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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der listige Bauer

Einst lebte eine alte Frau, die hatte zwei Söhne. Einer von ihnen starb, der andere reiste in ferne Länder. Drei Tage nach der Abreise des Sohnes kam ein Soldat zu der alten Frau und sprach zu ihr:

»Gute Alte, erlaubt mir, die Nacht bei dir zu verbringen.«

»Gut, mein Freund! Aber wo kommst du her?«

»Ich, Frau, ich bin ein aus dem Jenseits wiedergekommener Nikonist.

»Ah! Mein Freund! Mein Sohn ist gerade kürzlich gestorben; hast du ihn vielleicht gesehen?«

»Ja, ich habe ihn gesehen: wir bewohnten das gleiche Zimmer.«

»Ist das auch wahr?«

»Ja. Er führt im Jenseits die Lerchen auf die Weide.«

»Ah! Guter Freund! Sicherlich machen sie ihm manchen Verdruß?«

»Sehr: die Lerchen nehmen immer Reißaus in die Büsche.«

»Sind denn wohl gar schon seine Kleider zerrissen?«

»Er ist völlig verlumpt.«

»Ich besitze, mein Freund, etwa vierzig Ellen Leinen und einige zehn Rubel. Bring sie bitte meinem Sohn!«

»Gern, meine gute Alte!«

Nach ich weiß nicht wie langer Zeit kommt der Sohn von seiner Reise zurück:

»Guten Tag, Mutter!«

»Während du fort warst, ist ein aus dem Jenseits wiedergekommener Nikonist bei mir gewesen; er brachte mir Nachrichten von meinem verstorbenen Sohn, deinem Bruder. Sie haben da drüben das



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gleiche Zimmer bewohnt. Ich habe ihm - durch seine Vermittlung — Leinen hingeschickt und zehn Rubel.«

»Wenn das die Wahrheit ist«, sagte der Sohn zornig, »dann leb wohl, Mutter! Ich werde eine lange Reise rund um die Welt unternehmen; wenn ich irgendeinen finde, der noch dümmer ist als du, dann werde ich dich ernähren und pflegen; wenn nicht, komme ich nicht wieder nach Hause.« Dann drehte er auf der Stelle um und machte sich auf den Weg.

Er langte in einem großen und ansehnlichen Dorf an und blieb nahe bei dem Hofe des Herrensitzes stehen, wo eine Muttersau mit ihren Kleinen umherirrte. Der Bauer ging in die Knie und grüßte die Sau ganz ehrerbietig. Die Herrin des Hauses sah ihn vom Fenster aus und sagte zu ihrer Dienerin:

»Geh doch und frage mir diesen Bauern, warum er so ehrerbietig grüßt?«

Da ging das Mädchen und fragte den Mann:

»Bauer, warum gehst du in die Knie und warum grüßt du die Sau so ehrerbietig?«

»Meine Liebe, sage deiner Herrin, daß dieses Schwein ganz reizend ist; das ist der Bruder meiner Frau, und da mein Sohn sich morgen verheiratet, lade ich es zur Hochzeit ein. Vielleicht wird deine Herrin ihm erlauben, Trauzeuge zu sein, und den kleinen Schweinchen, sie zu begleiten.«

Sobald die Schloßherrin das gehört hatte, sagte sie zu ihrer Dienerin:

»Wie dumm er doch ist! Er lädt das Schwein zur Hochzeit ein und die kleinen Schweinchen dazu. Na schön! Leisten wir uns einen Spaß mit ihm! Zieh rasch dem Schwein meinen Pelzmantel an; laß die Pferde an die Karosse anspannen: es braucht nicht zu Fuß zu der Hochzeit zu gehen.«

Die Pferde wurden vor die Kutsche gespannt, das sonntäglich herausgeputzte Schwein mit seinen Kleinen hineingesetzt und alles zusammen dem Bauern übergeben, der damit fortfuhr.

Kurz darauf kam der Schloßherr nach Haus zurück; er war auf der Jagd gewesen. Mit lautem Gelächter ging die Schloßherrin ihm entgegen.

»Ah! Mein Freund! Du warst nicht da, ich hatte niemanden hier, der



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mit mir zusammen lachen konnte. Ein Bauer ist gekommen und hat begonnen, das Schwein zu grüßen: >Es ist reizend<, sagte er; >dieses Schwein ist der Bruder meiner Frau.<Und er hat es als Trauzeugen zur Hochzeit seines Sohnes eingeladen, mit all den kleinen Schweinchen, damit sie an dem Festzug teilnehmen sollen.«

»Ich weiß«, sagte der Schloßherr, »und du hast sie ihm gegeben.«

»Ich habe das Schwein mit meinem Pelzmantel ausstaffiert und es in die mit zwei Pferden bespannte Kutsche gesetzt.«

»Aber woher kam denn dieser Bauer?«

»Ich weiß nicht . .

»Dann ist nicht der Bauer dumm, sondern du bist erzdumm!« Der Schloßherr war wütend, weil man seine Frau so angeführt hatte. Er verließ das Haus, bestieg sein Pferd und setzte an, den Bauern zu verfolgen. Als dieser sah, daß der Schloßherr ihn bald erreichen würde, führte er die Pferde und die Kutsche weg und versteckte sie in einem dichten Wald, nahm seinen Hut ab, legte ihn an die Erde und setzte sich daneben. »He! Bauernlümmel«, rief der Herr, »hast du hier nicht einen mit zwei Pferden vorbeikommen sehen? Er hatte in der Kutsche ein Schwein und dessen Ferkel.«

»Ja, den habe ich vorbeifahren sehen, schon vor langer Zeit.«

»Wohin denn? Welchen Weg muß man nehmen, um ihn einzuholen?«

»Es ist nicht schwierig, ihn zu erreichen; aber die Straße macht viele Bogen, man kann sich leicht verirren!«

»Mein Freund, verfolge diesen Bauern für mich!«

»Nein, Herr, das ist ganz unmöglich: ein Falke steckt hier unter meinem Hut.«

»Das macht nichts; ich werde dir gern deinen Falken hüten.«

»Aber gibt mir gut acht, er könnte dir entwischen; es ist ein sehr teurer Vogel, und mein Meister würde mich glatt totschlagen.«

»Wieviel kostet er?«

»Ich glaube, er kostet dreihundert Rubel.«

»Na schön, falls ich ihn entwischen lasse, will ich ihn dir bezahlen.«

»Verzeih, Herr; aber Versprechen geben und Versprechen halten sind leider zweierlei Dinge.«

»Was für ein Ungläubiger! Sieh, da hast du -auf jeden Fall -deine dreihundert Rubel.«



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Der Bauer nahm das Geld, bestieg das Pferd und trabte durch den Wald davon, während der Schloßherr den leeren Hut hütete. Er wartete lange Zeit; die Sonne versank hinterm Horizont, und der Bauer kam nicht wieder.

»Ich will doch nachsehen, ob ein Falke unter dem Hut steckt! Ist einer drunter, wird er wiederkommen; wenn nicht, ist es unnütz zu warten.«

Er hob den Hut an: darunter befand sich nichts.

»Ist das ein Spitzbube! Das ist bestimmt derselbe Bauer, der meine Frau betrogen hat.«

Der Schloßherr stampfte vor Ärger mit den Füßen und kehrte nach Hause zurück. Unterwegs hatte er Zeit zum Nachdenken, und als ihn seine Frau begrüßte, bat er sie um Verzeihung, weil er sie gescholten hatte.

Der Bauer aber war mit seiner Beute inzwischen zu seiner Mutter heim geritten.

»Schon gut, Mutter«, sagte er, »ich bleibe bei dir: es gibt viele Dumme in der Welt. Man hat mir ganz umsonst drei Pferde mit einer Karosse, dreihundert Rubel und ein Schwein mitsamt seinen Ferkeln geschenkt.«


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