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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Hans der Bär

In den Bergen bei Vibres lebte ein schönes junges Mädchen, das weder Vater noch Mutter hatte. Es hieß Orsane. Sie ging täglich in den Wald, sammelte im Sommer Himbeeren, im Herbst Pilze und brachte diese zu den Herrschaften von Senez, um sich vom Erlös das nötige Brot zu kaufen. Im Winter sammelte sie Holz und Reisig, und im Frühling band sie kleine Blumensträuße.

Eines schönen Tages, als das Laub von den Bäumen fiel, trat sie ganz aus Versehen auf Irrkraut. Ihr kennt das nicht, aber es ist ein sehr gefährliches Gras. Es ist von so feiner Art, daß bisher noch kein Mensch es gesehen hat. Seine Blüten haben die Form von kleinen goldenen Flammen. Bei Nacht schimmern sie zart wie Glühwürmchen. Aber je näher man kommt, um so mehr erlischt dieser Schimmer. Setzt man den Fuß auf ein Büschel dieses Krauts und tut nur noch dreizehn Schritte, dann vergißt man den Weg zurück.

Verzweifelt suchte die schöne Orsane den Heimweg. Den ganzen Tag wanderte und stolperte sie durch den Wald, ohne aus ihm wieder herauszufinden. Und auch während der ganzen Nacht lief und irrte sie weinend in den Bergen umher. Alles ringsum war öde und leer, und weil das arme Ding keine Verwandten im Dorfe hatte, achtete niemand auf ihre Abwesenheit. Keiner sorgte sich um sie und zog aus, sie zu suchen.

Zum zweitenmal schon wurde es Nacht. Die Dunkelheit senkte sich



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herab. Orsane fand endlich den Eingang zu einer Höhle und schlich ermattet und müde hinein, um völlig erschöpft auf einem Haufen Laub einzuschlafen.

Beim Morgengrauen wurde sie durch ein lautes Geräusch von zerstampften und durcheinandergeschüttelten Blättern aufgeweckt. Sie vernahm ein rauhes Brummen - es war der Bär, der nach Hause kam. Sie war in die Höhle des Bären geraten!

Er stand aufrecht wie ein Mensch und breitete die Arme aus. Zwischen den Haarbüscheln seiner Schnauze konnte Orsane seine glänzenden kleinen Augen erkennen.

»Wer bist du? Was machst du hier?«brummte der Bär und beugte sich zu ihr hinunter.

»Ich bin Orsane, ich lebe allein ohne Familie. Ich suchte meinen Lebensunterhalt in den Wäldern. Ich habe mich im Walde verlaufen und kann mich nicht mehr herausfinden. Ich bin fast tot vor Erschöpfung, und mich hungert sehr.«

»Nun, du kannst hierbleiben, wenn du willst. Du wirst essen, was ich esse. Aber bringe mich nie wieder zum Sprechen - und sprich selber nie wieder mit mir! Sonst verschlinge ich dich mit Haut und Haaren!« Dieser Bär war mürrisch und verdrossen, aber im Grunde doch eine ganz ehrliche Haut. Orsane ernährte sich gern von dem wilden Honig und von den Früchten, die er brachte, und hielt sich bei Nacht an seinem mächtigen Fell schön warm. Zu Anfang streifte sie wohl noch oft im Walde umher und versuchte, den Ausgang zu finden, aber es gelang ihr nicht; und schließlich ergab sie sich darein, fern und abseits von den Menschen zu leben.

Im folgenden Sommer bekam sie ein wunderschönes Kind, das schnell heranwuchs und sich zu einem stämmigen kleinen Jungen entwickelte, dessen Haar ein kupferfarbenes Braun zeigte. Seine Fingernägel aber waren hart wie Eisen. Weil er genau an dem Tage geboren war, da die Sonne am längsten am Himmel steht, hatte sie ihn Johannes genannt. Er lief in den Bergen umher, und wo immer er einen jungen Bären traf, spielte und balgte er sich mit ihm. Stets erwies er sich als der Stärkere. Als er zwölf Jahre alt war, wurde es ihm langweilig, keine Gegner mehr zu finden, die ihm hätten Widerstand leisten können. Der Winter kam wieder, ein harter Winter, der alle in die Höhle sperrte. Die Tage erschienen endlos. Einmal, nur zum Zeitvertreib, stürzte sich Johannes auf seinen Vater, den Bären, der halb eingeschlafen war. Er schüttelte ihn heftig und brachte ihn in der Überrumpelung zu Fall. Der Bär brummte vor sich hin und versetzte ihm einen kräftigen Hieb.



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Da entschloß sich Johannes, davonzugehen, um bei den Menschen zu leben. Ihn störte das Irrkraut nicht, und er kannte alle Wege. Er wollte im Sommer zurückkehren und dann seine Mutter mitnehmen. Wochen vergingen. Lichtmeß kam. Am Morgen war es draußen mild und sehr klar. Der Bär trat aus dem Bau und tat unter den entlaubten Bäumen einige Schritte. Aber er erkannte an der Erde seinen Schatten und war gar nicht zufrieden mit diesem dicken dunklen Ding da neben ihm. Er stieß ein dumpfes Brummen aus und kehrte rasch ins Dunkel zurück, in die Höhle und unter die Erde, ohne noch einen Laut von sich zu geben. Orsane seufzte und sagte zu Hans:

»Da siehst du's! Erbat am Morgen von Lichtmeß seinen Schatten gesehen. Da müssen wir wieder für vierzig Tage noch eingesperrt bleiben...«

»Mag er im Schutz der Höhle bleiben, mich kümmert das nicht«, sagte Hans. »Ich gehe davon, und du kommst mit mir. Wir werden Menschen finden, die doch wenigstens mit uns sprechen!«

Sie ließen den alten Bären schlafen und stiegen zum Dorf hinunter. Das Wetter war plötzlich umgeschlagen. Es gab schreckliche Schneestürme. Das Gehen wurde mühsam. Doch Hans lief ständig voran und pfiff fröhlich wie eine Amsel.

Die Leute im Dorf machten große Augen, als Orsane nach so vielen Jahren mit einem so schönen Knaben zurückkehrte. Ihr Haus befand sich noch in recht gutem Zustand. Sie kümmerte sich nicht um die Leute, nahm ihr Leben von einst wieder auf und schickte den Hans in die Schule.

Hans wurde jeden Tag größer und stärker, aber die Schule mochte er nicht. Da mußte man ständig hinter Tür und Fenster bleiben. Während des Unterrichts zu spielen war streng verboten. Ihm erschien das alles noch viel langweiliger als der Winter in der Höhle des Bären. Und dann foppten ihn seine Kameraden wegen seines mächtigen, starken und breiten Wuchses und nannten ihn »Hans der Bär«. Nach Schulschluß gerieten sie oft aneinander, und er schlug sie alle mühelos. Da er aber keine anderen Spiele kannte als immer nur Balgen und Schlagen, mieden ihn die Kinder und flohen vor ihm. Der Lehrer machte ihm deshalb Vorwürfe. Da schlug er auch den Lehrer nieder und lief aus der Schule davon. Der Bürgermeister schickte Gendarmen zum Hause von Orsane, ließ Hans festnehmen, und sie brachten ihn ins Gefängnis, hinter eine wuchtige, mit Nägeln beschlagene Eichentür. Die Mutter kam, um Hans den Bären zu besuchen, und sprach mit ihm durch ein vergittertes Guckfenster:



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»Gefangen bist du, mein armer Kerl, du darfst nicht zu mir zum Essen kommen!« sagte sie und schluchzte. Er antwortete ihr und lachte ganz vergnügt:

»Weine nicht, liebste Mutter, ich werde bei dir daheim essen wie alle Tage. Halte nur eine kräftige, gute Kräutersuppe bereit!«

Sie kehrte halbgetröstet heim und fing an, das Gemüse für die Suppe zu putzen. Als er gegen Mittag Hunger verspürte, versetzte Hans der Tür mit der Schulter einen Stoß und ließ sie aufspringen. Er ging nach Hause, aß eine ganze Schüssel Kräutersuppe und sagte dann zu seiner Mutter:

»Wenn ich hierbleibe, werden die Gendarmen Euch nur neuen Kummer machen. Ich muß also weg von hier. Gebt mir ein bißchen Geld und meine neuen Schnürschuhe! Ich will ausziehen und mich im Lande umschauen.«

Er umarmte die gute Orsane und nahm den Weg ins Tal hinunter. Er wanderte von Dorf zu Dorf, ohne eine Arbeit zu finden, die für ihn gepaßt hätte. Eine Woche verging. Er hatte sich schon nach allen Richtungen hin umgeschaut und stieg nun wieder zu den Bergen hinauf, bis er an den Toren von Senez vor einer Schmiede anlangte. Der Schmied zog gerade an der Kette seines Blasebaigs und brachte ein Eisenstück zum Glühen. Hans redete ihn an:

»Seid gegrüßt, Meister! Habt Ihr wohl Arbeit?«

»Aber natürlich, hier wird nicht gefeiert. Hast du denn schon gearbeitet?«

»Das werdet Ihr sehen! Ich bin Hans der Bär.«

»Nun gut, komm herein und schlag mir dieses Eisen zurecht, um eine Pflugschar daraus zu richten!«

Hans stellte seinen Sack zur Erde, nahm die Zange, legte das rotglühende Eisen auf den Amboß, packte den Hammer - und päng! schlug er mit dem ersten Hieb den Amboß tief in den Boden. Es schaute nur noch eins der Hörner heraus.

»Das heißt nicht schlecht zugeschlagen!« sagte der Meister beunruhigt. »Ich möchte bloß wissen, wie du's jetzt anstellst, den Amboß wieder hochzubringen!«

Hans hob leicht den Fuß, drückte mit der Fußspitze gegen die Eisenmasse und hob sie heraus wie eine Rübe. Dann griff er den Amboß am Horn zwischen Daumen und Zeigefinger und trug ihn ein gutes Stück weg an eine Stelle, wo der Boden hart war.

»Dir werde ich die feinen Arbeiten anvertrauen!« sagte der Schmied und lachte.



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Und er gab ihm die härtesten Arbeiten. Hans der Bär aber ging mit solchem Eifer daran, daß er am Abend eine ganze Anzahl von Eisenbarren zerbrochen, drei Hämmer zerschlagen und den besten Amboß zerspalten hatte. Der Meister raufte sich die Haare:

»Wenn ich ihn behalte, bin ich noch vorm Ende der Woche glatt ruiniert. Jage ich ihn davon, ist er imstande und bringt mich um!« Darum redete er Hans dem Bären gut zu: »Höre, mein Junge, du bist der Mann, der reine Wunder vollbringt, aber das Schmieden, das ist eine viel zu sanfte Arbeit für dich. Du solltest woanders dein Glück versuchen.«

»Von mir aus, Schmied. Aber überlaß mir all die Eisenstücke, die ich zerbrochen habe, und laß mich noch ein letztes Mal schmieden!« »Das letzte Mal? Einverstanden. Aber was willst du mit all dem Eisen anfangen? Du kannst das doch nie fortbringen. Dazu brauchte es die Kräfte von wenigstens vier starken Männern!«

»Wartet nur ab, Ihr werdet gleich sehen«, antwortete Hans. Er brachte ein ganzes Bündel aufgespaltener und zusammengehauener Eisenbarren zum Glühen, hämmerte es sorgsam und schmiedete daraus schließlich eine riesige Stange, die dick war wie eine Wagendeichsel und gut ihre fünf bis sechs Zentner wog. Er verabschiedete sich von dem Schmied und ging fröhlich davon. Die Eisenstange nahm er bequem über die Schulter.

Gegen Abend kam er am Paß von Lèque an und setzte sich ins Gras, um auszuruhen. Da sauste etwas schnarrend über seinen Kopf hinweg: ein riesiger, runder Stein war's, gut ein Klafter breit, der im Kreis von Castellane wieder herunterfiel. Dann ließ ihn ein neuer Wirbel den Hals jäh zwischen den Schultern einziehen: Zwei, drei weitere Mühlsteine flogen auf ihn zu, überquerten den Paß und tauchten auf der anderen Seite unter. Jedes Mal brachte der Wind von ihrem Aufprall einen Duft von zerstampfter Minze mit. Hans durchspähte die ganze Gegend und entdeckte am Ende den Mann, der die Mühlsteine geschleudert hatte und noch einen letzten in Händen hielt.

»Das ist mir ein schönes Wurfscheiben-Spiel!« rief Hans ihm zu. »Du bist ja ein erstaunlicher Kerl! Ich selber bin Hans der Bär. Wie heißt denn du?«

»Ich bin der Mühlenabreißer. Ich langweilte mich so ganz allein, und ich vertrieb mir gerade ein bißchen die Zeit.«

»Willst du mit mir auf Wanderschaft ziehen?«

»Ganz ern.«

Eifrig schwatzend zogen sie los. Am Tage darauf kamen sie in einen



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Wald und sahen einen Holzhauer, der hatte als Werkzeug nur eine Sichel, wie die Grasmäherinnen sie benutzen. Mit zwei Sichelhieben hackte er eine mächtige Tanne ab, und als er genug Tannen umgehauen hatte, machte er Bündel daraus. Er riß eine Eiche aus, stemmte sie unter seinen Fuß, drehte sich eine Art Strick daraus, und mit diesem Strick band er acht oder zehn von den Tannen zusammen.

»Du fängst es ja gut an!« rief Hans ihm zu. »Ich muß es wissen! Ich nämlich bin Hans der Bär. Wie heißt denn du?«

»Der Eichendreher. Jeder verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem, was er kann.«

»Willst du mit uns zusammen losziehen?«

»Ganz gern.«

Die drei Gesellen marschierten zusammen ein gutes Stück. Am Abend gelangten sie an den Fuß eines Berges, auf dem sich ein großes, altes, hellerleuchtetes Schloß erhob. Sie fragten eine alte Frau, die am Wegrand ihre Ziege hütete: »Wem gehört dieses Schloß?«

Die alte Frau stellte sich zunächst taub oder stumm und antwortete nicht. Schließlich entschloß sie sich doch dazu, spie aus und sagte: »Geht nur hin, wenn Euch das lockt: aber Ihr werdet rasch merken, daß das ein verwunschenes Schloß ist! Schon mehr als hundert Ritter sind dort hinaufgegangen, nicht einer ist je wieder herausgekommen.«

Hans der Bär liebte kluge, zur Vorsicht mahnende Ratschläge gar nicht. Er zog seine Kumpane mit, und sie stiegen zusammen den Berg hinauf. Mitten in der Nacht kamen sie vor denk Schloß an. Sie fanden die Türen weit offen, aber niemanden, der sie bewachte. Sie traten in die hellerleuchteten Säle ein: Sie waren sämtlich leer. Auch die Treppen waren leer, die Flure auch. Alles war vergoldet, doch es herrschte gähnende Stille.

»Schöne Herberge -das!« sagte Hans der Bär. »Und keine störenden Hausherren! Wie wäre es, wenn wir uns hier einrichteten?« »Oh! Schließlich geht's auch darum, was zu essen zu kriegen«, sagte Eichendreher. »Ich habe nichts Rechtes mehr in meinem Sack. Wie steht das mit Euch?«

»Ich auch nicht«, sagte Mühlenabreißer. »Aber wir werden hier bleiben müssen. Es ist spät, legen wir uns jetzt einmal schlafen. Morgen früh werde ich aus allem, was wir noch bei uns haben, eine gute Suppe kochen. Ihr beiden geht unterdessen auf die Jagd. Ich rufe euch oder gebe euch Signal, wenn die Suppe fertig ist, und das Wildbret, das ihr erlegen werdet, können wir dann für den Abend aufheben. Am nächsten Tag können wir uns ja abwechseln.«



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Sie verbrachten eine ruhige Nacht. Am folgenden Morgen brachen Hans der Bär und der Eichendreher zur Jagd auf. Mühlenabreißer richtete sich in der Küche ein, röstete Brot, briet Speck an, ließ Zwiebeln schmoren und bereitete aus dem allen eine kräftige Suppe.

Gegen Mittag nahm er ein am Kaminsims hängendes Horn vom Haken und öffnete das Fenster, um seinen Kumpanen Signal zu blasen. Er führte das Horn an den Mund, blies die Backen auf. . . und im selben Augenblick prasselten Steine im Kamin. Blitzschnell fuhr der Mühlenabreißer herum.

Da stand vor ihm ein winziges Männlein, das die Nase zu ihm heraufreckte, ein kleines Männchen, nicht höher als das Spinnrad einer braven alten Frau; und genau wie ein altes Spinnrad schien auch das Männlein ganz hager, dünn und fast gebrechlich. Er war von Kopf bis Fuß splitternackt und bleich wie eine ausgetrocknete Artischocke. Es hatte den stachligen Schnurrbart und den platten Schädel einer Wildkatze. »Wo kommst du her? Was willst du?« fragte ihn Mühlenabreißer.

»Ich möchte von deiner guten Suppe kosten!« antwortete der kleine, bleiche Mann.

»Geh dahin, von wo du gekommen bist, du kleines Ungeziefer, oder ich zermalme dich!«

»Ah, redest du somit mir? Sieh dich vor, mein Sohn!« Der kleine Mann hielt eine Haselnußgerte in der Hand. Er hob sie und stürzte sich auf Mühlenabreißer wie eine Spinne auf eine dicke Fliege. Darauf war Mühlenabreißer nicht gefaßt. Angewidert wich er zurück. Der kleine Mann versetzte ihm auf die Schenkel einen ganzen Hagel der sonderbarsten kleinen Hiebe, die ihm wie Feuerstrahlen durch den ganzen Leib fuhren; so grimmig und so lange, daß er schließlich ohnmächtig auf die Fliesen sank.

Erst drei Stunden später kam Mühlenabreißer wieder zu sich, weil vom Hof her lärmende Schritte und lautes Rufen ertönten. Völlig zerschlagen erhob er sich und sah Hans den Bären und Eichendreher ankommen, die voller Ärger und Wut riefen:

»Wie lange willst du uns noch warten lassen, du großer Tunichtgut? Das lohnte die Mühe, derart zu prahlen! Warum hast du uns zur Mittagszeit nicht gerufen?«

»Ah! Ihr Freunde«, sagte Mühlenabreißer und jammerte zum Steinerweichen, »ich hatte eine so gute Suppe gekocht, die ganz herrlich duftete. Da ist plötzlich ein ungeheurer schrecklicher Riese gekommen, der wollte sie aufessen. Ich habe mich wütend auf ihn geworfen, aber er hat mich ganz krumm und lahm geschlagen mit Hieben, von denen



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jeder einzelne mich von Kopf bis Fuß schier versengt hat. Schließlich hat er mich für tot liegen lassen. Und seht bloß —den Kochtopf hat er völlig leer gemacht.«

»Das geht ja gut an«, sagte Eichendreher. »Morgen bin ich's der dableibt. Und falls dann der Riese kommen sollte, werde ich ihn ganz gehörig durchbläuen!« Am andern Tag begleitete der Mühlenabreißer Hans den Bären auf die Jagd, und der Eichendreher blieb im Winkel beim Feuer. Aber zu Mittag ertönte wieder kein Signal. Die Jäger geduldeten sich bis zum frühen Nachmittag.

»Zum Feuermachen und Kochen taugt er wohl weniger als zum Holzschlagen!« sagte Hans der Bär, als immer noch kein Signal zum Essen rief.

Endlich kehrten sie mit knurrendem Magen um, denn sie wollten nicht noch länger warten, und fanden Eichendreher lang am Boden hingestreckt. Sie rüttelten ihn und schütteten ihm kaltes Wasser ins Gesicht. Endlich kam er wieder zur Besinnung und stöhnte:

»Ah! Ihr Freunde! Der Riese ist wiedergekommen. Er ist noch viel größer und viel schrecklicher, als Mühlenabreißer gesagt hat. Er ist hoch wie der Kirchturm von Senez und rot wie eine Pfeffernuß von La Saint-Roche. Er hat mich gedroschen und gebeutelt, er hat mich halbtot geschlagen. Und seht doch nur! Er hat den Kochtopf völlig geleert!« Als er das sagte, vergoß er in den leeren Suppentopf heiße Tränen. Mühlenabreißer lachte sich ins Fäustchen bei dem Gedanken an diesen Riesen, der hoch und breit wie ein Spinnrad und blaß und welk wie eine vertrocknete Artischocke war. Aber er hütete sich wohl, dem Eichendreher zu widersprechen.

»Reden wir nicht mehr davon!« erklärte Hans der Bär. »Ihr seid doch wirklich schwächliche Kerle. Morgen soll der Riese jemanden finden: dann werde ich ihn übernehmen!«

Bei dem Gedanken an die Tracht Prügel, die dieses Großmaul beziehen würde, fühlten sich die beiden anderen für die Prügel, die sie selber erhalten hatten, fast schon völlig entschädigt.

Am nächsten Tag also blieb Hans der Bär allein im Schloß, während die beiden starken Männer auf Jagd zogen. Zu Mittag war seine Suppe fertig. Er nahm das Horn vom Haken und blies, ohne das Fenster zu öffnen, so stark vor dem weit offenen Kamin, daß die Mauern erbebten und eine Wolke von Ruß durch die Esse puffte und bis zu den Wolken hinaufwirbelte. Die beiden Jäger, eine knappe halbe Meile entfernt, hörten den Schall erstaunt und machten sich eilig an die Rückkehr. Inzwischen hatte Hans der Bär das Horn wieder an seinen Nagel überm



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Kamin gehängt. Im selben Augenblick erschien der kleine, weiße Mann mit seiner Haselnußgerte vor der Feuerstelle und schnüffelte mit der Nase den leckeren Duft der Suppe ein.

»Nanu, bist du der große Riese?«fragte Hans der Bär lachend. Der kleine Mann hob wütend sein kleines Stöckchen. Aber Hans der Bär war schneller als er, hatte bereits seine kräftige Eisenstange ergriffen und wuchtete sie auf seinen Katzenschädel. Doch er war hart wie Kiesel, dieser kleine Mann, und unter der Masse von Eisen sprühten die Funken, aber er krümmte sich nicht, er erlag nicht. Er brachte Hans dem Bären sogar Schläge mit seiner Gerte bei, die wie glühende Kohlen brannten. Hans glaubte schon, die Beine seien ihm gebrochen, doch biß er sich auf die Lippen und schlug hart zurück. Nach fünf Minuten, völlig zerschlagen und außer Atem, gelang es Hans dem Bären, den kleinen Mann zu Boden zu werfen. Der aber sprang fast auf der Stelle wieder hoch, und seine Schläge ließen Hans den Bären vor Schmerzen und Wut schreien. Mit drei oder vier kräftigen Hieben mit der Eisenstange schlug er ihn jedoch zuletzt platt: sssuu! — rechts -links -rechts, wie man mit drei Löffelschlägen Schweineschmalz im Topf breitschlägt. Der kleine Mann bat jammernd und winselnd um Gnade:

»Wenn du mich leben läßt«, sagte er zu Hans, »will ich dir das Geheimnis des Schlosses offenbaren.«

»Sag's zuerst! Ich will dann zusehen, was zu tun ist.« »Dieses Schloß ist verzaubert. Unter dem Stein des Kamins ist ein tiefer Schacht. Auf dessen Grund ist eine Prinzessin, die darauf wartet, erlöst zu werden. Es ist die schönste Prinzessin der Welt. Was meinst du dazu?« »Das braucht dich nicht zu kümmern. Trotzdem, vielen Dank! Jetzt mach dich schnell davon und laß dich nur ja nie wieder sehen!« Der nackte kleine Mann, weiß und gebrechlich wie er war, hinkte davon, so rasch er eben konnte.

Jetzt hörte Hans auch schon Mühlenabreißer und Eichendreher die Treppe heraufstürmen.

»Ist das Essen fertig? Hast du den Riesen nicht gesehen?« »Nein, ich habe nur einen bösen, kleinen Mann gesehen, und ich bin's der ihn zusammengeschlagen hat. Ihr seid bloß zwei erbärmliche Lügenbeutel. Ihr seid doppelt so alt wie ich, ihr seid vielleicht auch stärker als ich; aber es genügt eben nicht, Arme und Beine gut beisammen zu haben, es braucht auch einen klaren Kopf und ein tapferes Herz auf dem rechten Fleck. Ich glaube, es war falsch, daß ich mich mit euch einließ.« »Nun, sei nicht so böse! Wir sind ja überrumpelt worden. Wenn du nicht auf deiner Hut gewesen wärst dank der Tracht Prügel, die vor-



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her wir bezogen haben, hättest du dich vielleicht auch durchwalken lassen!«

»Nun gut, ich will jetzt eure Tapferkeit noch einmal auf die Probe stellen. Nach dem Essen steigen wir unter den Kamin hinunter. Wer sich dann als der Tapferste erweist, wird die schönste aller Prinzessinnen heiraten, die dort in der Tiefe gefangen sitzt.«

Sie aßen, und dann stemmte Hans der Bär mit seiner Eisenstange den Stein der Feuerstelle in die Höhe. Darunter erkannten sie einen schwarzen Brunnenschacht, der sich tief in den Berg bohrte. Sie schlangen ein Seil, gut hundert Klafter lang, dem Mühlenabreißer unter die Achseln und ließen ihn hinunter. Doch als das Seil zu Ende war, blieb es straff und schwer und fing an, zu tanzen und sich zu drehen. »Es ist zu kurz!« schrie der Mühlenabreißer hinauf. »Zieht mich rasch wieder hoch!«

Seine Stimme war aus der Tiefe kaum noch zu hören. Er erschien ganz bleich wieder am Rande des Loches. Hans der Bär knotete ein zweites Tau von hundert Klaftern an das erste an. Aber der Mühlenabreißer wollte nicht wieder hinunter.

»Was hast du denn gesehen?«fragte ihn Hans.

»Nichts, nichts, das ist ja gerade das Schreckliche. Geht nicht hinunter! »Geh du jetzt, Eichendreher!« befahl Hans.

Sie banden ihn unter den Armen fest, und schon fuhr er durch das Loch hinab. Aber als das Seil abgerollt war, fing es wieder an zu tanzen und sich zu drehen. Die Stimme vom Eichendreher hörte man überhaupt nicht mehr. Hans der Bär und der Mühlenabreißer zogen ihn gemeinsam mit großer Mühe wieder hoch. Er war ganz bleich und sagte nur: »Ich hab Angst! Ich hab Angst! Hans der Bär, geh nicht hinunter!« »Aber natürlich werde ich gehen«, erwiderte Hans der Bär. »Und ich bin's der die Prinzessin heiraten wird.« Er knotete noch drei Seile von je hundert Klaftern an die beiden ersten, und die beiden tapferen Gesellen ließen ihn in das Dunkel hinunter. Der Abstieg erschien Hans dem Bären sehr lang. Das Seil ließ ihn die ganze Zeit über sich drehen wie eine Spindel, und die Kälte der Erde drang ihm bis ins Knochenmark.

Endlich berührte er in der Finsternis, in der Tiefe des Berges, den Boden und band das Seil los. Er erkannte in der Ferne einen Lichtschimmer. Darauf ging er zu. Das Gewölbe des unterirdischen Ganges wurde nach und nach höher. Der Lichtschimmer verstärkte sich und wurde schließlich fast so hell wie die Sonne; und das Gewölbe wurde



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so hoch und so weit, daß man es zuletzt nicht mehr sah. Nur -anstelle der Sonne glühte ganz da oben etwas Bleiches und Zitterndes, etwas wie das Wasser eines Sees.

Auf einer Seite seines Weges sah Hans der Bär einen Haufen vergilbter Gebeine und zerbrochener Rüstungen. Ein großer Windhund schien dort zu wachen, der in einen Block von bläulichen Stein eingehauen war und sich auf einer dicken Steinplatte ausstreckte. Hans dachte an die hundert verschwundenen Ritter und sprach in seinem Herzen für die Seelen dieser Helden ein stilles Gebet. Der steinerne Windhund erhob sich und kam, ihm die Hand zu lecken. Hans streichelte ihn und setzte seinen Weg fort.

Ein Fluß zeigte sich vor ihm. Ober den Fluß führte anstatt einer Brücke nur ein langes Brett, das sich krümmte und durchbog, je weiter er bis zur Mitte vorrückte. Wiederholt glitt er aus und entging nur um ein Haar der Gefahr, ins Wasser zu stürzen. Wie er am Ende ankam, richtete sich vor ihm ein Drachte auf, der Feuer spie. Hans der Bär schwang sein mächtiges Eisenrohr und zerstieß dem Ungeheuer die Lenden. Dahinter erschien ein zweiter Drache. Dieser hatte sieben Köpfe - und in jedem Kopf ein einziges Auge. Hans hielt seine Eisenstange im Gleichgewicht vor sich wie eine Sense und mähte mit einem wuchtigen Hieb alle sieben Köpfe ab. Da fingen die sieben Augen an, dicke Tränen zu weinen, die waren aus goldenem Drachenblut und brannten wie schmelzendes Eisen. Ein Strom bildete sich daraus und quoll Hans entgegen, um ihn zu verschlingen. Eher der Strom anschwellen konnte, durchstach Hans die sieben Augen mit der Spitze seiner gewaltigen Stange und eilte weiter.

Da stürzte sich jäh vom Rande des bleichen, zitternden Sees da oben die »Mutter aller Drachen« auf Hans herab. Hinter ihr schleifte ihr Kleid aus grünlichem Leder in der Luft und bildete einen riesig langen Schwanz. Die »Mutter aller Drachen«wickelte Hans in die Falten ihres Schwanzes ein und flog davon. Sie stieg, stieg und stieg. . . Hans der Bär aber stieß ihr seine Eisenstange in den Leib und bohrte ein gewaltiges Loch, aber die geplatzte Haut flatterte nur rings um die Wunde auf, und die »Mutter aller Drachen« stieg weiter und weiter.

Hans zog sein Jagdmesser aus der Scheide und schnitt den grünen Schwanz ab, der ihn einwickelte. Dieser rollte sich nun auf wie die Schale eines Apfels. Hans, der sich an ihm festhielt, fiel mit ihm zusammen hinunter, ohne sich sonderlich weh zu tun. Was von dem Ungeheuer übrigblieb, zerschmetterte an einem Felsen. Der abgeschnittene Schwanz wand sich wie ein dicker Wurm. Er sprang auf ein kleines,



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fensterloses Haus zu, das auf einem Hügel stand. Durch die Mauern drang ein erstickter Gesang, so schön und so traurig, daß Hans dem Bären das Herz vergehen wollte. Er begriff sofort: das war das Haus der Prinzessin. Schnell umkreiste er das Haus, dessen einzige Öffnung eine schwere Eichentür mit gewaltigen eisernen Bändern verschloß. Es gab keinerlei Mittel, hineinzukommen.

Während Hans der Bär überlegte, was er tun müsse, sah er, daß der Schwanz des Drachens wie eine Kröte immer näher kroch und sprang. Etwas Schlimmes drohte der Prinzessin von diesem Unwesen, das spürte Hans. Darum durchbohrte er mit einem schrecklichen Hieb seiner Stange das Leder des Schwanzes und nagelte diesen an den Boden. Ein kleiner, nackter Mann, ganz weiß und zitternd, trat jetzt aus den Falten des Schwanzes heraus. Er hielt eine Haselnußgerte in der Hand und trabte hinkend auf die Tür zu. Hans riß seine Stange aus dem Boden heraus: der Schwanz bewegte sich nicht mehr. Aber während dieser Zeit warf sich der kleine, nackte Mann auf den Stein an der Schwelle. Ein Katzenloch öffnete sich unten an der Tür, und er schlüpfte ins Innere. Er tat das so überhastet, daß er sein Stöckchen entwischen ließ.

Wutentbrannt riß Hans der Bär alle seine Kräfte zusammen und schleuderte seine Stange wie einen Rammklotz gegen den Türpflügel. Das tat er dreimal, Schlag auf Schlag. Die Eiche krachte, das Eisen knirschte, rings um die Türangeln zersplitterte der Stein - in einer Wolke von Staub brach die Tür zu Boden.

Hans stürzte hinein und sah vor sich eine riesige Katze, aufrecht wie ein sich bäumendes Pferd. Sie war völlig nackt, ohne ein Fell über ihrer Haut, und von erschreckender Blässe. Ihre magere Brust sprang vor nach der Art eines Geierschnabels. Sie füllte mit ihrer Größe die ganze Breite und Höhe des Gewölbes.

Hans der Bär griff sie mit seiner zentnerschweren Eisenstange an, aber die grimmige Katze schien seine Schläge gar nicht zu spüren. Sie hatte einen der eichenen Querbalken ergriffen, den schwersten der Tür, und lieferte Hans damit einen schrecklichen Tanz. Endlich gelang es dem armen Jungen, der über und über blutete, ihr einen Stoß mitten in die Stirn zu versetzen. Eine Garbe von Funken sprühte heraus. Die Wildkatze strauchelte aber nicht; die sechs Zentner schwere Stange hingegen splitterte auseinander und zerfiel wieder in genauso viele Stücke, wie Hans sie in der Schmiede zusammengeschweißt hatte.

Er sah sich verloren, blieb aber entschlossen, als tapferer Mensch sein Leben auszuhauchen. Er beugte sich nieder, um wenigstens einen dieser



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Eisenstäbe noch einmal zu greifen, aber das strömende Blut machte ihn blind: er faßte nur ganz unversehens das Haselnußstöckchen, das dem blassen Männlein entwischt war. Wie toll schlug er damit auf die Wildkatze ein, die nun tot umfiel.

Bei dem Getöse vom Fall der Katze trat die Prinzessin aus ihrem Zimmer. Sie stürzte sich wie ein erlahmter Vogel Hans dem Bären in die Arme und küßte ihn auf die Lippen. Der Tapfere, der gerade einen so schrecklichen Kampf durchgestanden hatte, wurde bei der Süße dieses Kusses ohnmächtig. Sie aber wußte wohl, wie sie ihn wieder zur Besinnung bringen konnte. Und einige Stunden darauf, schon von seinen Wunden geheilt, führte Hans der Bär seine Braut auf den Grund des Brunnenschachts unterhalb des Schlosses.

Er band eine Stange an das Seilende, damit die Prinzessin darauf Platz nehmen konnte. Sie jedoch wollte nicht als erste hinaufsteigen:

»Wenn ich dort oben ankomme, werden deine Gefährten mich als Beute an sich nehmen und dich selber nicht hochziehen wollen!«

»Beunruhigt Euch darum nicht, meine Liebe und Gute«, sagte Hans. »Sie taugen nicht viel, das habe ich genau erkannt, aber sie wissen, daß ich Hans der Bär bin, und sie haben Angst vor mir. Ich will Euch um nichts in der Welt hinter mir in der Tiefe dieses Schachts allein lassen.«

Da löste die Prinzessin von ihrem Mieder zwei Veilchen, küßte sie und bot sie Hans mit Tränen in den Augen dar. Hans rüttelte mehrere Male an dem Seil, und die Prinzessin schwebte behutsam in die Höhe, hochgezogen von Eichendreher und Mühlenabreißer.

Während dieser Zeit dachte Hans der Bär eindringlich nach über alles, was er erlebt hatte. Er erinnerte sich an all die Lügen und die Feigheit der beiden Gesellen und auch an die Kränkungen, die er ihnen versetzt hatte. Er war unvorsichtig genug gewesen, ihnen zuerst zu sagen: »Die schönste der Prinzessinnen wird dem Tapfersten von uns dreien gehören«, und später zu erklären: »Sie wird mir gehören.« Was würden sie nun anstellen, diese Bösewichter?

Und tatsächlich, als Eichendreher und Mühlenabreißer jetzt die Prinzessin sahen, die so allerliebst und so schön war und ihnen unter dem großen, schwarzen Kamin schüchtern zulächelte, wurden sie völlig geblendet. Jeder von ihnen beschloß in seinem Herzen, sie für sich zu behalten. Trotzdem sagten sie nichts, denn sie hatten einander noch nötig, um Hans den Bären loszuwerden. Sie schauten einander an und verstanden sich mit einem einzigen raschen Blick.

Das Seil wurde von neuem langsam hinuntergelassen, lange, bis auf den



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Grund des Schachts. Nach einer Weile fühlten sie, wie das Gewicht von Hans es spannte, sie fühlten auch die drei ruckartigen Stöße, die das Signal gaben, und begannen zu ziehen, wobei sie wilde Grimassen schnitten. Sie zogen unter den Augen der beunruhigten Prinzessin zunehmend langsamer und keuchten.

»Oh, wie gräßlich schwer ist er doch, verglichen mit Euch, schönste Prinzessin!«

»Ah, das jetzt ist wahrhaftig viel schlimmer als ihn hinablassen!« »Mir zerreißt's noch die Arme!«

»Ich hab' mir die Hände ganz aufgeschürft!«

»Und oh, dieses Tau zerreibt sich über dem Stein! Der dröselt uns noch das Seil auf! Es ist einfach unmöglich!«

»Daß sie uns bloß nicht reißt, diese Leine!«

Endlich, nachdem sie den letzten Knoten hatten vorbeikommen sehen und dachten, Hans der Bär wäre nun etwa in Höhe von hundert Klaftern, stellten sie sich, als ob sie hinfielen, als ob das Seil zerrissen sei —und ließen es los. Ein dumpfes Getöse stieg aus der Tiefe des Schachts. Die Prinzessin fiel in Ohnmacht.

Hans der Bär aber lächelte, als er den dicken Stein, den er an das Seil gebunden hatte, herunterkommen sah. Die beiden Schurken sahen dieses Lächeln freilich nicht, sonst hätten sie wohl vor Schrecken mit den Zähnen geklappert.

Jetzt aber galt es, aus der unterirdischen Welt wieder herauszukommen, und Hans wußte nicht, auf welche Weise er das versuchen sollte. Traurig kehrte er zum Hause der Prinzessin zurück, in der Hoffnung, auf weitere Häuser, auf Menschen und Beistand zu stoßen. Er kam dicht an dem Haufen von Gebeinen und zerbrochenen Rüstungen vorbei, den er schon bei seiner Ankunft gesehen hatte.

Der große steinerne Windhund wachte da immer noch unbeweglich auf seiner Steinplatte. Er blickte Hans den Bären an. Hans verlangsamte seinen Schritt, dachte für eine Sekunde an das Unglück der tapferen Ritter, das gewiß noch viel hoffnungsloser war als das seine - und unwiederruflich. Er blieb stehen, nahm eins der beiden Veilchen der Prinzessin und warf es auf die Gebeine. Der steinerne Windhund erhob sich, kam heran und leckte ihm die Hand. Hans streichelte ihn mit verdüsterter Miene. Da sprach der große Windhund plötzlich:

»Wenn du schon einmal in der Luft geflogen bist, könntest du nicht noch einmal fliegen?«

Dann kehrte er mit geräuschlosen Schritten um, streckte sich wieder auf seiner Steinplatte aus und bezog erneut seine Totenwache. Der große



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steinerne Windhund lag wieder unbeweglich wie die Gebeine der Toten.

Hans dem Bären war es, als ob er aus einem Traum erwache. Er lief auf die Tür des Hauses zu. Der Schwanz des Drachen lag immer noch dort, auseinandergerollt in seiner ganzen Länge. Hans setzte sich auf die grünliche Lederhaut, wickelte seine Beine und seinen Oberkörper in die Falten des Schwanzes, und als alles Leder um ihn herumgewunden war, fühlte er jäh, wie er davonflog. Er brauchte nur in Gedanken zu lenken: höher, tiefer, nach rechts, nach links! —und er flog stets genau, wohin er verlangte. Er befahl der Hülle des Ungeheuers, ihn in den Schacht emporzuführen.

Die Prinzessin, Eichendreher und Mühlenabreißer waren nicht mehr da. Das Schloß selbst war eingestürzt.

Als die Prinzessin nach dem Verrat der beiden Männer und dem Schlag, der sie ins Herz getroffen hatte, wieder zu sich gekommen war, hatten Eichendreher und Mühlenabreißer bereits ihren Plan entworfen. Sie hatten zunächst angefangen, sich um den Besitz ihrer Beute zu streiten, einander zu bedrohen und beinahe schon, sich zu schlagen. Aber der eine war nicht tapferer als der andere. Und das war's, was sie schließlich zu ihr sagten:

»Der arme Hans der Bär ist tot. Wir hatten alles nur eben mögliche getan, um ihn zu retten, aber Ihr habt ja selber gesehen, wie das Verhängnis über uns gesiegt hat. Ihr braucht eine Wache, die Euch in das Königreich Eures Vaters zurückbegleitet, das noch weit entfernt von hier ist. Zudem haben wir beide wohl ein Anrecht auf eine Belohnung; denn ohne uns stecktet Ihr noch dort unten im Schacht. Ihr werdet uns also alle beide heiraten und einen Tag dem einen von uns gehören, am andern Tag dem andern. Wenn Ihr das ablehnt, werden wir Euch einfach umbringen, und wir werden das Königreich Eures Vaters genauso leicht zerstören, wie wir dieses Schloß hier zerstören können, wir sind die stärksten Männer der Welt.«

Und um sie in Furcht und Schrecken zu versetzen, ließen sie mit Hilfe von zwei Schulterstößen das Schloß auf dem Abhang des Berges umkippen: es stürzte, prallte wieder hoch, zersplitterte in tausend Stücke und fiel in Trümmer und Staub in die Tiefe des Abgrunds. Dann schleppten Eichendreher und Mühlenabreißer die Prinzessin fast schon wie eine Gefangene mit sich fort.

Die Prinzessin weinte und jammerte. Alle Freude, die sie empfand, ihre Eltern wiederzufinden, wurde durch die Androhung dieser schrecklichen



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Hochzeit erstickt. Aber sie wagte es nicht, ihrem Vater, dem König, die Wahrheit zu sagen. Er war so glücklich, der arme Mann, daß er sogar in die sonderbaren Bedingungen der beiden Gefährten einwilligte. Vielleicht hatte er auch Angst vor ihren Fäusten.

Die Festlichkeiten der Hochzeit wurden also vorbereitet. Das Festessen fand auf einer schönen, großen Wiese statt; denn es gab sehr viele geladene Gäste, und sämtliche Säle des Palastes reichten nicht aus, sie zu fassen. Am Schluß des festlichen Mahls aber sah man ein seltsames Tier am Himmel heranziehen. Das war Hans der Bär, in die Falten des Drachenschwanzes gehüllt, Hans der Bär, der allerorten nach seiner Verlobten suchte. Die festliche Menge auf der großen Wiese da unten hatte seine Blicke angezogen. Er stieg hinab, löste sich aus der grünlichen Drachenhaut und schritt auf die königliche Tafel zu.

Er steckte immer noch in seinen vom Kampf zerrissenen und von dem vergossenen Blut gebräunten Kleidern. Aber von seinem stürmisch bewegten Haarschopf her wehte es wie ein Wind von Jugend und Frühling, und seine braungoldenen Locken leuchteten in der Sonne. Sein Gesicht strahlte von Liebe. In der Hand hielt er ein noch frisches Veilchen.

Zitternd hatte sich die Prinzessin erhoben. Sie konnte kein Wort zu ihrem Vater sprechen, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Aber vor allen Anwesenden nahm sie nun in ihre kleine Hand die kräftige Hand von Hans dem Bären und ließ sie nicht mehr los.

Als aber die beiden Schurken so unvermutet den lebendig vor sich sahen, von dem sie meinten, sie hätten ihn getötet, liefen sie Hals über Kopf davon, und um ihre Flucht zu schützen, rissen sie alle Bäume aus, die die Wiese umsäumten, und warfen sie zur Deckung hinter sich. Hans der Bär aber dachte gar nicht daran, sie zu verfolgen. Er umarmte und küßte seine kleine Prinzessin und vergaß darüber die ganze Welt.


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