Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Der Drache und die schöne Florine

Es war einmal ein König, der hatte drei Kinder: zwei Söhne und eine Tochter; diese hieß Florine und war sehr schön.

Als des Königs Weib starb, heiratete er wieder eine Frau, die selbst schon eine Tochter hatte; diese hieß Tritonne und war ebenso häßlich, wie Florine schön war. Sehr bald wurde die Stiefmutter eifersüchtig auf Florine, weil sie sah, daß jeder sie ihrer eigenen Tochter vorzog, und sie behandelte sie sehr schlecht.

Die Brüder Florines waren am Hofe eines jungen Königs; dem erzählten sie von der Schönheit ihrer Schwester. Der König wollte sie sehen und sie zu seiner Frau machen. Deshalb kamen die Söhne zu ihrem Vater zurück und baten ihn, Florine mit ihnen ziehen zu lassen. Der Vater gab die Erlaubnis, aber die Stiefmutter und ihre Tochter bestanden darauf, die drei Geschwister zu begleiten.

Der Tag der Abreise kam, und alle bestiegen ein großes Schiff. Als man etwas vom Ufer entfernt war, da riefen Florines Brüder: »Florine, hörst du den Gesang der Sirene, die den Wal besänftigt?«

Florine fragte ihre Stiefmutter: »Mutter, was haben meine Brüder gesagt?«

»Sie haben gesagt, du sollst dir ein Auge ausstechen!« antwortete die Stiefmutter. Und sie gab ihr ein kleines spitzes Messer.

Florine stach sich ein Auge aus, und die Stiefmutter nahm es und steckte es in ihre Tasche.

Etwas später riefen die Brüder wieder: »Florine, hörst du den Gesang der Sirene, die den Wal besänftigt?«

Florine fragte die Stiefmutter: »Mutter, was sagen meine Brüder?«

Und die böse Frau antwortete: »Sie sagen, du sollst dir auch das zweite Auge ausstechen!«Florine stach sich auch das zweite Auge aus und gab es ihrer Stiefmutter. Und die Brüder riefen zum dritten Male:

»Florine, hörst du die Sirene, die den Wal besänftigt?«

Und Florine fragte wieder die Stiefmutter, was sie wollten. Diese antwortete: »Sie sagen, du sollst ins Wasser springen!«

Als sie das sagte, stieß sie Florine ein wenig an, und die Stieftochter verschwand in der Flut.

Wie groß war die Überraschung der beiden Jünglinge, als das Boot am Ufer anlegte und sie von der Stiefmutter erfuhren, daß Florine ins Wasser gestürzt sei. Sie wagten nicht, zum König zu gehen, da sie ihm doch versprochen hatten, ein schönes Mädchen mitzubringen, und nun kamen sie nur mit der häßlichen Tritonne. Als der König sie rufen ließ,



Bd-09-064_Maerchen aus Frankreich Flip arpa

mußten sie die Stiefschwester wohl oder übel vorstellen. Der König wurde sehr zornig und befahl, die beiden Jünglinge sofort einzusperren, aber er heiratete trotzdem Tritonne, weil er nun einmal versprochen hatte, das junge Mädchen zu heiraten, das man zu ihm bringen würde. Aber Florine war nicht tot. Auf dem Meeresgrund hatte sie ein Drache empfangen und ihr gesagt, daß sie nicht unglücklich sein werde, wenn sie bei ihm bleiben wolle, und Florine hatte zugesagt.

Sie war sehr lange bei dem Drachen, und eines Tages sagte sie zu ihm, daß sie traurig sei, die Pracht des Meeresbodens nicht bewundern zu können, weil sie blind sei. Der Drache versprach, ihr das Augenlicht wiederzugeben, wenn sie immer bei ihm bleiben wolle, und sie sagte zu.

Nun hatte aber der Drache, der sehr geschickt war, eine schöne Spindel aus Gold gebastelt, und er ging auf einen Marktplatz, um sie zu verkaufen. Bald kamen zwei schön gekleidete Damen, um mit ihm zu handeln.

»Wieviel wollt Ihr für diese Spindel haben?«fragten sie.

»Ich will ein Auge dafür haben.«

»Mein Gott, was für ein Gedanke! Ein Auge! Wo sollen wir denn ein Auge herbekommen? Sagt uns lieber, wieviel Geld Ihr haben wollt, und wir werden bezahlen.«

»Nein, ich habe euch gesagt, daß ich ein Auge haben will.« Da sagte die junge Frau zu ihrer Mutter: »Geben wir ihm doch das Auge Florines!«

Zuerst wollte die Mutter nicht, aber dann gab sie nach. Und sofort stieg der Drache zufrieden wieder auf den Grund des Meeres; er gab Florine das Auge, und als sie wissen wollte, woher er es habe, erzählte er, daß es zwei schöne Damen gewesen seien, die es ihm gegeben hätten.

Einige Zeit später hatte Florine den Wunsch, auch das andere Auge zu haben, und sie sagte es dem Drachen. Dieser bastelte aus Gold eine Spindel, und am nächsten Sonntag ging er wieder auf den Markt, um sie zu verkaufen. Die gleichen Damen kamen wieder und fragten nach dem Preis, weil sie die eine Spindel nicht ohne die andere gebrauchen konnten. Der Drache nannte den gleichen Preis. »Gott«, sagten die Damen, »was für eine seltsame Idee, dafür ein Auge zu verlangen!« Aber der Drache bestand darauf, und sie mußten ihm auch noch das zweite Auge Florines geben. Diese aber war glücklich, ihr Augenlicht wiederbekommen zu haben.

Ein paar Tage später sagte sie zu dem Drachen:

»Ich würde so gern einmal an das Meeresufer gehen, aber das ist wahrscheinlich unmöglich . .



Bd-09-065_Maerchen aus Frankreich Flip arpa



Bd-09-066_Maerchen aus Frankreich Flip arpa

Der Drache sagte: »Ich habe alles für dich getan, damit du dein Augenlicht wiederbekommen hast, und jetzt willst du mich verlassen.« —

»Nein«, antwortete sie, »ich verspreche, Euch niemals zu verlassen.« Darauf machte der Drache starke Ketten, die Florine an ihrem Gürtel befestigte, und sie begab sich ans Ufer. Man hatte ausgemacht, daß sie, wenn sich jemand nähere, rufen sollte: »Drache, zieh mich an der Kette, ich sehe einen Wal!«

Und so ging sie jeden Tag an das Meeresufer und machte sich schön. Wenn sie sich wusch, fiel Kleie von ihren Wangen, und wenn sie sich kämmte, rieselte Weizen aus ihren Haaren. Der König dieser Gegend aber hatte eine große Herde Schweine, die all das fraßen, was von Florines Haupt fiel, und wenn sie abends heimkamen, wollten sie nie fressen; die Diener berichteten darüber dem König, und der trug ihnen auf, die Tiere zu beobachten. Da sah man, daß sie zum Meeresufer liefen, aber man wußte nicht, warum, denn man sah Florine niemals.

Eines Tages befahl der König den Dienern, den ganzen Tag aufzupassen. Sie sahen Florine, und sie gingen, um ihrem Herrn zu berichten, daß Kleie und Weizen vom Haupt des jungen Mädchens rieselten.

Der König wollte sie sehen, und eines Tages ging er an das Meer. Als Florine ihn sah, wollte sie untertauchen, aber der König bat sie, zu bleiben. Er sagte ihr, daß er sie aus der Gefangenschaft befreien werde, aber sie wollte nicht, da sie den Drachen nicht verlassen konnte. Nachdem Florine ihm ihre Geschichte erzählt hatte, erklärte sie, sie wolle versuchen, herauszubekommen, wie sie entkommen könne. Am Abend sagte sie: »Drache, ich möchte Euch etwas fragen. Was muß man tun, um die Ketten, die mich halten, zu zerbrechen?« Da wurde der Drache böse und sagte:

»Jetzt sehe ich, daß du mich verlassen willst, da du daran denkst.« Sie versprach ihm zu bleiben, flehte ihn aber an, ihr zu antworten, und er sagte schließlich: »Hundert goldene Äxte müßten die Kette mit einem Schlag zerstören!«

»Aber wie soll das ein Mensch tun, das ist unmöglich!« rief Florine. Am nächsten Tag kam der König ans Meer, um sich die Antwort zu holen. Florine verriet ihm, was ihr der Drache gesagt hatte. Da rief der König alle Goldschmiede der Gegend zusammen, um die goldenen Äxte zu schmieden. Schnell war die Arbeit getan.

Endlich kam der Tag, an dem der König Florine holen wollte, und am frühen Morgen begab er sich mit den Handwerkern und mit einer prächtigen Kutsche ans Meer.

Nachdem der König »eins, zwei, drei!« gezählt hatte, schlugen die



Bd-09-067_Maerchen aus Frankreich Flip arpa

hundert Äxte auf einmal zu, die Ketten sanken auf den Meeresgrund, und Florine fuhr in dem schönen Wagen davon.

Als der Drache sah, daß die Ketten ohne Florine zurückkamen, stieg er schnell hinauf, aber er tat nichts, denn der Wagen war schon weit. Als man am Schloß angekommen war, ließ der König die böse Stiefmutter und deren Tochter Tritonne, die der König gar nicht liebte, holen; auch die Brüder Florines ließ er rufen, um zu sehen, ob sie das Mädchen wiedererkannten. Man kann sich die Freude der beiden Jünglinge denken, als sie ihre Schwester sahen, aber auch den Verdruß der Stiefmutter und Tritonnes, die behaupteten, das Mädchen nicht zu kennen. Endlich erkannte der König die Unschuld der Jünglinge, befreite sie aus ihrem Gefängnis und steckte statt ihrer Tritonne und die Mutter hinein.

Ein paar Tage später heiratete der König Florine; es war eine prächtige Hochzeit. Ich war eingeladen, und dort hat man mir diese Geschichte erzählt. Man wollte nicht, daß ich zu Fuß nach Hause ginge; man gab mir eine gläserne Karosse, gezogen von vier Ratten; aber unterwegs bin ich einer Katze begegnet, die die Ratten aufgefressen hat, und ich mußte zu Fuß gehen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt