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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Pilipka, das Söhnchen

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten keine Kinder. Und die Frau klagte: »Habe kein Kind in der Wiege zu schaukeln, darf kein Kleinchen ans Herz mir drücken.« Da ging der Mann eines Tages in den Wald, hackte ein Erlenscheit, brachte es seinem Weib und sagte: »Hier hast du, tu's in die Wiege und schaukle es.«

Die Frau legte das Scheit in die Wiege, schaukelte es hin und her und sang dazu:

»Schlaf, schlaf, Söhnchen, mit den weißen Schulterchen und den schwarzen Augelchen . . .«

Und sie schaukelte die Wiege einen Tag, einen zweiten, am dritten Tag aber lag ein Knäblein in der Wiege.

Da freuten sich der Mann und die Frau über die Maßen. Sie nannten das Söhnchen Pilipka und ließen ihm die beste Pflege angedeihen. Pilipka wuchs heran. Eines Tages sagte er zu seinem Vater:

»Vater, mach mir einen goldenen Kahn und ein silbernes Ruder, ich will Fische fangen.«

Der Vater machte ihm einen goldenen Kahn und ein silbernes Ruder und schickte ihn auf die See, Fische zu fangen.

Der Sohn aber, so war es, konnte gar nicht mehr aufhören. Tag um Tag saß er im Kahn, sogar nachts angelte er und ging nicht nach Haus, so gut bissen die Fische an. Die Mutter brachte ihm das Mittagessen. Wenn sie an den See kam, rief sie:



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»Pilipka, komm an das Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Dann ruderte Pilipka ans Ufer, warf die Fische aus dem Kahn, aß ein Küchlein und fuhr sogleich wieder auf den See hinaus.

Hörte doch die alte Hexe Baba Jaga, die ja alle kennen, wie die Mutter Pilipka rief. Sie beschloß, ihn aus der Welt zu schaffen. Einen Sack nahm sie und einen Schürhaken, humpelte zum See und fing an zu rufen:

»Pilipka, komm an das Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Pilipka dachte, es sei die Mutter, und fuhr hin. Die alte Jaga aber faßte den Kahn mit dem Schürhaken, zog ihn ans Ufer, packte Pilipka und steckte ihn in den Sack.

»So«, murmelte sie, »nun wirst du keine Fische mehr fangen.« Den Sack über der Schulter, humpelte sie heimwärts in den tiefen Wald.

Lange schleppte sie die schwere Last, und als sie schon ganz matt und müde war, setzte sie sich hin, um zu verschnaufen. Da fielen ihr die Augen zu. Pilipka aber schlüpfte flink aus dem Sack, legte schwere Steine hinein und lief wieder an den See.

Die Baba Jaga erwachte, lud den Sack mit den Steinen auf den Buckel und trug ihn ächzend und krächzend nach Haus.

Daheim angekommen, sagte sie zu ihrer Tochter:

»Brat mir zu Mittag den Fischer hier.«

Und sie schüttete den Sack aus, aber heraus purzelten lauter Steine .

Da packte die Baba Jaga eine grimmige Wut, und sie schrie, daß die ganze Hütte wackelte:

»Ich werd's dir schon zeigen, was es heißt, mich hinters Licht zu führen!«

Sie lief abermals an den See und rief:

»Pilipka, komm ans Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Pilipka hörte die Stimme.

»Nein, du bist meine Mutter nicht. Meine Mutter hat eine feinere Stimme.«

Wie lange die Hexe auch rief, Pilipka kam nicht.



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>Na schön<, dachte sie, >ich werde mir eben eine feinere Stimme zulegen.<

Und sie lief zum Schmied. »Schmied«, sagte sie, »schlag mir doch die Zunge dünn!«

»Gut«, sagte der Schmied, »werd' ich machen. Leg sie auf den Amboß.«

Und die Baba Jaga legte ihre lange Zunge auf den Amboß. Nahm der Schmied seinen Hammer und begann, ihr die Zunge zurechtzuschmieden. Er schlug so lange, bis sie fadendünn war.

Läuft die Baba Jaga an den See und ruft Pilipka mit einem ganz feinen Stimmchen:

»Pilipka, komm ans Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Pilipka hörte es und dachte, daß seine Mutter ihn rufe. Er ruderte ans Ufer, dort schnappte ihn die Hexe und steckte ihn flugs in den Sack.

»Jetzt wirst du mich nicht mehr betrügen«, frohlockte sie. Ohne zu verschnaufen, trug sie den Sack schnurstracks nach Haus. Schüttete ihn auf dem Boden aus und sagte zu der Tochter:

»Da ist er, der Schwindler! Heiz den Ofen und brat ihn mir gut. Daß er mir zum Mittagessen fertig ist.«

So sprach sie und ging hinaus. Die Tochter heizte den Ofen, dann nahm sie eine Schaufel und sagte zu Pilipka:

»Leg dich auf die Schaufel, ich will dich in den Ofen stecken.«

Pilipka tat, wie gesagt, doch er hob die Beine hoch.

»Nicht so«, schrie die Hexentochter. »So kann ich dich doch nicht in den Ofen schieben!«

Da ließ Pilipka die Beine hängen.

»So auch nicht«, schrie die Hexentochter wieder.

»Zeig's mir doch«, fragte Pilipka.

»Bist du aber dumm«, schimpfte die Hexentochter. »So muß man's machen. Schau!«

Und sie streckte sich auf der Schaufel aus. Flink nahm Pilipka die Schaufel und schob sie ins Ofenloch. Und das Ofentürchen verrammelte er noch mit dem Mörser der Hexe, damit die Tochter nicht etwa aus dem heißen Ofen sprang.

Kaum war er aus der Hütte, sah er schon die Baba Jaga ankommen.



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Da sprang er mit einem Satz auf einen hohen dichten Bergahornbaum und versteckte sich in seinem Gezweig.

Die alte Jaga trat in die Küche. Sie schnupperte mit der Nase, weil es gar so lecker nach gebratenem Fleisch roch.

Aus dem Ofen nahm sie den Braten, aß sich am Fleisch satt, warf die Knochen auf den Hof, wälzte sich auf ihnen herum; dabei murmelte sie:

»Ich wende und rolle mich. Pilipkas Fleisch aß ich, sein Blut trank ich.«

Pilipka aber rief vom Ahornbaum:

»Wend dich nur und rolle dich, deiner Tochter Fleisch aßest du, deiner Tochter Blut trankest du!«

Als die Hexe dies vernahm, wurde sie vor Wut kohlschwarz. Sie lief zum Baum und fing an, mit ihren Zähnen an seiner Rinde zu nagen. Sie nagte und nagte, bis sie sich alle Zähne ausbrach, der starke Baum aber stand wie zuvor.

Lief die Baba Jaga zum Schmied.

»Schmied, lieber Schmied, mach mir eine stählerne Axt, sonst fresse ich deine Kinder.«

Erschrak der Schmied und machte ihr die Axt.

Lief die Baba Jaga wieder zum Ahornbaum und begann auf ihn einzuhauen. Pilipka aber rief vom Baum: »Nicht in den Stamm, in den Stein!«

Die Hexe erwiderte zornig:

»Nicht in den Stein, in den Stamm!«

Pilipka abermals:

»Nicht in den Stamm, in den Stein!«

Und da schlug die Axt auf Stein und wurde ganz schartig.

Vor Wut und Bosheit kreischte die alte Hexe auf, packte die Axt und lief abermals zum Schmied.

Doch da merkte Pilipka, daß der Baum schon wackelte. Die Hexe hatte den Stamm halb durchgeschlagen. Er mußte sich retten, bevor es zu spat war.

Am Himmel flog ein Schwarm wilder Gänse vorüber. Pilipka rief ihnen zu:

»Gänse, liebe Gänse, werft mir jede ein Federchen ab. Ich fliege mit euch zu Vater und Mutter, dort werd' ich euch belohnen!«



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Und jede Gans warf ihm ein Federchen zu.

Doch mit diesen Federn konnte Pilipka nur einen halben Flügel machen.

Als ein zweiter Schwarm am Himmel daherkam, bat Pilipka abermals:

»Gänse, liebe Gänse, werft mir jede ein Federchen ab, ich fliege mit euch zu Vater und Mutter .

Und wieder warf ihm jede Wildgans ein Federchen zu. Flog ein dritter und vierter Gänseschwarm über Pilipka hin, und alle Gänse opferten ihm ein Federchen. Pilipka machte sich Flügel aus den Federn und flog den Gänsen nach.

Kam die Hexe vom Schmied angelaufen, hieb auf den Ahornbaum ein, daß die Späne nur so flogen.

Ein Hieb folgt dem andern, und plötzlich -pardauz -fällt doch der Baum auf die Hexe und erschlägt sie.

Pilipka aber flog mit den Gänsen nach Haus. Wie freuten sich Vater und Mutter, als sie Pilipka wieder bei sich hatten. Sie gaben den Gänsen Hafer, setzten sich fröhlich zum Schmaus, und damit ist das Märchen aus.


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