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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


16. Die Gottesbotschaft und die Gaben an die Völker

I m Anfange hatten alle Menschen Zutrauen zueinander. Das Vertrauen herrschte. Man kannte noch nicht die Täuschung. Das nahm eines Tages ein Ende. Das geschah so.

Gott wollte den Menschen etwas senden. Gott rief ein Mädchen. Denn die Frauen waren damals viel klüger als die Männer, und Gott glaubte sich auf das Mädchen noch viel mehr verlassen zu können als auf die Männer. Gott gab dem Mädchen zwei Säcke mit Geld (itherimen) und zwei Säcke mit Flöhen (thilkin). Gott sagte zudem Mädchen: "Gehe in die Kabylie (thakewilth, der Kabyle akebäili; die Kabylin thakebäyil; die kabylische Sprache amthläithakebäilith). Die beiden Säcke mit Geld gib den Kabylen. Den einen Sack mit Flöhen wirf auf die Araber, den anderen auf die Europäer" (alter Ausdruck: irumiän, Sing.: arumi. Neuer Ausdruck: lekfoär, Sing.: l'käffär, offenbar Kaffir!). Das Mädchen nahm beide Säcke mit Geld und die beiden Säcke mit Flöhen und machte sich auf den Weg.

Das Mädchen kam zu den Kabylen und warf einen Sack mit Flöhen auf die Kabylen. Dann kam es zu den Arabern und warf den anderen Sack voll Flöhe auf die Araber. Es ließ ihnen aber auch einen Sack mit Geld. Den anderen Sack mit Geld brachte das Mädchen dann zu den Europäern und begab sich wieder zu Gott.

Das Mädchen kam zu Gott und sagte: "Ich habe deinen Befehl ausgeführt." Gott sagte: "Hast du den Befehl richtig ausgeführt?" Das Mädchen sagte: "Ja, ich habe den Befehl richtig ausgeführt." Gott sagte: "Wie hast du es also gemacht?" Das Mädchen sagte: "Ich habe einen Sack mit Flöhen über die Kabylen und einen über die Araber ausgeschüttet. Ich habe einen Sack mit Geld den Arabern und einen den Europäern gegeben." Gott sagte: "Was hast du getan? Dann haben die Kabylen ja nur einen Sack Flöhe bekommen!" Das Mädchen sagte: "Ja, die Kabylen haben nur einen Sack Flöhe bekommen."

So ist es auch geblieben. Die Kabylen haben nur die Flöhe, die Araber haben Flöhe, daneben aber auch das Geld. Die Europäer haben aber nur das Geld und keine Flöhe.



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Gott wurde über das Mädchen, das sein Vertrauen so schlecht vergolten hatte, böse und sagte: "Nun kommt also durch eine Frau das Mißtrauen in die Welt. Die Frauen sind klüger als die Männer; sie haben aber eine schlechte Sache getan und sollen deshalb in Zukunft in den Häusern gehalten werden. Du aber sollst zur Strafe für deine Handlung schwarz und ein Rabe (thägerfä; Plur.: thigerfiuen) werden. Laufe und fliege in der Welt herum und schreie immer: ,Geirrt, geirrt, geirrt' (arkär heißt geirrt); dies soll also der Sinn des Rabenschreies sein. Niemand wird in Zukunft mit dir zusammen leben und essen wollen, und wenn du tot bist, werden Hund und Ameise, die sonst jedes Aas fressen, dich nicht anrühren." So ist es geworden, und niemand ißt mehr mit jemand, dem man kein Vertrauen schenken kann. Hund und Ameise berühren das Fleisch des toten Raben nicht. Der Rabe fliegt aber umher und schreit immer: "arkär, arkar, arkär!"

Zu den anderen Frauen sagte Gott aber: "Seht, wie ich das Mädchen gestraft und schwarz gemacht habe, weil es mein Vertrauen mißbrauchte. Merkt euch also (lämmänan [Vertrauen] tithwa [Farbe wechseln] thägerphä [Rabe]): Hütet euch davor, das Vertrauen zu mißbrauchen und denkt immer an den Raben. — Eines soll aber damit auch zu eurem Trost werden: wenn irgend jemand ein schweres Fieber hat, so geht hin, fangt einen Raben und schneidet ihm den Kopf ab. Den Körper werft fort. Den Kopf des Raben hängt aber dem Kranken um den Hals, daß er auf seiner Brust liege, und so wird der Kranke gesund werden."

So ist es bis heute geblieben. Die Menschen haben das Vertrauen verloren. Am wenigsten trauen die Menschen aber seitdem den Frauen, die die Kabylen so betrogen haben. Kein Tier ist so verachtet wie der Rabe. Sein Kopf ist nur gut, das Fieber zu heilen. Keine Ameise und kein Hund wollen sein Fleisch essen, weil auch die Menschen mit einem anderen, der ihr Vertrauen mißbraucht hat, nicht um eine Schüssel sitzen wollen.


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