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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Warum der Dachs und der Fuchs in Höhlen wohnen

Vor langer, langer Zeit, so wird erzählt, hatten die wilden Tiere und das Hausvieh keinen Schwanz. Nur der König der Tiere -der Löwe — besaß einen.

Schwer war das Leben der Tiere ohne Schwanz. Im Winter ging's noch einigermaßen, aber wenn der Sommer kam, wußten sie sich einfach gar nicht vor den Fliegen und Mücken zu retten. Womit sollten sie die Quälgeister verscheuchen? So manches Tier wurde über Sommer von den Schmeißfliegen und Bremsen zu Tode gestochen. Und nichts blieb übrig, als Zeter und Mordio zu schreien, wenn sie über einen herfielen.

Der König der Tiere erfuhr von dem Unglück und erließ einen Befehl, daß alle Tiere bei ihm antreten und sich einen Schwanz holen sollten.

Die Boten des Königs eilten durchs ganze Land, um alle Tiere zusammenzurufen. Sie flogen wie der Wind, stießen in Hörner, schlugen die Trommel und schreckten alle aus dem Schlaf. Unterwegs trafen sie einen Wolf und übergaben ihm den Königsbefehl. Dann sahen sie einen Stier und taten desgleichen. Auch den Dachs luden sie ein. Mardern, Hasen, Füchsen, Eichen, Wildebern -allen sagten sie Bescheid.

Nur dem Bären nicht. Lange suchten ihn die Boten. Endlich fanden sie ihn schlafend in seiner Höhle, weckten ihn, erklärten, worum es ging, und befahlen ihm, er solle sich schleunigst seinen Schwanz abholen.

Aber wer hat es je erlebt, daß ein Bär sich beeilt hätte. Gemächlich trottet er, schaut sich rund um und schnuppert nach Honig. Plötzlich entdeckt er im Astloch einer Linde einen Bienenstock. >Der Weg zum König ist weit<, denkt er, >ich will mich erst stärken.<

Klettert der Bär auf die Linde, und dort gibt es Honig in Hülle und Fülle. Vor Freude brummend, greift der Bär in den Bienenstock, holt den Honig heraus und stopft sich beide Backen voll. Wie er sich sattgefressen hat, guckt er an sich herunter; das ganze Fell klebt von Honig und Mulm!>. . . Na, das geht doch nicht<, denkt er, >kann ich in solchen Aufzug vor die Augen des Königs treten?<

Nun ging der Bär an den Fluß, wusch sein Fell hübsch rein und legte



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sich am Ufer zum Trocknen hin. Aber die Sonne schien so schön warm, und eh' er sich's versah, war er wieder in süßen Schlummer gesunken. Um diese Zeit versammelten sich die Tiere beim König. Als erster kam der Fuchs herbeigeflitzt. Er sah sich um - vor dem Königsschloß lag ein großer Haufen von Schwänzen, langen, kurzen, kahlen und dichtbehaarten

Verneigte sich der Fuchs vor dem König und sprach:

»Hochehrwürdiger Herr König! Ich habe mich als erster auf deinen königlichen Befehl eingestellt. Gestatte deshalb, mir einen Schwanz nach meinem Geschmack auszusuchen.«

Dem König aber war es höchst egal, welchen Schwanz er dem Fuchs gab. »Na schön«, sagte er, »such dir einen Schwanz nach deinem Geschmack aus.«

Der schlaue Fuchs durchwühlte den ganzen Haufen und suchte sich den schönsten Schwanz heraus -lang und buschig war er. Dann lief er schnell davon, bevor der König es sich anders überlegt.

Nach dem Fuchs kam das Eichhörnchen angehüpft und nahm sich ebenfalls einen schönen Schwanz, nur ein bißchen kürzer. Auch der Marder ging mit einem prächtigen Schwanz heim.

Der Elch erkor sich den allerlängsten Schwanz, der in einem dichten Wedel endete, mit dem konnte er die Schmeißfliegen und Bremsen gut verjagen. Der Dachs griff einen buschigen Schwanz aus dem Haufen heraus.

Dem Roß gefiel ein Schwanz aus lauter Haaren; es befestigte ihn an seinem Pferdeleib, probierte ihn über die rechte Flanke zu schwenken, dann über die linke -der Schwanz schlug kräftig zu. »Tod den Fliegen!« wieherte das Pferd erfreut und trabte auf die Wiese. Als letzter kam der Hase angesprungen.

»Wo bleibst du denn so lange?«fragte der König. »Siehst du, es ist nur noch ein kleines Schwänzchen übrig.«

»Macht nichts, mir genügt's«, rief der Hase vergnügt. »Mit ihm kann ich besser vor Wölfen und Hunden ausreißen.«

Der Hase befestigte sich das Schwänzchen, wo es hingehört, tat ein paar Luftsprünge und lief zufrieden nach Hause. Als der König der Tiere alle Schwänze verteilt hatte, legte er sich zur Ruhe.

Der Bär aber wachte erst gegen Abend auf. Da fiel ihm ein, daß er ja wegen des Schwanzes zum König der Tiere eilen müsse. Schon



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wollte die Sonne hinterm Wald untergehen. Er setzte seine tapsigen Bärenbeine in Galopp, hoppelte und hoppelte, der Schweiß tropfte ihm nur so von der Stirn. Atemlos kam er vor des Königs Schloß, dort sah er weder Schwänze noch Tiere.

>. . . Was soll ich jetzt machen?<überlegte der Bär. >Alle Tiere werden Schwänze haben, nur ich hab' keinen.<Der Brummbär machte kehrt und trollte sich bitterböse in seinen Wald zurück. Wie er so seines Weges tapste, sah er plötzlich, wie ein Dachs auf einem Baumstumpf sich hin und her drehte und sich an seinem hübschen Schwanz nicht satt sehen konnte.

»Hör mal, Dachs«, rief ihm der Meister Petz zu, »wozu brauchst du eigentlich einen Schwanz? Gib ihn mir!«

»Was fällt dir ein, Onkel Bär«, antwortete der Dachs erstaunt. »Ich werde doch nicht auf so einen herrlichen Schwanz verzichten!«

»Gibst du ihn nicht freiwillig, so nehm' ich ihn mir«, brummte der Bär grimmig und legte seine schwere Pranke auf den Dachs.

»Ich geb' ihn nicht«, brüllte der Dachs, riß sich los und flitzte davon.

Da sah der Bär auf seine Tatze - an den Krallen war ein Stückchen Dachsfell und das Ende vom Schwanz hängengeblieben. Das Stückchen Fell warf der Bär weg, das Schwanzende aber klebte er sich an und trollte sich zu dem Bienenstock, um den Honig zu schlecken.

Von der Zeit an kann der Dachs nirgends Ruhe finden. Wo er sich auch versteckt, immer ist es ihm, als ob der Bär gleich kommt und ihm noch den Rest vom Schwanz wegnimmt. Deshalb scharrte er eine tiefe Höhle in die Erde und verkroch sich dort. Die Wunde am Rücken verheilte gut, aber ein dunkler Streifen blieb zurück. Bis auf den heutigen Tag ist der Streifen nicht heller geworden.

Eines Tags lief der Fuchs durch den Wald. Plötzlich sah er eine Höhle. Und in der Höhle schnarchte jemand so laut, als hätt' er eins über den Durst getrunken. Kroch der Fuchs in die Höhle und fand dort den schlafenden Dachs.

»Ist die Welt oben zu eng für dich, lieber Nachbar, warum hausest du unter der Erde?« staunte der Fuchs. »Ja, ja, Füchslein«, stöhnte der Dachs, »du hast ganz recht - zu eng ist's oben! Müßt' ich nicht Futter suchen, würd' ich auch nachts nicht hinauskriechen!«



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Und der Dachs erzählte dem Fuchs, warum es ihm auf der Erde zu eng war. >O weh<, überlegte der Fuchs, >wenn es der Bär schon auf den Dachsschwanz abgesehen hat, so ist meiner ja noch tausendmal schöner.<

Und nun suchte sich auch der Fuchs ein Versteck vor dem Bär. Die ganze Nacht rannte er überall herum, aber nirgends fand er einen Unterschlupf. Gegen Morgen grub er schließlich eine Höhle wie der Daths, schlüpfte hinein, deckte sich mit seinem buschigen Schwanz zu und schlummerte süß.

Seit dieser Zeit wohnen der Dachs und der Fuchs in Höhlen, der Bär aber hat bis auf den heutigen Tag keinen ordentlichen Schwanz.


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