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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


11. Die erste Mutter der Welt formt neue Tiere

Die erste Mutter der Welt ging mit den Tieren hart um und hat so mehreren Tieren eine besondere Eigenart gegeben, die sie nicht wieder abstreifen können.

Das erste Tier, das unter der unbarmherzigen Härte der ersten Mutter der Welt so litt, war der Igel. Der Igel (inisi, Plur.: inisivuen; in einem anderen Dialekt der Kabylen: akenephut; Plur.: ukenephielt) war ursprünglich wie ein kleiner Mensch gestaltet. Er trug auch wie ein solcher ein Ohrgehänge. Wenn man den Kopf des Igels genau betrachtet, erkennt man, daß er noch heute ähnlich wie ein kleiner Menschenkopf gestaltet ist. Die erste Mutter der Welt hat nun bei folgender Veranlassung dem Igel sein heutiges Kleid gegeben.

Die erste Mutter der Welt hatte die Schafe gemacht und ihnen Wolle abgeschnitten. Sie hatte sich zwei Ikardeschen (Sing: akardesch, Hölzer mit vielen kleinen Nägelstiften zum Reißen und Zerfasern



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der Wolle) gemacht und bearbeitete die Wolle mit den Ikardeschen. Sie legte einmal die Ikardeschen beiseite und ging hinaus. Der Igel, der in der Kammer war, sah die Ikardeschen und nahm sie. Er trug sie aus dem Hause und spielte damit. Die erste Mutter der Welt kam herein und suchte die Ikardeschen, fand sie aber nicht. Sie ging hinaus und sah den Igel mit ihnen spielen. Da wurde sie böse, nahm die Ikardeschen und schlug sie dem Igel um die Ohren. Die Stacheln blieben an dem Igel hängen, und seitdem läuft der Igel mit ihnen umher.

Das zweite Tier, das unter der ersten Mutter der Welt zu leiden hatte, war das Stachelschwein (errui; Plur.: erruien). Das Stachelschwein war vorher ein junges Schaf. Es war einmal im Hause der ersten Mutter der Welt, deren Hauptbeschäftigung es war, die Spindel (thithde[i]) zu drehen. Sie hatte viele Spindeln in ihrem Hause. Das junge Schaf war allein in dem Raume und nahm eine Spindel nach der andern und zerbrach sie. Das kleine Schaf zerbrach alle Spindelschäfte, so daß die Holzsplitter rundherum auf der Erde lagen.

Nach einiger Zeit kam die erste Mutter der Welt herein und sah alle die Holzsplitter und was das junge Schaf angerichtet hatte. Da wurde die erste Mutter der Welt böse, schlug das junge Schaf und warf es hin. Das junge Schaf warf sich schmerzerfüllt zwischen die Holzsplitter, und alle blieben in ihm hängen. Endlich ließ die erste Mutter der Welt das junge Schaf frei; es lief hinaus und in den Wald.

So wurde aus dem jungen Schaf das Stacheischwein, das nun auch nicht mehr im Hause, sondern draußen im Walde lebt und sich von wilden Knollen (awgock) und wilden Zwiebeln (leb'sel huschen) ernährt. Es hat die Holzsplitter als Stacheln behalten, kann sie aber, wenn es angegriffen wird, als Geschosse gegen andere Tiere und auch gegen Menschen verwenden. Das Stachelschwein kann mit seinen Stacheln werfen. Sein Fleisch ist aber das beste, das es gibt. Es ist ein sicheres Heilmittel, man muß es aber, mit Knoblauch (thischert) gemischt, im Dunkeln im Adäinin (Viehstall) genießen.

Das dritte Tier endlich, das unter dem Zorn der ersten Mutter der Welt litt, war die Schildkröte. Die Schildkröte war ursprünglich ein Kalb, und zwar ein ganz junger Stier. Seine Mutter, eine Kuh, lief nahe dem Gehöft einmal direkt an einem Abhang entlang an der Stelle, an der die erste Mutter der Menschheit ihr Korn auf einer aus zwei Steinen bestehenden Handmühle zu mahlen pflegte. An



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dieser Stelle gab die Kuh dem Stierkalb einen Tritt. Das Stierkalb flog zur Seite und gegen die Handmühle. Die Handmühle -also die beiden Mühlsteinscheiben -rollte den Abhang hinunter in das Tal.

Die erste Mutter der Menschheit wollte nun nachher Mehl mahlen. Sie suchte und suchte und fand die Mühle nicht. Alle waren hungrig. Da mußte die erste Mutter der Welt das Mehl mühsam mit dem Steinstößel (thauthischt) auf der Steinschale (thaphlat; —diese Stößelmehl,,mühle" ist heute noch als Ersatz für die andere fast in jedem kabylischen Gehöft in irgendeinem Winkel zu finden) zermalmen. Alle gingen trotzdem hungrig zu Bett. Am andern Morgen untersuchte die erste Mutter der Welt die Sache und erfuhr nun, wie sich alles abgespielt hatte. Sie wurde so zornig, daß sie dem Stierkalb den einen Mühlstein auf den Rücken, den anderen auf die Brust warf und sagte: "So laufe herum!"

Zur Kuh, die dem Stierkalb den Tritt versetzt und damit das ganze Unglück angerichtet hatte, sagte sie aber: "Wenn in Zukunft dieses Kind wieder mal an deinen Eutern säugt, soll deine Milch versagen." Und so ist es geblieben. Die Kabylen treiben heute noch ihre Kühe möglichst schnell durch jedes Wasser, damit ja nicht eine Schildkröte das Euter einer Kuh erreiche und daran sauge; denn das tun die Schildkröten sehr gern, da sie ja aus einem Stierkalb hervorgegangen sind. Gelingt das einer Schildkröte, so verhärten sich sogleich die Zitzen der Kuh, und sie gibt nie wieder Milch.


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