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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Das Fräulein mit der langen Nase

Hugo aus Saint-Mard war ringsum in der Gegend der lustigste Bursche. Er war an fröhlichen Liedern und munteren Späßen sehr viel reicher als an klingenden Talern. Aber er hatte zwei kräftige Arme und zwei flinke Füße. Er wußte sich stets aufs beste zu benehmen, und alle Leute im Dorf schätzten seine witzigen Einfälle und erbaten gern seine Dienste. Keiner hatte das je zu bereuen.

Aber Hugo war außerordentlich neugierig. Er wollte sich die Welt besehen und fremde Länder kennenlernen. Als er seine Eltern und alle seine Verwandten verloren hatte, beschloß er deshalb, in die weite Welt zu ziehen. Also suchte er den Pfarrer auf und übergab ihm den Schlüssel seines kleinen Häuschens.

»Bewahrt ihn mir gut, Herr Pfarrer! Ich weiß noch nicht recht, wann ich wiederkommen und ihn von Euch abholen werde.« Und schon ist unser Bursche davon. Er marschiert ein gutes Stück, geht hier vorbei und bleibt dort stehen. Viel Gepäck trägt er nicht bei sich, das ihn behindern könnte. Die Nacht verbringt er unterm freien Himmel, nimmt einen Teppich von Moos als Federbett. Es ist ja Sommerzeit und warm genug. In den Bächen, die vom Gebirge herabströmen, fließt klares Wasser.

Und eines schönen Morgens findet sich Hugo ganz entzückt vor einer Mühle, die dicht beim Wasser steht. Ihr Rad drehte sich keineswegs schnell, o nein, es stand still.

>Nanu<, dachte Hugo, >was ist das für ein Müller?< — »Holla, ist denn da niemand?« rief er laut und machte die Runde um das Haus. Er fand aber nur ein verhärmtes, armseliges Ding, das auf einem Baumstamm hockte und heiße Tränen weinte.

Als das Mädchen Hugo hörte, hob es den Kopf. Es war nicht besonders hübsch, aber sein Gesicht war sauber und frisch und atmete Vertrauen und Güte.

»Was hast du?«fragte Hugo, »warum weinst du denn? Und wo steckt der Müller, dem die Mühle gehört?«

»Ach, Herr! Der Müller, mein Vater, ist tot, und tot ist auch meine Mutter. Ich bin ganz mutterseelenallein geblieben, um die Mühle in Gang zu halten. Bis jetzt ist das so schlecht und recht noch gegangen. Aber gestern abend ist die schwere Winde der Mühle zerbrochen. Ich bin nicht kräftig und auch nicht erfahren genug, sie wieder instand zu setzen. Was soll bloß aus mir werden?«

»Weiter nichts?«sagte Hugo darauf. »Ich verstehe mich ein bißchen auf



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Stelimacherei, wenn es sich gerade so gibt. Laß mich den Schaden beschauen! Er wird sich beheben lassen.«

Er geht in die Mühle hinein, überprüft die Werkzeuge, legt die Jacke ab und packt Säge und Hobel an. »Aber bester Herr! Ich muß Euch sagen, daß ich nicht einen roten Heller im Hause habe, um Euch zu bezahlen.«

»Tü, tü, tü«, pfeift Hugo vor sich hin, ohne ihr zu antworten. Und er scheut keine Mühe, greift wacker und unverdrossen zu.

Ein paar Stunden darauf war die Winde wieder vollständig in Gang gebracht, und die Mühle drehte sich so gut wie zuvor.

»So«, sagte Hugo, »das war eine leichte Mühe, wie du siehst!«

»Hört zu«, sagte darauf das Mädchen, »Ihr seid ein ehrlicher Kerl! Ihr habt mir mein Auskommen gerettet. Geld habe ich keins, aber in dem Koffer, den meine Eltern mir hinterließen, habe ich einen leeren Geldbeute! gefunden, dazu einen ledernen Gürtel und ein Pfeifchen, wie es die Jäger tragen, um ihren Hund zu rufen. Nehmt diese Dinge! Sie können Euch vielleicht einmal nützlich sein.«

»Vielen Dank! Ich will sie gern als Andenken an dich nehmen! Und dazu bewilligst du mir rasch noch einen kleinen Kuß!«

Klug wäre Hugo gewesen, wenn er nun nicht weitergewandert wäre, um das Glück zu suchen. Aber alle Jugend steckt die Nase in den Wind und will nur den eigenen Kopf gelten lassen.

Hugo zog also wieder los, und gar bald schon vergaß er die junge Müllerin. Er wanderte nach einer Gegend, von der ihm ein alter Mann tausend Wunder berichtet hatte. Dort seien alle Leute glücklich und sämtliche Mägdlein verlockend hübsch, hatte der Mann gesagt. Die Hübscheste aber und sicherlich auch die Glücklichste sei die Tochter des Königs.

>He<, dachte Hugo und schritt wacker aus, >ich möchte wohl gern ein bißchen glücklich sein und auch dieses schöne Mädchen kennenlernen, das sie als die Schönste im Lande bezeichnen. Warum auch nicht? Bis heute hatte ich nichts als meine Arme und meine Beine. Und jetzt verfüge ich bereits über einen Geldbeutel und einen ledernen Gürtel, um den Beutel dranzuhängen. Nur schade, daß der Beute! leer ist. Wenn ich nur fünfzig Taler darin finden könnte, das würde mir recht schön vorwärtshelfen.<

Kaum aber hatte er diesen Wunsch ausgesprochen, als der Beute! an seiner Seite plötzlich schwer wurde. Er betastete ihn, öffnete ihn und staunte sehr: fünfzig Taler blinkten ihm entgegen!

»Potztausend, träume ich etwa? Fünfzig Taler sind zu mir gekommen!«



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Erzählte sie, zählte sie noch einmal - und zum drittenmal. Kein Irrtum möglich. Oh, das könnte man vielleicht noch einmal versuchen.

»Daß doch gleich noch weitere fünfzig Taler in meinen Beutel kämen!« Und schau, da war die Börse von neuem gefüllt.

Hugo begriff, daß der lederne Gürtel ein Zaubergürtel war. Eigentlich (dachte er) muß ich ihn der braven Müllerin zurückbringen. Aber es ist schließlich nicht verboten, ihn noch ein bißchen für mich zu benützen. Es häuften sich die Taler vor ihm. Bald war es ein ganz ansehnlicher Haufen. Ganz närrisch vor Freude fing Hugo an zu jubeln, zu singen und zu tanzen. Der Unvorsichtige!

Durch all den Lärm angelockt, stürzte sich eine Diebesbande aus dem benachbarten Wald auf den einsamen Wanderer. Hugo war völlig allein. Er wurde von der Bande umringt - und es blieb ihm nicht ein einziger Taler übrig. Trotzdem war er noch heilfroh, daß die Räuber ihm das Leben gelassen hatten.

Er überlegte, wußte nicht, an welchen Heiligen er sich wenden sollte, ergriff schließlich sein Pfeifchen und pfiff daraus einen scharfen, gellenden Ton. Hoffte er etwa, auf diese Weise die Taler zurückzupfeifen? Ein erbärmliches, armseliges Mittel, wahrhaftig!

Aber ein neues Wunder geschieht! Alsbald dringt aus sämtlichen Büschen ein Schwarm von Soldaten hervor. Sie verfolgen die Diebe, knebeln sie und bringen sie ins Gefängnis.

Der Geldbeutel war verzaubert, der Gürtel desgleichen und das Pfeifchen auch. >Mit diesen drei Gegenständen<, sagte sich Hugo, >kann ich mir die Welt erobern. Zunächst die Tochter des Königs, die so schön sein soll. Aber dazu wird's nötig sein, daß sie mich erst einmal in all meiner Überlegenheit erkennt.<

Unser Held kommt zur Stadt. Er braucht nicht lange, um seine Taler in prächtige Kleider zu verwandeln. Er verschafft sich eine hellschimmernde Karosse und dazu Lakaien, die ihn bedienen. Hugo versagt sich nichts -besitzt er doch an seinem Gürtel den Zauberbeutel, der ihn mit allem versorgt.

Prunkvoll fährt er über die Promenade. Die Tochter des Königs kommt zufällig vorbei. Natürlich staunt sie über diesen jungen Edelmann, dem sie noch nie zuvor begegnet war. Sie läßt keine Ruhe, bis er ihr vorgestellt wird. Hugo gibt sich für einen ausländischen Prinzen aus, und natürlich ist er von der Schönheit der Prinzessin völlig geblendet. Noch nie hat er eine so zarte Haut und ein so liebenswertes Benehmen gesehen. Er ist von ihr völlig verzaubert. Er bittet sie, seiner Einladung zu



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folgen, läßt ein vortreffliches Abendessen auftragen und führt sie zum Tanz. In einem festlichen Saal wird prächtig musiziert, nebenan wird bei hohen Einsätzen gespielt. Hugo verliert gewaltige Summen Geld, doch scheint ihm das keine Sorge zu machen. Aus seinem Beute!, der immer leer zu sein scheint und doch stets gefüllt bleibt, zieht er Taler um Taler hervor.

Das Geheimnis erregt die Neugier der Prinzessin. Sie möchte die Lösung des Rätsels erfahren, gibt sich sehr liebenswürdig, schmeichlerisch, drängend; sie nimmt ihn mit sich in ihrer Karosse, führt ihn auf ihre Zimmer, bestürmt ihn mit Fragen. Hugo, der gutmütige, dumme Junge, ganz von Stolz erfüllt, sein Geheimnis mit der Tochter des Königs zu teilen, vertraut es ihr an und lädt sie sogar dazu ein, es selber einmal mit dem Beute! zu versuchen. O der Narr! Kaum hat die Prinzessin den Beutel, da stößt sie Hugo auf den Gang und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.

Hugo steht verdattert da. Er klopft und pocht mit heftigen Schlägen. Man lacht ihm ins Gesicht. Man bedroht ihn. Schließlich jagen ihn die Wachen des Palastes davon. Untröstlich und schäumend vor Wut jammert er die ganze Nacht hindurch. Aber als endlich der Morgen graut, stößt er einen lauten Freudenruf aus.

»Wie dumm bin ich doch! Ich habe ja das Mittel, wieder in den Besitz meines Beutels zu gelangen, den diese abscheuliche Person mir weggeschnappt hat. Ich hatte mein gutes Pfeifchen ganz vergessen.«

Er zieht es aus der Tasche, er bläst, bläst mit verdoppelter Kraft. Von allen Seiten kommen bewaffnete Männer heran, Hunderte und Tausende. Sie stellen sich hinter Hugo. Das Schloß des Königs wird gestürmt. Stolz tritt er vor die Prinzessin, die zitternd in ihr Zimmer geflüchtet ist.

»Ach!«schreit sie, »Ihr seid das, der uns solch einen Schrecken eingejagt hat! Ich fragte mich schon, was für ein schrecklicher Feind da über uns hereingebrochen ist. Wozu denn solch ein Spektakel?«

»Das fragt Ihr noch!«ruft Hugo. »Ihr habt mir meinen Wunderbeutel genommen, habt mich aus dem Schloß hinausgeworfen und wagt es jetzt noch, nach dem Grund meiner Wut zu fragen?«

»Wenn's weiter nichts ist«, antwortet da die Schmeichlerin und stellt sich unschuldig. »Aber ich habe Euch niemals berauben wollen. Ich wollte das schöne Stück doch nur meinem Vater zeigen. Und nun macht Ihr solchen Lärm! Nie hätte ich gedacht, daß ein Herr von Hoher Geburt unschuldige Leute derart erschrecken könnte.«

Und gleich fängt sie an, Hugo zu liebkosen, ihn zu umschmeicheln. Der



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Tropf läßt sich von den Reden der Prinzessin von neuem einfangen. Diese aber überlegte jetzt, daß dieser Hugo im Grunde kein Abenteurer sein könne. Ein Edelmann, der über derart viele und prächtige Truppen verfügt, mußte doch ganz bestimmt ein verkleideter Königssohn sein. Darum war sie auch bereit, ihm ihre Hand zur Ehe zu reichen.

»Von heute abend an will ich mich Euch versprechen. Ihr dürft gern zu meinem Vater gehen und ihn ersuchen, daß ohne alles Zögern unsere Hochzeit gefeiert wird. Aber vorher befehlt Euren Soldaten, nach Hause zurückzukehren. Welch eine wundervolle Truppe habt Ihr da, und wie schnell habt Ihr sie auf die Beine gebracht!«

Hugo aber konnte nicht anders; er mußte fröhlich lachen: »Mein ganzes Geheimnis steckt hier in diesem Pfeifchen«, erklärte er und erzählte der Prinzessin, wie alles zusammenhing.

Diese wurde von Wut und Verzweiflung gepackt. Das also war's! Sie hatte sich einem Habenichts angelobt, einem Bauernlümmel, der nicht einmal drei Morgen Land besaß! Zum Gespött der ganzen Welt wurde sie, wenn das jemand erfuhr.

Aber sie hütet sich wohl, ihre Gedanken zu verraten. Im Gegenteil, sie zeigt sich sanfter und jetzt nur noch zuvorkommender als bisher. Sie stellt sich so, als bewundere sie Hugos gewaltige Macht.

»Genügt es tatsächlich, in diese Pfeife zu blasen, um eine derartige Menge bewaffneter Männer um sich zu sammeln? Daran kann ich erst glauben, wenn ich selber das Wunder erprobt habe.«

»Versucht es getrost!«schlägt Hugo vor und reicht ihr das Pfeifchen. Oh, es dauert nicht lange, und die Prinzessin fängt an zu pfeifen, pfeift mit allen Kräften, bläst sich fast die Lunge aus dem Leibe, indem sie die gellendsten Töne auf schrillen läßt - und bei jedem Pfiff sieht man Haufen bewaffneter Männer erscheinen, fortwährend neue, eine gewaltige Armee, die rasch zweimal so stark wird wie jene von Hugo. Was folgt, läßt sich leicht erraten. Die Truppen Hugos wurden binnen kurzem aus dem Sattel gehoben, geschlagen und in alle Winde getrieben.

Voller Verzweiflung flüchtete Hugo aufs platte Land und wußte nicht recht, ob seine Verzweiflung größer war, weil er die Pfeife und den Beutel verloren hatte oder weil er von dieser ebenso hübschen wie heuchlerischen Prinzessin gleich zweimal verraten worden war. Aber nun war seine Liebe restlos erloschen. Er dachte nicht mehr an Heirat, aber zu gern hätte er seinen Beutel und die Pfeife wiedererlangt. Schließlich gehörten diese beiden Dinge ja gar nicht ihm. Ja, er hätte



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sie längst der kleinen Müllerin zurückerstatten müssen. Wie aber sollte er das anstellen?

Sein unstetes Umherstreifen hatte Hugo in einen blühenden Obstgarten geführt, und da er nach allem, was ihm widerfahren war, sich sehr erschöpft fühlte, streckte er sich in seiner ganzen Länge unter einem Apfelbaum aus und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Plupp! Ein Apfel weckt ihn auf, der herabfällt und ihm die Nase blutigschlägt. Das ist alles andere als angenehm. Plupp, zwei, drei, vier, fünf weitere Äpfel purzeln neben ihm ins Gras. Hugo schaut sich die Apfel an. Sein Magen knurrt. Seit vielen Stunden hat er nichts mehr gegessen. Er ist sehr hungrig und ißt die fünf Äpfel gierig auf. Nanu, welch seltsame Überraschung! Hugos Nase fängt plötzlich an, länger und breiter zu werden: einen Daumen breit, zwei, drei, vier, fünf Daumenbreit, einen Armlang pro Apfel! Und schon schleift seine Nase am Boden. Hugo ist höchst verwirrt. Was soll aus ihm werden mit dieser Wurst am Ende der Nase? Und doch nimmt er sich das Unglück nur halb zu Herzen. Er ist seit Tagen so mißhandelt worden, daß diese neue Schädigung ihn fast schon gleichgültig läßt. Außerdem kommt es ihm in den Sinn, in den Zauberbaum zu klettern und sich fünf weitere Äpfel zu pflücken, die er in seine Taschen steckt. Man weiß nie -dergleichen kann immer von Nutzen sein.

Und er macht sich ziellos auf den Weg. Jedenfalls, mit einer solchen Nase wünscht er auf keinen Fall nach Saint-Mard zurückzukehren! Aber er geht gar nicht weit. Wenn man solch einen Nasenschwanz mit sich schleift, wird man sehr rasch müde. Hugo hält unter einem anderen Apfelbaum sein Mittagsschläfchen. Er mißtraut den Früchten dieses merkwürdigen Landes, das ist klar. Aber er verspürt einen riesigen Durst: diese Äpfel da droben sind ganz rotbackig gelb, goldgelb, verlockend.

>Schließlich<, denkt Hugo, >sehe ich nicht recht ein, was mir noch passieren könnte! Ich will auch diese anderen Äpfel essen.<

Der knabbert sie an, beißt kräftiger zu - und ein neues Wunder: bei jedem Apfel verliert seine Nase wieder an Länge. Nach dem fünften Apfel hat sie ihre normale Gestalt wiedergefunden.

Rasch klettert Hugo in den Baum, pflückt fünf weitere Äpfel dieses neuen Wunderbaumes und steckt sie in eine andere Tasche, wobei er sorgfältig darauf achtet, sie scharf von den ersten getrennt zu halten. >Ich weiß, was ich tue<, denkt er dabei schadenfroh.



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Auf dem Markt der Hauptstadt hat ein gutmütiger Alter seinen Korb mit prächtigen Apfel aufgestellt. Sein wackeliger Kopf ist durch einen weiten Überwurf halb versteckt. Er scheint sehr gebrechlich und fast entkräftet.

»Nehmt meine Äpfel«, ruf er, »kauft meine Apfel! Es sind die besten des Landes.«

Hugo -denn er ist's natürlich -weiß sehr gut, was sich nun ereignen wird. Die Prinzessin war nicht nur hübsch, auch ihre Naschhaftigkeit war berühmt. Daher läßt sie anhalten, als sie auf dem Rückweg von der Promenade an dem Händler vorbeifährt, und zeigt sich entzückt von dem verlockenden Anblick dieser Äpfel. »Ich möchte davon!« ruft sie aus. »Was macht das?«

»Für Euch, mein schönes Edelfräulein«, antwortet Hugo mit verstellter Stimme, »für Euch macht das nur zehn Sou, und diese fünf Äpfel schenke ich dazu!«

Und er achtet genau darauf, die fünf Zauberäpfel obenauf zulegen. Was folgt, ahnt jeder. Die Prinzessin kehrt in ihren Palast zurück, verzehrt begierig die Äpfel - und bald schon hört man quer durch die Säle lautes Geschrei und Geheul. Die Nase der Prinzessin wird immer länger und immer länger . . . sie schleift beinahe schon an der Erde. »Man hole sofort diesen schrecklichen Händler herbei, der mich mit seinen Äpfeln verhext hat!«

Aber Hugo ist längst verschwunden.

Man läßt alle Ärzte der Stadt herbeiholen. Diese bereiten allerlei gelehrte Heilmittel. Aber keine Medizin hilft da, und die Prinzessin mit der langen Nase weigert sich, ihr Zimmer zu verlassen. Sie fürchtet, zum Gespött des ganzen Volkes zu werden. Der König ist untröstlich und befürchtet, daß seine Tochter vor Kummer bald sterben wird. Fünf Tage danach wird angekündigt, daß ein fremder Zauberer sich vor den Toren des Palastes aufhält. Er behauptet, daß er ein unfehlbares Mittel besitzt, mit dem die Prinzessin geheilt werden kann. Mit allen Ehren wird er ins Schloß gebeten.

Diesmal hat sich Hugo als Neger verkleidet. Er wird zur Prinzessin geführt. Er befiehlt, sie beide allein zu lassen.

»Eßt diesen Apfel, edle Prinzessin«, sagt er zu ihr, »und Eure Nase wird seine Wirkung verspüren!«

Sie ißt den Apfel: O Wunder, die so schrecklich lange Nase scheint sich wahrhaftig um ein ganzes Stück verkleinert zu haben.

Ein zweiter Apfel kommt an die Reihe: aber dieses Mal will sich keinerlei Fortschritt zeigen.



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»Damit das Heilmittel wirkt«, erklärt Huge und wendet der Königstochter den Rücken zu, »ist es erforderlich, daß die Prinzessin ein wirklich reines Gewissen hat. Könnte sie nicht etwa irgendeinen Gegenstand besitzen, der ihr nicht gehört?«

Sogleich wird die Prinzessin purpurrot, sie seufzt. Aber Schönheit ist ihr mehr wert als Macht. Sie zieht den Beutel hervor, den sie unter ihrem Bett versteckt hatte, und reicht ihn dem Zauberer. Ein neuer Apfel läßt die Nase weiter schrumpfen.

»Vorwärts, vorwärts«, sagte Hugo, »wir kommen schon langsam weiter. Ist die Prinzessin auch sicher, nichts mehr zu besitzen, was ihr nicht gehört?«

»Ich habe da noch dieses häßliche alte Pfeifchen . .

»Nun gut«, sagt Hugo und nimmt wieder seine natürliche Stimme an, »alles steht soweit aufs beste, und wir sind quitt. Lebt wohl, Prinzessin, eßt nun noch diese beiden Äpfel - und Ihr werdet gerettet sein!«

Zwei und zwei gibt vier. Die Prinzessin hatte nun vier Apfel gegessen —und Hugo war geflohen. Vergeblich wurde nach ihm gesucht. Außerdem hatte er all seine Macht zurückgewonnen. Besser war's nur, ihm nicht mehr die Stirn zu bieten. Und die Prinzessin behielt für alle Zeiten eine reichlich lange Nase

Hugo aber brachte den Beutel, den Gürtel und die Pfeife der jungen Müllerin zurück. Sie schloß alle drei Gegenstände in ihren Koffer ein, aus dem sie nie mehr herauskamen. Hugo aber verfügte über zwei kräftige Arme. Diese bot er der Müllerin an. Sie heirateten auf der Stelle, und die Mühle drehte sich Tag für Tag wacker und froh. Braucht es noch mehr, um glücklich zu sein?


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