ihr: »Du bist so schön, so gut und brav, daß ich mich nicht enthalten kann, dir eine Gabe zu verleihen.« Sie war nämlich eine Fee, welche die Gestalt einer Bäuerin angenommen hatte, um zu erforschen, wie artig das Mädchen eigentlich sei. »Ich gebe dir zum Geschenk«, fuhr die Fee fort, »daß bei jedem Worte, daß du redest, aus deinem Munde eine Blume oder ein Edelstein hervorgeht.«

Als das Mädchen heimkam, schnaubte die Mutter es an, weil es so spät vom Brunnen heimkomme. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Mutter«, sagte das arme Kind, »daß ich mich solange versäumt habe!«Und während sie diese Worte sprach, traten ihr zwei Rosen, zwei Perlen und zwei große Diamanten aus dem Munde. »Was sehe ich da?« rief ihre Mutter höchst erstaunt, »ich glaube, Perlen und Diamanten kommen ihr aus dem Munde, woher ward dir das, liebe Tochter?«(es war das erste Mal, daß sie ihr Kind »liebe Tochter«anredete). Das arme Kind erzählte ihr arglos alles, was ihm zugestoßen war, nicht ohne dabei eine unzählbare Menge von Diamanten von sich zu geben. »Wahrhaftig«, sagte die Mutter, »da muß ich meine Älteste hinschicken. Du, Franzl, sieh, was aus dem Munde deiner Schwester hervorgeht, wenn sie spricht. Würde es dich nicht froh machen, die gleiche Gabe zu erhalten? Du brauchst nur Wasser aus der Quelle zu schöpfen, und wenn eine arme Frau dich um einen Trunk bittet, so mußt du ihr hübsch artig das Wasser reichen.« —»Das wäre mir schön genug«, antwortete jene trotzig, »daß ich an die Quelle ginge!« —»Ich will aber, daß du hingehst«, sagte die Mutter, »und zwar auf der Stelle.« Die Böse ging also unter beständigem Brummen hin und nahm dazu das schönste Silbergefäß, das sich im Hause fand.

Kaum war sie am Brunnen, so sah sie eine prächtig gekleidete Dame aus dem Walde treten, die sich von ihr einen Trunk erbat. Es war die nämliche Fee, die sich diesmal in das Äußere und in die Gewänder einer Prinzessin gehüllt hatte, um zu erfahren, wie unartig das Mädchen eigentlich sei. »Bin ich hierhergekommen«, sagte die Stolze trotzig, »um Euch zu trinken zu geben? Sicher habe ich mein Silbergefäß ausgerechnet dazu mitgebracht, um der gnädigen Frau Wasser zu reichen. Ich bin der Meinung, daß Ihr Euch selber das Wasser schöpfen könnt, wenn Euch dürstet.« —»Du bist nicht artig«, erwiderte die Fee, ohne sich dabei zu erzürnen, »nun gut, da du so wenig gefällig bist, gebe ich dir als Geschenk, daß bei jedem Wort, daß du aussprichst, eine Schlange oder eine Kröte aus deinem Munde kommt.«



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Sobald ihre Mutter sie bemerkte, rief sie ihr zu: »Nun, mein Kind?« »Nun, liebe Mutter?« antwortete ihr die Böse und warf dabei zwei Vipern und zwei Kröten aus. »O Himmel«, rief die Mutter, »was seh' ich da! Aber ihre Schwester ist schuld daran, sie soll's vergelten!« Und sogleich lief sie hin, um die Jüngste zu schlagen. Das arme Kind entfloh und rettete sich in den nahen Wald. Der Königssohn, der gerade vom Jagen heimkam, begegnete ihr, und als er sah, wie schön sie war, fragte er sie, was sie da so allein mache und warum sie weine. »Ach, mein Herr, meine Mutter hat mich von Hause vertrieben!« Der Königssohn bemerkte, daß aus ihrem Munde fünf bis sechs Perlen und ebenso viele Diamanten hervorgingen, und bat sie, ihm zu sagen, woher ihr dies käme. Darauf erzählte sie ihm ihr ganzes Abenteuer. Den Königssohn ergriff Liebe zu ihr, und er bedachte, daß eine solche Gabe mehr wert sei als alles, was man einer andern als Brautschatz mitgeben könne; er geleitete sie in das Schloß seines königlichen Vaters, wo er sich mit ihr vermählte. Was die Schwester anlangt, so machte sie sich dermaßen verhaßt, daß ihre eigene Mutter sie aus dem Hause jagte, und nachdem die Unselige lange umhergeirrt war, ohne daß sich jemand gefunden hätte, der sie aufnehmen wollte, zog sie sich in einen Waldwinkel zurück, wo sie elendiglich umkam.


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