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Kapitel 

Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Das Mädchen und der Mond

Es lebte einmal im Tschuktschenland ein Mann, der hatte eine Tochter. Das Mädchen war die beste Stütze seines Alters. Jeden Sommer hütete sie die Herden weit von der Nomadensiedlung, und im Winter zog sie mit dem Vieh in noch abgelegenere Gegenden. Nur manchmal fuhr sie mit ihrem Rentiergespann heim, um Nahrung zu holen.

Eines Nachts hob das eine Rentier den Kopf, sah zum Himmel und sprach:

»Schau hin, schau hin!«

Das Mädchen blickte zum Himmel empor, und da sah sie, wie der Mond auf einem Schlitten mit zwei Rentieren zur Erde niederfuhr.

»Wohin will er, und was hat er vor?«fragte das Mädchen.

»Dich will er rauben«, gab das Rentier zur Antwort.

Da bekam das Mädchen große Angst.



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»Was soll ich tun? Er nimmt mich mit.«

Das Rentier scharrte mit den Hufen ein Loch in den Schnee. Dann sprach es:

»Setz dich flink hier hinein.«

So tat das Mädchen. Das Rentier deckte es mit Schnee zu. Kein Mädchen war mehr da, nur ein Schneehäufchen wölbte sich an der Stelle. Der Mond kam vom Himmel auf die Erde, hielt seine Zugtiere an und stieg vom Schlitten. Er ging umher, schaute aufmerksam überall hin, aber das Mädchen war nicht zu sehen. Nirgends konnte er sie finden! Dann kam er zu dem Schneehaufen, sah wohl die Wölbung, aber erriet nicht, was darunter war.

»Wie ist das möglich?« sagte der Mond. »Wohin ist bloß das Mädchen verschwunden? Ich kann sie nicht finden! Jetzt fahre ich wieder zum Himmel, aber später komme ich noch mal, dann finde ich sie bestimmt und entführe sie in mein Mondland.«

Er setzte sich in seinen Schlitten, und die Rentiere trugen ihn hirnmelwärts.

Kaum war der Mond fort, da scharrte das Rentier den Schnee weg. Das Mädchen schlüpfte hervor und sagte:

»Komm rasch in die Siedlung, sonst sieht mich der Mond und fährt wieder zur Erde. Dann gibt's kein Verstecken mehr!«

Auf den Schlitten setzte sie sich, und dann trabte das Rentier, so schnell es nur konnte. In der Siedlung lief das Mädchen gleich ins Zelt. Doch der Vater war nicht da. Wer half ihr nun? .

Das Rentier sprach:

»Versteck dich rasch, sonst kommt der Mond hinter uns her.«

»Wo soll ich mich verstecken?«

»Ich werde dich verwandeln. Willst du - in einen Steinblock?«

»Er wird es erraten!«

»Dann in einen Hammer?«

»Er wird es erraten!«

»Vielleicht in eine Stange am Zelt?«

»Er wird es erraten!«

»Vielleicht in ein Fädchen in der Matte?«

»Er wird es erraten, er wird es erraten!«

»Was soll ich machen? Ich verwandle dich in ein Ollämpchen!«

»Gut. Das ist recht!«



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»Setz dich.«

Das Mädchen setzte sich hin. Das Rentier stampfte mit dem Huf auf, und da verwandelte sich das Mädchen in ein Ollämpchen. Das brannte gar hell und erleuchtete das ganze Zelt.

Kaum war das Mädchen zu einem Ollämpchen geworden, da kam der Mond schon wieder vom Himmel herab, suchte sie überall bei ihrer Herde und eilte sodann in die Siedlung. Seine Rentiere band er an und trat ins Zelt. Er suchte hier und dort, doch er fand sie nicht. Zwischen den Stangen sah er nach, durchschnüffelte den ganzen Hausrat, jedes Härchen an den Fellen, jedes Stäubchen unter den Betten, jedes Krümchen Erde rundum prüfte er, doch nirgends war das Mädchen.

Nur das Ollämpchen bemerkte er nicht, weil es ebenso hell schien wie der Mond.

»Was sind das für wunderliche Dinge?« sprach der Mond vor sich hin. »Wo kann sie denn stecken? Ich muß wohl unverrichteter Dinge wieder zum Himmel fahren.«

Er ging aus dem Zelt, band die Rentiere los und setzte sich auf den Schlitten. Doch als er gerade losfahren wollte, hob das Mädchen die Matte am Zelteingang, steckte den Kopf heraus und rief lachend: »Hier bin ich! Hier bin ich!«

Der Mond ließ die Tiere stehen und rannte ins Zelt. Aber das Mädchen hatte sich schon wieder in ein Ollämpchen verwandelt.

Da begann der Mond neuerlich mit seinem Suchen. Er suchte zwischen Stangen und dem dürren Laub der Betten und den Härchen der Felle und den Sandkörnchen auf dem Boden -aber das Mädchen fand er nicht.

»Wie merkwürdig! Wo ist sie denn? Ich werde wohl unverrichteter Dinge zum Himmel fahren!«

Kaum war er aus dem Zelt und band die Tiere los, da guckte das Mädchen abermals bis zum Gürtel aus der Zeltöffnung und rief lachend:

»Hier bin ich! Hier bin ich!«

Der Mond sauste ins Zelt und suchte wieder jeden Winkel ab. Lange suchte er, alles wühlte er durch, kehrte das Unterste zuoberst, doch er fand sie nicht . .

Vom Suchen müde und matt, wurde er zusehends magerer und kam



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ganz von Kräften. Er konnte kaum noch die Beine setzen und die Arme heben.

Da fürchtete sich das Mädchen nicht mehr vor ihm. Sie nahm ihre wahre Gestalt an, lief aus dem Zelt, sprang dem Mond auf den Rücken und band ihm Arme und Beine.

»Oh«, sagte der Mond, »du willst mich töten. Nun wohl, schlag zu! Ich bin selber schuld, wollte ich dich doch von der Erde rauben. Nur leg mich vor meinem Tod ins Zelt, laß mich ein wenig warm werden, denn ich friere sehr . . «

Das Mädchen fragte verwundert:

»Wieso frierst du? Du ziehst doch ewig im Freien umher, hast kein Zelt, kein Obdach. Bleib auch jetzt hier draußen! Was willst du im Zelt? Das gibt's nicht.

Da begann der Mond das Mädchen zu bitten:

»Wenn ich schon ewig heimatlos bin, dann laß mich fort. Ich werde deinem Volk zu Lust und Freude dienen. Ja, laß mich frei -ich mache die Nacht zum Tag. Laß mich frei -ich werde deinem Volk das Jahr messen. Zuerst bin ich der Monat des alten Stiers, dann der Monat des Kälbchenwurfs, dann der Monat der großen Wasser, dann der Monat der Blätter, dann der Monat der Wärme, dann der Monat des Hörnerwechsels, dann der Monat der Liebe bei den wilden Rentieren, dann der erste Wintermonat . .

»Wenn ich dich freilasse und du wieder kräftig bist und deine Arme und Beine erstarkt sind, wirst du mich dann wieder rauben wollen?«

»O nein, nie mehr! Für mich bist du zu gescheit. Ich bleib' jetzt droben auf meiner Himmelsbahn. Laß mich frei, ich will euch leuchten.«

Das Mädchen ließ den Mond frei, und seither schickt er sein helles Licht auf die Erde.


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