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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Der Tänzer unserer lieben Frau

Es war einmal ein Gaukler, der tanzend und springend von Ort zu Ort zog, bis er der ewigen Wanderfahrt und aller Weltlust müde war. Da gab er all seine Habe hin und trat in das Kloster zu Clairvaux ein. Der neue Laienbruder war zwar schön und stattlich von Gestalt, doch die Bräuche und Sitten des Klosters kannte er nicht. Er hatte ja seine ganze Zeit mit Springen, Tanzen und Radschlagen verbracht, und nie hatte ein Mensch den Gedanken gehabt, ihn das Vaterunser, das Ave oder gar das Credo zu lehren.

Voll Demut staunte er alles im Kloster an, er sah, wie die Brüder nie ihr frommes Schweigen brachen, und so ging auch er wie ein Stummer umher, bis er von den Brüdern verlacht und mit Zwang zum Reden gebracht wurde. Er sah, wie jeder auf seine Weise dem Herrn diente, wie die Priester am Altar ihr heiliges Amt vollzogen, wie die Diakone die Evangelien lasen, wie die Klosterschüler im Chor den Psalter sangen und wie selbst der Kleinste von ihnen ohne Zaudern das Vaterunser aufsagen konnte. Da stand er beschämt: ach, er allein, er konnte nichts. Oft stand er lauschend vor den Zellen und hörte Klagen und Wehrufe von drinnen ertönen, und wie er den Grund des Weinens reiflich überlegte, fand er, daß die da drinnen Gott für ihre Schuld um Gnade anflehten. »Ach«, sprach er, »was tue ich hier? Ich kann nichts als müßig stehen und gaffen. Ich bin das Brot nicht wert, das man mir gibt. Ach, wenn man es merkt, so werden sie mich mit Schande verjagen, weil ich zu gar nichts nütze bin.« In seinem Gram flüchtete er aus des Tages Licht in eine unterirdische Kapelle, wo zwischen Kerzen das Bild der Gottesmutter stand. Dort verkroch er sich sorgenvoll in einen Winkel. Plötzlich klang tief und voll die Münsterglocke, welche die Brüder zur Messe lud. Er hob das Haupt und sprang auf: »Soll ich hier liegen, während



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die anderen wetteifern, Unsere Frau zu loben? Was säum' ich noch? Bin ich nicht auch in mancherlei Künsten erfahren? Nach Kräften dient ihr ein jeder, so will auch ich tun, was ich kann.« Rasch warf er die lange Kutte beiseite und gürtete sich sein dünnes Röckchen um die Lenden. Dann trat er demutsvoll vor das Bild der Gottesmutter und sprach: »Dir, o Königin ob allen Königinnen, befehle ich Seele und Leib. Zu dir komme ich voll Vertrauen, o nimm mit meinem Eifer vorlieb. Die schönsten Spiele, die ich kann, wähle ich dir zur Lust, so wie ein Böcklein auf der Heide vor seiner Mutter springt und hüpft. Du verschmähst nie, was dir ein Herz aus Liebe bietet, sieh, was ich habe, bring ich dir.« Und während droben die Hymnen erschollen, beginnt er mit vollen Kräften zu tanzen, bald vor- und bald rückwärts, auf und nieder, er geht auf Händen durch die Kapelle und überschlägt sich in der Luft, alle Arten von Tänzen springt er mit kunstgerechtem Schwung, und nach jedem Tanz verneigt er sich vor dem Bilde: »Das tu ich nur für dich, daß sich dein Auge daran erfreue, erfreust du doch die ganze Welt.« Und wiederum hebt er an, die Hand auf die Stirn gelegt, mit kleinen Schritten zierlich in die Runde zu gehen, dabei weint er und betet: »O Frau, dir singe ich Ehre und Preis mit Herz und Leib, mit Hand und Fuß. Da droben singen sie Lobeshymnen: laß mich dein treuer Tänzer sein und gib mir in deinem himmlischen Palast eine kleine Wohnung, denn dein bin ich ganz und gar.«Solange der Sang von oben klingt, tanzt er ruhelos, bis ihm der Atem vergeht und die Glieder den Dienst versagen: da sinkt er in Ohnmacht taumelnd zu den Füßen der Himmelskönigin nieder. Und siehe: die Strahlende neigt sich mit gütigem Lächeln hernieder und fächelt ihn mit ihrem Tüchlein, und mit ihrer süßen Gnadenhand kühlt sie das Feuer seiner Schläfen. Ein Mönch hatte draußen diese Vorgänge mit angesehen und heimlich den Abt geholt. Dieser ließ am anderen Tage den Laienbruder vor sich laden. Der Arme erschrak zu Tode, denn er glaubte, er solle wegen seines Müßiggangs vertrieben werden. Er fiel also voll Zagen vor dem Abt auf die Knie und sprach: »O Herr, ich weiß, ich kann nicht hier bleiben, doch ich will tun, was Ihr befehlt. Ich will hinaus ins Elend gehen.« Doch der Abt neigte sich voll Ehrfurcht, küßte ihn und bat ihn, zu Gott für ihn und die Brüder zu beten, damit sie einst von seinen Gnaden erben möchten. Da ward der Arme vor Freude krank und kam zum Sterben. Als aber sein letztes Stündlein gekommen war, da trugen der Engel Scharen den Tänzer Unserer lieben Frau zum allerhöchsten Sternenzeit.


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