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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Die armen Seelen

Vor langen Zeiten lebte einmal ein junges Mädchen mit Namen Isabeau. Sie hatte ihre Mutter verloren, und ihr Vater hatte sich alsbald mit einer anderen Frau verheiratet, aber diese Frau war häßlich und



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böse. So häßlich war sie, daß die anderen Dorfleute sich abwandten, um sie nicht ansehen zu müssen, wenn sie vorüberging. Doch das war nicht das schlimmste. Die Stiefmutter konnte Isabeau nicht leiden und tat ihr Böses an, wo sie nur konnte. Isabeaus verstorbene Mutter hatte ihre Tochter mit einem jungen Burschen des Dorfes verlobt. Peter, so hieß der Bursche, war tüchtig und fleißig und am Morgen der erste bei der Arbeit. Die böse Stiefmutter verbot Peter das Haus und schloß die Stieftochter ein, damit diese Peter nicht treffen konnte. Doch weil sich die beiden so von Herzen liebten, trafen sie sich nach dem Abendläuten hinter dem Gartenzaun; aber kaum standen sie beisammen, so kam schon die alte Stiefmutter mit dem Prügel bewaffnet, und wenn Peter davoneilte, so faßte sie dafür Isabeau und schlug sie ohne Erbarmen.

Als die arme Isabeau so blau und grün geschlagen war, beschloß sie, nicht nach Hause zurückzukehren, wo sie nur noch mehr Prügel erwarteten, sondern sie ging in den Abend hinein und immer geradeaus. Endlich gelangte sie an eine große Heide, und weil sie müde und vor Tränen und Kummer krank war, setzte sie sich an einen Felsblock, schloß die Augen und schlief ein. Wie sie nach einer Zeit wieder erwachte, stand der Mond am Himmel und die Eule schrie im nahen Wald, so daß Isabeau erschrak. Am Himmel flogen Sternschnuppen, und sie wußte gar wohl, daß das die Seelen der Toten sind, die in die andere Welt fliegen. So still und einsam war es auf der Heide, und das arme Mädchen fürchtete sich. Sie hörte es im Dorf hinter dem Wald Mitternacht schlagen, und plötzlich, sie traute ihren Augen nicht, begann die ganze Heide zu zittern und zu beben, und hinter jedem Stein und jedem Heidebusch schlüpften seltsame unheimliche, gelbe, glänzende Wesen hervor, mit großem Kopf, langen Bärten oder alten, verrunzelten Gesichtern. Unter jedem Kiesel kamen sie hervor, so daß zuletzt die ganze Heide von ihnen wimmelte, und schließlich begannen sie zu tanzen und zu singen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen«, immer das gleiche. Doch plötzlich bemerkten sie Isabeau und kamen auf sie zu.

»O du Menschenkind«, riefen sie, »komm, tanze mit uns, tanze mit uns und singe mit uns.« — »Ihr singt ja immer dasselbe«, rief Isabeau. »So hilf uns etwas Besseres singen, denn wir sind verdammte arme Seelen und müssen so lange auf Erden sein, bis wir unseren Wohigesang zu Ehren Gottes vollendet haben. Schon viele hundert Jahre suchen wir nach einem neuen Vers und können keinen finden. Hilf uns, hilf uns!« Da bedachte sich Isabeau nicht lange, ergriff eine der armen Seelen bei



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der Hand und sang mit ihnen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn.«

Kaum hatte sie das gesungen, so begannen die armen Seelen wie toll zu tanzen und zu wirbeln und wiederholten, was Isabeau gesagt hatte. Ja, sie baten sie: »Fahre fort, fahre fort, Isabeau.« Aber Isabeau war so müde, daß sie sagte: »Nein, heute nicht, doch ich werde wiederkommen und euren Lobgesang vollenden.« Da trat eine der armen Seelen auf Isabeau zu und sprach: »Um dir für deine Wohltat zu danken, gewähren wir dir eine Bitte.« »Dann wünsche ich mir nur das eine, meine Stiefmutter soll fortgehen müssen, wenn ich meinen Peter treffen will.« »Nimm diesen Ring«, antwortete die arme Seele, »und jedesmal, wenn du ihn am Finger drehst, wird deine Stiefmutter gezwungen sein, Kohl zu zählen, und sie wird so lange dazu brauchen, als du willst.«

Rasch eilte Isabeau heim, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie auf den Hof kam. Sie erkannte auch gleich ihren Peter, der aus Sehnsucht nach ihr um den Hof strich. Kaum hatte die Stiefmutter die beiden gewahrt, so lief sie mit dem Stock in der Hand auf sie zu. Aber Isabeau drehte rasch den Ring an ihrer Hand, und da ließ die Stiefmutter den Stock fallen, rannte in ihr Kohlfeld und begann den Kohl zu zählen, und wenn sie damit fertig war, fing sie von neuem an. Von nun an kam Peter sehr oft, und jedesmal schickte Isabeau ihre Stiefmutter Kohl zählen. Schließlich aber, was geschah? Der Peter bekam es satt, so oft zu Isabeau zu gehen, zumal sie immer verweinte Augen hatte von den vielen Schlägen, die die Stiefmutter ihr dann am Abend gab. Deshalb kam Peter nicht mehr, sondern ging mit Miete, einem anderen Nachbarmädel, auf den Tanz. Das betrübte die arme Isabeau sehr, und sie gedachte, den armen Seelen den Ring zurückzubringen, da er ihr ja nur Kummer gebracht hatte. Sie wartete, bis die Dunkelheit kam, dann schlich sie sich heimlich aus dem Haus und lief in die Heide. Es war fast Mitternacht, und sie sah auch alsbald unter den Steinen und aus den Büschen die armen Seelen hervorkriechen, die sie gleich umringten und baten: »Oh, da ist das Menschenkind wieder, komm, tanze und singe mit uns und hilf uns den Lobgesang vollenden.«»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen, loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn«, sangen sie und schauten sehnsüchtig nach Isabeau; »der die Welt erlösen wird«, fuhr Isabeau fort. Und nun war des Jubels kein Ende, und die armen Seelen tanzten, bis der Morgen kam. Wie aber der erste Strahl der Morgenröte aufstieg, da trat wieder eine der armen Seelen zu Isabeau und sprach: »Was wünscht du dir heute, sage es.«

»Ich gebe euch den Ring zurück, er hat mir nur Kummer gebracht.



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Peter findet ein anderes Mädchen schöner als mich. Ich möchte aber so schön sein, daß er nur mich liebt und daß alle mich lieben.«

Da trat eine arme Seele vor, hob ein Halsband unter einem Stein auf und band es Isabeau um. »Nun bist du schöner als der junge Tag, und kein Mensch kann dir widerstehen. Aber jetzt wirst du uns vergessen, und wir können unseren Lobgesang nicht vollenden.«»Nein, ich werde euch nicht vergessen, ehe der Tag viermal aufsteigt, komme ich zu euch zurück.

Isabeau aber beeilte sich und lief nach Hause, doch in der Eile verirrte sie sich und kam an einen Bauernhof, da trat sie zu den Knechten und fragte sie: »Zeigt mir den Weg nach Hause.« Doch kaum hatten sie die Knechte bemerkt, so ließen sie alle Arbeit liegen und traten bewundernd näher. »Wie bist du schön, mein Gott, wie bist du schön!« Der eine wollte sie heimtragen, der andere -fahren, der dritte bat sie, immer hierzubleiben, und schließlich konnte sich Isabeau kaum mehr bewegen, so dicht standen die Burschen und Männer um sie herum. Nur die Frau des Hofes, die kam und wollte das fremde Mädchen vor Eifersucht schlagen und trieb sie vom Hofe. Endlich gelangte Isabeau heim, und auch hier blieben alle bewundernd stehen, und als sie Peter bemerkte, kam auch er näher und staunte, und Isabeau freute sich, daß Peter wieder zu ihr kam. Aber nicht lange danach kam die böse Stiefmutter, und wie sie das schöne Halsband sah, riß sie es der armen Isabeau vom Hals und legte es an ihren eigenen Hals, und obwohl sie alt und runzlig blieb und ihr Kopf wackelte, drängten jetzt alle Männer zu ihr und drückten und stießen sie und bewunderten sie; da merkte die Alte schließlich, daß das Halsband schuld sei, und weil sie an den Rand des Brunnens gedrückt worden war, so riß sie es sich vom Halse und warf es in den Brunnen. Und nun lachten alle die Burschen und Männer über die Frau, und um sich an Isabeau zu rächen, schlug die Alte das arme Mädchen zum Abend grün und blau. Peter aber schalt auch mit ihr, sie liefe nachts in der Welt umher und zöge alle Burschen hinter sich nach, und er wolle auch nichts mehr von ihr wissen, denn er heirate jetzt ein Mädchen, das reicher sei als sie.

>Ach<, dachte die arme Isabeau, >wie töricht habe ich doch gewünscht! Hätte ich doch lieber Reichtum verlangt! Noch heute nacht will ich zu den armen Seelen gehen.<

Und in der Nacht, als alle schliefen, schlich sich Isabeau davon und ging in die nächtliche, einsame Heide. Dort warteten schon die armen Seelen auf sie und nahmen sie bei der Hand. »Fahr fort, Isabeau, fahr fort, damit wir unseren Lobgesang beenden können.« Und sie begannen zu



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singen und zu tanzen. »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn, der die Welt erlösen wird.« — »Die Guten wir die Bösen«, fuhr Isabeau fort. Und kaum hatte sie das gesungen, so wußten die armen Seelen sich vor Freude nicht mehr zu lassen, sie hüpften und sprangen, die ganze Heide bebte. »Du hast uns erlöst«, riefen sie, »und nun dürfen wir in die ewige Seligkeit eingehen; erbitte von uns, was du magst, es ist dir gewährt.« »Um die Liebe meines Peters zu besitzen, möchte ich reich sein«, rief Isabeau. »Das ist dir gewährt, du sollst reich sein, reicher als der König!« Und eine der armen Seelen berührte Isabeaus Hand, mit dünner Stimme sagte sie: »Menschenkind, jede einzelne Träne von dir soll ein Diamant und eine Perle von großem Wert sein.« Doch eine andere Seele trat auf sie zu uns sagte: »Nimm auch diese kleine Nadel, und solange du die bei dir hast, wird dein Peter nur dich und keine andere lieben! Leb wohl!« Kaum hatte sie das gesagt, stieg die erste Morgenröte auf, die armen Seelen erhoben sich plötzlich wie ein dünner Nebel in die Luft und stiegen in den Morgenhimmel und verschwanden.

Isabeau aber kehrte nach Hause zurück, und kaum trat sie ins Haus, so stürzte auch schon die Stiefmutter auf sie zu und überhäufte sie mit Schmähreden und begann sie zu schlagen. Doch als jetzt Isabeau zu weinen begann, verwandelten sich ihre Tränen in Perlen und Diamanten. Kaum gewahrte das die böse Stiefmutter, so begann sie wie unsinnig auf das arme Mädchen einzuschlagen. »Weine doch, du Unselige, weine mehr!« schrie sie und brachte Eimer und Schüsseln, um den unermeßlichen Reichtum aufzusammeln. Alle Kisten und Kasten waren schon voll Perlen und Edelsteinen. In diesem Augenblick ging Peter vorüber und fühlte sich angezogen durch die Nadel der steten Liebe, welche das junge Mädchen besaß. Er trat in das Haus, und ohne die Reichtümer, die er mit Füßen trat, zu beachten, erblickte er nur eines: seine Verlobte grausam geschlagen von der Stiefmutter. Von Unmut ergriffen, stürzte er sich auf diese, packte sie bei der Gurgel und hielt sie fest, aber die Alte rief ihm zu: »Schlag sie doch, Peter, schlag sie doch, sie weint ja Perlen.« Peter hielt sie immer noch fest, und rasend vor Zorn, daß sie ihre Stieftochter nicht mehr schlagen konnte, um noch mehr Reichtum zu erlangen, erstickte sie und fiel plötzlich tot zu Boden. Wenige Wochen später heiratete Peter Isabeau. Jedermann bemerkte, wie innig sie sich liebten. Sie waren die reichsten Leute im Lande und bekamen vierzehn Kinder. Peter spürte aber niemals Lust, sein Vermögen zu vermehren, indem er seine Frau weinen ließ, der er bis zu seinem Tode in treuer Liebe zugetan war.


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