Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Gebrüder Grimm Deutsche Volksmärchen

Illustrationen


von Kurt Schmischke

Märchen europäischer Völker


Der Riese und der Schneider

Einem Schneider, der ein großer Prahler war, aber ein schlechter Zahler, kam es in den Sinn, ein wenig auszugehen und sich in dem Wald umzuschauen. Sobald er nur konnte, verließ er seine Werkstatt,

wanderte seinen Weg
über Brücke und Steg,
bald da, bald dort,
immer fort und fort.

Als er nun draußen war, erblickte er in der blauen Ferne einen steilen Berg und dahinter einen himmelhohen Turm, der aus einem wilden und finstern Wald hervorragte. »Potz Blitz!« rief der Schneider. »Was ist das?« und weil ihn die Neugierde gewaltig stach, so ging er frisch darauf los. Was sperrte er aber Maul und Augen auf, als er in die Nähe kam; denn der Turm hatte Beine, sprang in einem Satz über den steilen Berg und stand als ein großmächtiger Riese vor dem Schneider. »Was willst du hier, du winziges Fliegenbein«, rief der mit einer Stimme, als wenn's von allen Seiten donnerte. Der Schneider wisperte: »Ich will mich umschauen, ob ich mein Stückchen Brot in dem Wald verdienen kann.« — »Wenn's um die Zeit ist«, sagte der Riese, »so kannst du ja bei mir im Dienst eintreten.« — »Wenn's sein muß, warum das nicht? Was krieg' ich für einen Lohn?« — »Was du für einen Lohn kriegst?« sagte der Riese. »Das sollst du hören. Jährlich dreihundertundfünfundsechzig Tage, und wenn's ein Schaltjahr ist, noch einen obendrein. Ist dir das recht?« — »Meinetwegen«, antwortete der Schneider und dachte in seinem Sinn: >Man muß sich strecken nach seiner Decke. Ich such' mich bald wieder loszumachen.<

Darauf sprach der Riese zu ihm: »Geh, kleiner Halunke, und hol mir einen Krug Wasser.« — »Warum nicht lieber gleich den Brunnen mitsamt



Bd-08-301_Maerchen Gebr. Grimm Flip arpa

der Quelle?«fragte der Prahlhans und ging mit dem Krug zu dem Wasser. »Was? Den Brunnen mitsamt der Quelle?« brummte der Riese, der ein bißchen tölpisch und albern war, in den Bart hinein und fing an, sich zu fürchten, »der Kerl kann mehr als Apfel braten: der hat einen Alraun im Leib. Sei auf deiner Hut, alter Hans, das ist kein Diener für dich.«Als der Schneider das Wasser gebracht hatte, befahl ihm der Riese, in dem Wald ein paar Scheite Holz zu hauen und heimzutragen. »Warum nicht lieber den ganzen Wald mit einem Streich,

den ganzen Wald
mit jung und alt,
mit allem, was er hat,
knorzig und glatt?«

fragte das Schneiderlein und ging, das Holz zu hauen. »Was?

Den ganzen Wald
mit jung und alt,
mit allem, was er hat,
knorzig und glatt?

Und den Brunnen mitsamt der Quelle?« brummte der leichtgläubige Riese in den Bart und fürchtete sich noch mehr. »Der Kerl kann mehr als Apfel braten, der hat einen Alraun im Leib. Sei auf deiner Hut, alter Hans, das ist kein Diener für dich.« Wie der Schneider das Holz gebracht hatte, befahl ihm der Riese, zwei oder drei wilde Schweine zum Abendessen zu schießen. »Warum nicht lieber gleich tausend auf einen Schuß und die alle hierher?«fragte der hoffärtige Schneider. »Was?« rief der Hasenfuß von einem Riesen und war heftig erschrocken. »Laß es nur für heute gut sein und lege dich schlafen.«

Der Riese fürchtete sich so gewaltig, daß er die ganze Nacht kein Auge zutun konnte und hin und her dachte, wie er's anfangen sollte, um sich den verwünschten Hexenmeister von Diener, je eher, je lieber, vom Hals zu schaffen. Kommt Zeit, kommt Rat. Am andern Morgen gingen der Riese und der Schneider zu einem Sumpf, um den ringsherum eine Menge Weidenbäume standen. Da sprach der Riese: »Hör einmal, Schneider, setz dich auf eine von den Weidenruten, ich möchte um mein Leben gern sehen, ob du imstand bist, sie herabzubiegen.«Husch, saß das Schneiderlein oben, hielt den Atem ein und machte sich schwer, so



Bd-08-302_Maerchen Gebr. Grimm Flip arpa

schwer, daß sich die Gerte niederbog. Als er aber wieder Atem schöpfen mußte, da schnellte sie ihn, weil er zum Unglück kein Bügeleisen in die Tasche gesteckt hatte, zur großen Freude des Riesen, so weit in die Höhe, daß man ihn gar nicht mehr sehen konnte. Wenn er nicht wieder heruntergefallen ist, so wird er wohl noch oben in der Luft herumschweben.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt