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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Schneeflöckchen

Fast am Ende des Dorfes lebte dereinst in einem Häuschen ein schon älteres Ehepaar. Die beiden waren in Liebe und Eintracht alt geworden, aber ihr sehnlichster Wunsch war ihnen unerfüllt geblieben - Gott hatte ihnen keine Kinder geschenkt.

Zuweilen saßen sie beim Fenster ihres Häuschens, sahen den Spielen der Dorfkinder zu, und es war ihnen traurig ums Herz. »Ach, wenn wir doch auch ein Kindlein hätten!« seufzten sie dann.



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Einmal, als es wieder Winter wurde und der frisch gefallene Schnee Felder und Fluren weithin bedeckte, liefen die Kinder voller Jauchzen aus den Häusern, um im Schnee zu spielen. Die beiden Alten saßen wie so oft in ihrer warmen Stube beim Fenster und sahen dem lustigen Treiben zu. Die Kinder erfanden sich allerlei heitere Spiele, vollführten Schneeballschlachten und fingen schließlich an, einen Schneemann zu bauen. Da sagte der alte Mann zu seiner Frau:

»Komm, Frau, laß doch auch uns einen Schneemann bauen!«

»Warum denn einen Schneemann? Warum nicht gleich ein Schneekind, da uns der liebe Gott kein wirkliches Kindchen beschert hat«, antwortete still lächelnd die Frau.

»Da hast du völlig recht«, rief der Mann, »laß uns miteinander in den Garten gehen.« Sie kleideten sich warm an und stapften in den Schnee hinaus, machten sich auch gleich ans Werk, formten den kleinen Körper mit Ärmchen und Beinchen und setzten ihm eine Schneekugel als Köpfchen auf.

»Helf' euch Gott«, riefen die Nachbarn, die gerade des Wegs kamen.

»Vergelt's Gott«, antwortete der Mann.

»Gottes Hilfe ist stets erbeten«, fügte die Frau hinzu.

»Was macht ihr denn da eigentlich?«

»Seht's selber!« lachten die beiden Alten, »wir machen uns ein Schneekind, unsere kleine Schneeflocke!«

Und sie steckten voller Vergnügen ein feines Näschen an, formten das Kinn voller Liebe, drückten zwei kleine Grübchen an die Stelle der Augen, und als der Mann anschließend das Mündchen andeutete, erschien's ihm mit einemmal, als ob warmer Atem daraus entströme. Fast erschrocken zog er seine Hand zurück.

Da bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß die Grübchen unter der Stirne sich gefüllt hatten und zwei klare blaue Äuglein ihn anschauten. Das Mündchen war rot wie eine Beere und fing an zu lächeln. Das Schneekind strampelte mit Ärmchen und Beinchen, wie ein richtiges Kindlein das in der Wiege tut.

Vor Freude wußten sich die beiden Alten nicht zu lassen. Die Frau weinte und lachte zugleich und rief: »Ach, Liebster, endlich hat Gott uns erhört und uns doch noch ein Kind beschert!«

Sie nahm das Schneekind auf und trug es ins Häuschen. Dort fiel al



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ler Schnee von ihm ab, so wie die Eierschale von einem soeben ausgekrochenen Hühnchen, und die Mutter hielt voller Staunen ein richtig lebendiges kleines Mädchen im Arm.

Und Schneeflöckchen, denn so nannten sie ihre kleine Tochter, wuchs und gedieh und wurde von Tag zu Tag schöner. Die Nachbarskinder kamen, um mit ihr zu spielen, und herzten und verwöhnten sie, als ob sie ein kleines Püppchen sei. Sie umtanzten sie, sangen ihr Liedchen vor, erzählten ihr Märchen und belehrten sie über alles, was sie selber wußten.

Als der Winter zu Ende ging, war Schneeflocke schon so groß, als ob sie bereits dreizehn Jahre alt wäre. Sie war auffallend klug, zeigte Verständnis für jedermann und wußte über alle Dinge Bescheid. Sie war weiß wie Schnee, ihre Augen leuchteten wie kleine blaue Vergißmeinnichtblüten, und das blonde Haar fiel ihr in goldenen Löckchen fast bis zu den Hüften. Zwar zeigte sich keine liebliche Röte in ihren Wangen, und es schien, als sei kein Tröpfchen roten Blutes in ihrem Körper. Dennoch war sie so schön, daß man nur mit Mühe den Blick von ihr wenden konnte, und so gut und freundlich war sie, daß bei ihrem Anblick jedem Menschen das Herz in der Brust lachte. Und alle überhäuften sie mit Liebe. War sie denn nicht auch der reine Sonnenstrahl im Leben der beiden Alten?

»Oh, Liebster«, hörte man die alte Frau öfter sagen, »Gott hat uns wahrlich viel Freude in unseren alten Tagen gewährt!«

Und der Mann antwortete ihr:

»Ehre sei Gott in der Höhe! Hier unten währt die Freude nicht ewig, aber auch der Kummer ist nie ohne Ende.«

Der Winter verging so rasch, wie er gekommen war, und die Sonne fing an, mit ihren Strahlen die Erde zu erwärmen. Bald schon zeigte sich frisches grünes Gras auf den vom Schnee befreiten Wiesen, und oben in den blauen Lüften jubilierte die Lerche. Im Dorfe sammelten sich junge Mädchen, faßten sich bei den Händen und sangen frohe Frühlingslieder. Schneeflöckchen aber schien zu welken und ward trauriger von einem Tag zum andern.

»Was fehlt dir denn, mein Herzkind, du wirst mir doch nicht krank werden?«fragte die Frau sie immerzu.

»Seid ohne alle Sorge, Mütterchen, ich fühle mich gesund und kräftig«, beruhigte sie Schneeflöckchen.



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Unter den warmen Strahlen der Sonne schmolz bald schon der letzte Schnee. Auf den Wiesen und in den Gärten blühten alle Blumen wieder, und Gottes ganze Wunderwelt war frühlingsfrisch und heiter. Doch Schneeflöckchen schien immer müder und trauriger. Sie wich ihren Spielgenossen aus und versteckte sich ständig vor den Strahlen der Sonne.

Sie liebte es, an kühleren Plätzen zu spielen, und das leise murmelnde Bächlein, das unter schattigen Weidensträuchern friedlich dahinfloß, wurde ihr bester Freund. Wenn es regnete und die Sonne sich hinter dunklen Wolken verbarg, dann lachte und sang Schneeflöckchen wieder wie zuvor.

Als einmal ein schweres Gewitter von Hagel begleitet niederging, klatschte sie gar in die Hände, jauchzte vor Freude und sammelte die Hagelkörner vom Boden auf, als ob es lauter Edelsteine wären. Als diese aber langsam auftauten, begann sie zu weinen, und die alten Leute konnten sie nur mit Mühe beruhigen.

Als der Frühling sich zum Sommer wandelte und der Tag des heiligen Johannes näherrückte, versammelten sich die Dorfkinder, um gemeinsam im Walde sein Fest in der Jahresmitte zu feiern. Sie klopften auch an die Haustüre des alten Paares und baten: »Laßt Schneeflöckchen mit uns in den Wald ziehen!«

Die alte Frau zögerte, und auch Schneeflöckchen wollte davon nichts hören; sie wäre lieber zu Hause geblieben. Aber als die Kinder in ihrem Drängen nicht nachlassen wollten, willigten sie schließlich ein.

»Gebt gut acht auf meine kleine Schneeflocke«, bat die alte Frau; »ihr wißt, daß ich sie mehr liebe als mein Augenlicht.«

»Wir werden schon auf sie aufpassen und sie dir heil zurückbringen«, versprachen die Kinder, nahmen Schneeflöckchen an der Hand und liefen mit ihr dem Walde zu. Dort pflückten sie Blumen, wanden Sträuße und Kränze und sangen dazu ihre lustigen und ihre wehmütigen Lieder. Schneeflöckchen folgte genau den Anweisungen ihrer Spielgenossen und tat voller Vergnügen überall mit.

Als die Sonne unterging und es Abend wurde, entzündeten die Kinder aus Gras, trockenen Zweigen und Blättern ein Feuerchen. Sie stellten sich in Reih und Glied, eins hinter das andere, und wiesen Schneeflöckchen den letzten Platz in der Reihe an.



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»Sieh gut zu, wie wir nun laufen und springen werden«, riefen sie, »und folge dann unserem Beispiel! Aber bleib ja nicht zurück!« Und sie sprangen jubelnd und jauchzend, eins nach dem andern, über das hellflackernde und prasselnde Feuerchen, zuletzt auch Schneeflöckchen. Plötzlich hörten sie ein Zischen und ein schmerzliches Stöhnen. Ihr Lachen verstummte, und sie sahen einander fragend an. Da entdeckten sie, daß Schneeflöckchen nicht mehr unter ihnen war.

»Vielleicht hat sie sich versteckt!«riefen sie und zerstoben nach allen Seiten, um nach ihr zu suchen. Sie riefen und schrien, baten sie, zurückzukommen - doch all ihr Bemühen blieb vergebens.

»Sicher ist sie schon nach Hause gelaufen«, meinten sie schließlich und eilten dem Dorfe zu. Doch auch hier war Schneeflöckchen nicht. Sie suchten den ganzen Rest des Tages und auch noch am zweiten und dritten Tag, sie schauten unter jeden Busch und Strauch, aber sie fanden sie nicht. Die arme alte Frau lief immer wieder zum Walde zurück -aber kein Rufen und Klagen konnte helfen: Schneeflöckchen blieb unauffindbar.

»Wohin ist sie wohl verschwunden? Hat etwa ein wildes Tier sie verschleppt oder ein Raubvogel sie entführt?«

Nichts dergleichen war geschehen -kein wildes Tier und auch kein Raubvogel hatten Schneeflöckchen davongetragen! Aber als sie dem Beispiel der Kinder gefolgt und übers Johannisfeuer gesprungen war, war das ganze Schneekind zerschmolzen - und nur ein dünnes, federleichtes Wölkchen war langsam zum Himmel emporgeschwebt.


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