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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der Vogel Kachka

Es war einmal ein alter Fischer. An jedem Morgen in aller Frühe ging er an den Fluß, saß dort bis zum späten Abend und fing mit der Angel ein paar kleine Fische. Die verkaufte er, und von dem Erlös fristeten er und seine Frau kümmerlich ihr Leben.

Eines Tages nun, als er wieder wie gewohnt zum Fluß ging und sich gerade am Ufer hingesetzt hatte, kam ein großer, schöner Vogel geflogen und setzte sich dort auf einen Baum.

Das aber war kein gewöhnlicher Vogel, sondern der Wundervogel Kachka.

Der Vogel schaute dem Fischer zu, der dasaß und angelte, aber kein Fisch wollte anbeißen. Lange saß der Fischer so, bis er endlich ein kleines Fischlein herauszog. Da sagte der Vogel Kachka zu ihm:

»Ach, Väterchen, was willst du mit diesem kleinen Fischlein beginnen?«

»Ich werde es auf dem Markt verkaufen und mit dem Geld für mich und meine Frau ein bißchen Brot kaufen.«

Dem Vogel tat der alte Mann leid, und er sagte:



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»Ich will nicht, daß du dich so abmühst und dabei noch am Hungertuche nagst! Von jetzt an werde ich dir jede Nacht einen großen Fisch bringen. Für den großen Fisch bekommst du viel Geld, und du und deine Frau, ihr werdet keine Not mehr leiden!«

Da freute sich der alte Fischer, dankte dem Vogel und ging nach Hause.

Um Mitternacht kam der Vogel Kachka mit einem riesigen Fisch geflogen und warf ihn dem alten Mann in den Hof.

Am nächsten Morgen schnitt der Alte den Fisch in Stücke, briet diese, brachte sie zum Markt und verkaufte sie. An diesem Tage hatten die beiden Fischersleute zum erstenmal seit langem genug zu essen.

Von da an brachte der Vogel Kachka dem Fischer jede Nacht einen großen Fisch und warf ihn in den Hof.

Der alte Fischer war ein armer Mann, nun aber wurde er reich. Er konnte sich zuletzt sogar ein Haus mit einem Garten kaufen.

Wieder einmal ging er auf den Markt und verkaufte seinen Fisch. Plötzlich erschien dort der Ausrufer des Padischahs und rief:

»Wer dem Padischah sagen kann, wo der Vogel Kachka zu finden ist, der bekommt die Hälfte des Königreiches und die Tochter des Padischahs dazu!«

Der alte Fischer erhob sich von seinem Platz und wollte schon sagen, daß er wisse, wo man den Vogel Kachka finden kann, aber dann besann er sich:

>Nein, ich werde es nicht sagen, denn dieser Vogel hat mich vor dem Hunger gerettet!< So dachte er und setzte sich wieder an seinen Platz.

>Aber es wäre doch schön, das halbe Reich zu bekommen<, überlegte er weiter und stand wieder auf.

So stand er drei-, viermal von seinem Platz auf und setzte sich wieder.

Der Ausrufer merkte das. Er ergriff den Alten und schleppte ihn zum Padischah:

»Dieser alte Mann weiß, wo der Vogel Kachka ist«, sagte er.

Der Padischah sagte zu dem Alten:

»Wenn du etwas vom Vogel Kachka weißt, dann sage mir, wo ich ihn finden kann. Ich bin plötzlich erblindet, und kein Heilmittel



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vermag mir das Augenlicht wiederzugeben. Ein weiser Mann aber hat mir gesagt, daß ich wieder sehend werde, wenn ich meine Augen mit dem Blüt des Vogels Kachka wasche. Hilf mir ihn fangen, dann gebe ich dir die Hälfte meines Reiches!« Der alte Fischer antwortete:

»Jede Nacht kommt der Vogel Kachka zu mir und bringt mir einen großen Fisch.«

Der Padischah freute sich: »So fange du ihn!«

»Nein«, antwortete der Alte, »der Vogel Kachka ist groß und stark. Allein werde ich mit ihm nicht fertig. Hundert Mann werden nicht genügen, um ihn zu greifen und festzuhalten.«

»Ich werde vierhundert meiner Diener zu dir schicken. Verstecke sie unter dem Baum, auf dem sich der Vogel Kachka niederläßt. Sie werden ihn schon packen und festhalten können!«

»Nein«, erwiderte der Alte, »so kann man den Vogel Kachka nicht fangen. Ich werde eine gute Mahlzeit zubereiten, und wenn er zu mir geflogen kommt, werde ich ihn überreden, auf die Erde herunterzufliegen und zu fressen. Und dabei können wir ihn dann greifen!«

Der Padischah schickte dem Alten vierhundert seiner Diener. Der Fischer führte sie unter den Baum, auf dem sich der Vogel Kachka immer niederließ, und versteckte sie unter den Zweigen. Dort saßen die Diener nun, ohne sich zu rühren.

Der Alte aber breitete auf einem Teppich unter dem Baum reichliche Nahrung aus und wartete auf den Vogel Kachka. Sobald dieser nun angeflogen kam und sich auf den Baum gesetzt hatte, sagte der Alte:

»Lieber Vogel Kachka! Dir verdanke ich es, daß ich reich und glücklich geworden bin, aber bis heute habe ich dich noch nicht einmal zu Gast geladen! Fliege jetzt zu mir herunter und nimm an meiner Mahlzeit teil!«

Und er bat den Vogel Kachka so inständig, daß dieser von dem Baum herunterflog. Wohl überlegte er dabei einen Augenblick: >Wenn nun der alte Mann Böses im Sinne hat?<Aber dann sagte er sich: >Ach, was soll dieser alte, schwache Mann mir schon antun!< So flog also der Vogel Kachka vom Baum herunter und setzte sich zu dem Alten. Der stellte die Speisen vor ihn hin und bewirtete ihn.



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Doch kaum hatte der Vogel Kachka begonnen, mit dem Schnabel von der Nahrung zu picken, da packte ihn der Alte an beiden Beinen und schrie:

»Kommt schnell herzu! Rasch!«

Die vierhundert Diener des Padischahs sprangen aus ihrem Versteck hervor und stürzten sich auf den Vogel. Der Vogel Kachka aber öffnete seine mächtigen Schwingen und flog empor in die Lüfte. Der Alte hielt ihn noch immer an den Beinen fest und schrie:

»Ich halte ihn! Ich halte ihn!«

Der Vogel Kachka jedoch erhob sich höher und höher. Einer der Diener des Padischahs sprang hoch und packte den alten Mann an den Beinen, um den Vogel aufzuhalten. Ein zweiter Diener sah, wie die beiden sich von der Erde lösten, und packte den ersten Diener an den Beinen. Den zweiten packte ein dritter, den dritten ein vierter, den vierten ein fünfter . . . und so taten es alle.

Der alte Mann und die vierhundert Diener des Padischahs klammerten sich aneinander, erhoben sich hinter dem Vogel Kachka hoch hinauf bis zu den Wolken und hingen wie eine Kette in der Luft. Da schaute der Alte hinunter zur Erde, aber die Erde war schon nicht mehr zu sehen. Es wurde ihm schwarz vor den Augen vor Angst, er löste die Finger und stürzte hinab in die Tiefe. Und mit ihm alle vierhundert Diener des Padischahs. Sie fielen auf Felsen und Steine und blieben dort allesamt zerschmettert liegen.


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