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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Rollerbslein

Es war einmal ein Mann, der hatte sechs Söhne und eine Tochter.

Die Söhne gingen auf den Acker pflügen und trugen der Schwester auf, ihnen das Essen zu bringen. Sie fragte:

»Wo werdet ihr pflügen? Ich weiß es nicht.«

Drauf sagten sie ihr:



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»Wir ziehen eine Furche von unserm Haus bis zu jener Breite, wo wir pflügen werden. Geh du nur immer an der Furche entlang.« Und sie zogen los.

Doch nicht weit von jenem Feld hauste im Wald ein Drache. Der schüttete kurzerhand die Furche zu und zog eine andere, geradewegs bis zu seiner Behausung. Als nun das Mädchen ihren Brüdern das Essen hintrug, ging sie an dieser Furche entlang. Und sie ging so lange, bis sie schließlich zum Drachenhof kam. Dort packte sie der Drache.

Abends kehrten die Söhne vom Felde heim und sprachen zur Mutter:

»Wir haben geackert den lieben langen Tag, und du hast uns nicht mal was zu essen geschickt.«

»Wieso denn? Aljonka brachte euch das Essen hin. Ich glaubte, sie käme mit euch zurück. Ob sie sich etwa gar verirrt hat?«

Da sagten die Brüder:

»Wir wollen sie suchen.«

Und sie schritten zu sechst an der Furche entlang, und die führte sie zu jenem Drachenhof, wo ihre Schwester gefangen saß. Sie kamen und schauten -ja, dort war sie.

»Meine lieben Brüderlein, wo soll ich euch verstecken? Sobald der Drache kommt, wird er euch fressen.«

Doch schon kam der Drache angeflogen.

»Fu-fu-fu«, fauchte er. »Es riecht nach Menschenfleisch. He, Burschen, wollt ihr richten oder schlichten?«

»Nein«, riefen die Brüder. »Wir wollen richten.«

»Dann kommt mit auf die Eisentenne.«

Und sie gingen auf die Eisentenne, den Kampf auszutragen. Doch nicht lange rangen sie. Der Drache schlug zu und hieb sie gleich in den eisernen Boden ein. Drauf nahm er die Halbtoten und warf sie in ein tiefes Verlies.

Vater und Mutter warteten zu Haus, sie warteten tagaus, tagein, aber vergeblich, die Söhne kehrten nicht heim.

Ging einst die Frau zum Fluß Wäsche spülen. Schaut sie und sieht — kommt doch ein Erbslein den Weg dahergerollt. Sie nahm das Erbslein und verzehrte es. So geschah es, daß ihr ein Sohn geboren ward; und sie nannten ihn Rollerbslein.



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Der Sohn wuchs heran, wurde groß, immer größer, obgleich er an Jahren noch ein Kind.

Eines Tages machten sich Vater und Sohn daran, einen Brunnen zu graben. Und wie sie so gruben, stießen sie auf einen mächtigen Stein. Der Vater ging Leute rufen, damit sie ihm helfen, den Stein zu heben.

Doch während er fort war, holte Rollerbslein selber den mächtigen Brocken heraus. Die Leute, als sie kamen, rissen vor Staunen die Augen auf. Sie erschraken sehr, weil Rollerbslein solche Kraft besaß, und beschlossen, ihn umzubringen. Er aber warf den Stein in die Luft und fing ihn auf. Als die Leute das sahen, liefen sie Hals über Kopf davon.

Vater und Sohn machten sich neuerlich an die Arbeit. Bald klirrte ihr Spaten an einem großen Stück Eisen. Das klaubte Rollerbslein heraus und versteckte es.

Eines schönen Tages fragte Rollerbslein die Eltern: »Sagt, hatte ich nicht Brüder und eine Schwester?«

»Ach, liebes Söhnchen«, antworteten diese, »du hattest eine Schwester und sechs Brüder, doch es kam so . . .

Und sie erzählten ihm alles.

»Hm«, sagte er. »Ich will sie suchen.«

Die Eltern begannen ihm abzureden:

»Tu das nicht, Söhnlein. Sechs gingen hin und kamen nicht wieder.

Du allein wirst gewiß dein Leben lassen.«

»Nein, ich gehe. Wie denn anders? Ich muß mein eigen Fleisch und Blut befreien.«

Er nahm das Eisen, das er ausgegraben, und trug es zum Schmied. »Mach mir ein Schwert«, sagte er. »Recht groß soll es sein.«

Und der Schmied machte ihm ein Schwert; das war so groß und schwer, daß man es kaum aus der Schmiede tragen konnte. Dies Schwert nun nahm Rollerbslein in die Hand, schwang es und warf's in die Luft. Zum Vater sagte er:

»Ich gehe jetzt schlafen. Weck mich, wenn das Schwert herunterkommt, in zwölf Tagen.«

Und er legte sich aufs Ohr. Am dreizehnten Tag war ein Sausen in der Luft, da kam das Schwert angeflogen. Der Vater weckte den Sohn. Der sprang auf, streckte die Faust aus, und wie das Schwert



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auf die Faust prallte, zersprang es in zwei Stücke. Sprach der Sohn zum Vater:

»Nein, mit diesem Schwert kann ich meine Geschwister nicht suchen. Ich muß ein anderes haben.«

Und er trug das Schwert in die Schmiede zurück.

»Da, nimm es«, sagte er. »Schmiede es mir neu zurecht, damit es mir gut sei.«

Der Schmied machte ein Schwert, noch besser als das erste. Roherbslein warf auch dieses Schwert in die Luft und legte sich für zwölf Tage schlafen. Am dreizehnten kam das Schwert zurück, es sauste, daß die Erde zitterte. Rollerbslein sprang auf, hielt die Faust hin, das Schwert prallte auf und verbog sich nur ein bißchen.

»Na, das geht an, mit diesem Schwert werde ich meine Brüder und die Schwester suchen. Backe Brot, Mutter, und mach Zwieback, ich gehe fort.«

Und er nahm das Schwert, packte Zwiebacke in den Sack, verabschiedete sich von seinen lieben Eltern und machte sich auf den Weg.

An der Furche ging er entlang, an der alten, die kaum noch sichtbar war, und die führte ihn in den Wald. Lange ging er durch den Wald, lange, bis er an ein großes Anwesen kam. Er trat durchs Tor, trat in die Gemächer; der Drache war fort, nur die Schwester Aljonka war da.

»Guten Tag, schönes Mädchen«, sprach Rollerbslein.

»Guten Tag, wackrer Jüngling. Was suchst du hier? Wenn der Drache kommt, frißt er dich.«

Und Rollerbslein antwortete:

»Vielleicht auch nicht. Wer bist du?«

»War die einzige Tochter meiner Eltern, doch der Drache raubte mich. Meine sechs Brüder wollten mich befreien, doch sie befreiten mich nicht.«

»Wo sind deine Brüder?«

»Im tiefen Verhies, weiß nicht, ob sie noch leben.«

»So werd' ich dich befreien«, sprach Rollerbslein.

»Wo denkst du hin! Sechs konnten es nicht, und du bist allein.«

»Macht nichts«, erwiderte Rollerbslein.

Er setzte sich ans Fenster und wartete.



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Gerade um diese Zeit kam der Drache angeflogen. Wie der Wind fuhr er ins Haus und schnüffelte mit der Nase.

»Hm, hm, hier riecht's nach Menschenfleisch.«

»Gewiß«, erwiderte Rollerbslein, »denn ich bin hier.«

»Oho, Bursche! Was ist dein Begehr - richten oder schlichten?«

»Schlichten? So siehst du aus! Richten!«sprach Rollerbslein.

»Dann komm mit auf die Eisentenne.«

»Schön.«

Und sie gingen. Der Drache sprach:

»Du hast den ersten Schlag.«

»Nein«, erwiderte Rollerbslein. »Fang du an.«

Der Drache schlug zu, bis zum Fußgelenk schlug er Rollerbslein in den eisernen Boden ein. Der zog die Füße heraus, schwang sein Schwert und ließ es auf den Drachen niedersausen. Bis ans Knie sank der Drache ein. Doch er riß sich los, schlug abermals zu und trieb Rollerbslein ebenfalls bis an die Knie in den Boden. Rollerbslein hieb zum andernmal, schlug den Drachen bis an die Hüfte in die Eisentenne, und als er zum drittenmal zuschlug, gab der Drache seinen Geist auf.

Da ging er in den Keller, ins finstere Verlies, öffnete Riegel und Schloß und ließ die Brüder heraus, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Er nahm sie mit, auch sein Schwesterlein Aljonka nebst dem ganzen Gold und Silber des Drachen, und sie zogen zusammen nach Haus.

Während sie so ihres Weges gingen, verriet jedoch Rollerbslein nicht, daß er ihr Bruder war. Ober kurz oder lang machten sie unter einem jungen Eichenbaum Rast. Rollerbslein müde vom Kampf, war bald in tiefen Schlaf gesunken. Die sechs Brüder aber hielten Rat: »Die Leute werden uns ja auslachen. Zu sechs sind wir mit dem Drachen nicht fertiggeworden, und er allein hat ihn getötet. Und die ganzen Schätze des Drachen wird er auch behalten.«

Sie berieten lange, und dann beschlossen sie: Er schläft und merkt nichts, wir werden ihn mit Bast fest an die Eiche binden, da kann er sich nicht losmachen. Die wilden Tiere werden ihn zerreißen. Gesagt, getan, sie banden ihn an die Eiche und schlichen sich davon. Rollerbslein aber schlief und merkte nichts. Er schlief einen Tag, eine Nacht, und als er erwachte, sah er, daß er angebunden war. Da



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ruckte er, und er ruckte so gewaltig, daß die Eiche samt der Wurzel aus dem Boden sprang. Den Baum lud er auf die Schulter und wanderte heimwärts. Bald kam er zu dem Häuschen seiner Eltern. Schon von weitem hörte er, daß die Brüder da waren. Sie fragten die Mutter:

»Sagt, Mütterchen, hattet ihr noch Kinder?«

»Gewiß doch! Einen Sohn hatte ich, Rollerbslein hieß er und zog aus, um euch zu befreien.« Darauf einer der Brüder:

»Ach, das war sicher der, den wir angebunden haben. Wir werden ihn losbinden.«

Vor Zorn ließ Rollerbslein den Eichenstamm auf das Dach niederkrachen, es fehlte nicht viel und das Haus wäre eingestürzt. »Bleibt hier, wenn ihr so schlechte Kerle seid!«sprach er. »Ich aber ziehe in die Welt hinaus.«

Warf sein Schwert über die Schulter und schritt von dannen. Und wie er so seines Weges dahinwandert, sieht er: Da steht ein Berg, dort steht ein Berg, und in der Mitte liegt ein Mann, der sie mit Händen und Füßen auseinanderstemmt.

»Schön guten Tag«, sagte Rollerbslein.

»Schön guten Tag.«

»Was machst du denn, guter Mann?«

»Ich schiebe die Berge auseinander, damit man hindurch kann.«

»Und wohin gehst du?«

»Mein Glück suchen.«

»Das gleiche tue ich. Wie heißt du?«

»Schiebeberg. Und du?«

»Rollerbslein. Laß uns zusammen weiterziehen.«

»Ist recht.«

Und sie gingen weiter, lange, lange . . . Plötzlich sahen sie einen

Mann im Walde stehen, und jedesmal, wenn er den Arm schwenkte, fielen die Eichen mitsamt der Wurzel um.

»Schön guten Tag.«

»Schön guten Tag.«

»Was machst du, guter Mann?«

»Ich reiße Bäume aus, damit man besser durch den Wald gehen kann.«



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»Und wohin gehst du?«

»Mein Glück suchen.«

»Wir tun das gleiche. Wie heißt du?«

»Dreheiche. Und ihr?«

»Rollerbslein und Schiebeberg. Komm mit.«

»Ist recht.«

Und sie wanderten zu dritt weiter, lange, sehr lange . . . Plötzlich sahen sie - steht doch ein Mann im Fluß, hat einen mächtigen Schnurrbart, den zwirbelt er, und davon tritt das Wasser zurück, so daß man trockenen Fußes über den Grund gehen kann. Sie begrüßten ihn:

»Schön guten Tag.«

»Schön guten Tag.«

»Was machst du, guter Mann?«

»Ich halte das Wasser auf, damit man über den Fluß kommt.«

»Und wohin gehst du?«

»Ich suche mein Glück!«

»Wir tun das gleiche. Wie heißt du?«

»Krutius. Und ihr?«

»Rollerbslein, Schiebeberg und Dreheiche. Komm mit.«

»Ist recht.«

Und sie wanderten weiter, es war eine Lust. Wo ein Berg war, schob ihn Schiebeberg fort, wo ein Wald, riß Dreheiche die Bäume aus, und wo ein Fluß, hielt Krutius das Wasser zurück.

Schließlich kamen sie in einen dunklen Wald. Dort stand ein Häuschen. Sie traten ein, doch es war leer. Rollerbslein sagte:

»Hier wollen wir übernachten.«

Und so taten sie. Am anderen Morgen in der Früh sprach Rollerbslein:

»Bleib hier, Schiebeberg, und mach das Mittagessen, wir drei gehen auf die Jagd.«

Und sie gingen fort. Schiebeberg aber kochte und briet, dann legte er sich schlafen. Plötzlich klopfte es an der Tür:

»Mach auf!«

»Seid kein großer Herr, könnt wohl selbst aufsperren«, antwortete Schiebeberg.



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Die Tür sprang auf und jemand rief:

»Heb mich über die Schwelle!«

»Seid kein großes Tier, kommt wohl selbst allhier!« Und da sah er -kommt doch ein winziges altes Großväterchen über die Schwelle gekrochen, mit einem Bart, der ellenlang hinterherschleift. Das Männlein nahm Schiebeberg beim Schopf und hängte ihn flugs an einen Nagel an der Wand. Alles aber, was Schiebeberg gekocht und gebraten hatte, aß es auf, schnitt noch zu guter Letzt aus Schiebebergs Rücken einen Riemen Haut und machte sich aus dem Staub. Schiebeberg zappelte und machte sich mit Müh und Not frei, wobei er einen Busch Haare aus seinem Schopf riß. Schnell begann er von neuem zu kochen. Die Freunde kamen, er aber stand noch am Herd.

»Warum ist das Essen nicht fertig?«

»Ich hab' ein bißchen geduselt.«

Sie aßen und legten sich schlafen. Am anderen Morgen standen sie auf. Rollerbslein sagte:

»So, Dreheiche, heut bleibst du zu Haus, und wir gehen auf die Jagd.«

Und sie gingen fort. Dreheiche kochte und briet und legte sich sodann aufs Ohr. Da klopfte jemand an die Tür.

»Mach auf!«

»Seid kein großer Herr, könnt wohl selbst aufsperren.«

»Heb mich über die Schwelle.«

»Seid kein großes Tier, kommt wohl selbst allhier.«

Und wieder kam das alte Männlein hereingekrochen, und sein Bart schleifte ellenlang hinternach. Packt den Dreheiche beim Schopf, hängt ihn an den Nagel, ißt und trinkt, was gebraten und gesotten war, schneidet einen Riemen Haut aus Dreheiches Rücken und macht sich aus dem Staub. Dreheiche zappelte aus Leibeskräften und hatte seine liebe Not, bis er vom Nagel loskam. Schnell begann er neues Essen zu kochen.

Die Freunde kamen heim.

»Warum bist du mit dem Mittagessen nicht fertig?«

»Ich habe gedöst«, sagte er. »Ein bißchen.«

Schiebeberg aber hielt schön den Mund, er erriet, was sich zugetragen hatte.



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Am nächsten Tag blieb Kurtius zu Haus, und auch mit ihm wiederholte sich dieselbe Geschichte. Da sagte Rollerbslein:

»Ihr seid faul und saumselig. Morgen geht ihr auf die Jagd, und ich bleibe zu Haus.«

Und so machten sie es. Die drei gingen auf die Jagd, und Rollerbslein hütete das Haus.

Bald war das Essen fertig, und er legte sich aufs Ohr. Da klopfte es an die Tür: »Mach auf!«

»Wart einen Augenblick, ich mache auf«, erwiderte Rollerbslein. Er sperrte auf. Vor der Tür stand ein altes Hutzelmännchen, und sein ellenlanger Bart schleifte hinter ihm her.

»Heb mich über die Schwelle.«

Rollerbslein tat, wie ihm geheißen. Doch der Alte ließ ihn nicht in Ruhe.

»Was willst du?«fragte Rollerbslein.

»Das wirst du gleich sehen«, versetzte der Alte und streckte die Hand nach Rollerbsleins Schopf aus. Doch eh' er noch zugreifen konnte, rief Rollerbslein:

»Wer bist du?« Und schon hatte er ihn am Bart gepackt.

Er nahm die Axt, schleppte den Alten zu einer Eiche, die spaltete er und klemmte den Bart in die Kerbe.

»Wenn du so einer bist, daß du es auf meinen Schopf abgesehen hast, dann sitz hier, solang es mir gefällt.« Und er ging ins Haus zurück, denn die Freunde waren schon von der Jagd gekommen.

»Ist das Essen fertig?«

»Schon lange.«

Sie aßen. Dann sagte Rollerbslein:

»Kommt mit, ich will euch ein merkwürdiges Ding zeigen.«

Sie gingen zur Eiche, doch sie fanden weder die Eiche noch den Alten. Der hatte den Baum ausgerissen und mitgezogen. Rollerbslein erzählte nun, was ihm widerfahren, und die Freunde gestanden auch, was mit ihnen geschehen war-daß der Alte sie am Schopf aufgehängt und Riemen aus ihrer Haut geschnitten hatte.

»He«, sagte Rollerbslein, »so einer ist er! Dann gehen wir ihn suchen.«

Wo der Alte den Baum geschleift hatte, war das Gras zerdrückt. Dieser Spur gingen sie nach.



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Nach langer Zeit gelangten sie zu einer Grube, die war so tief, daß der Boden nicht zu sehen war. Rollerbslein sagte:

»Kriech hinein, Schiebeberg!«

»Ach, hol ihn der Teufel.«

»Und du, Dreheiche?«

Aber Dreheiche und Krutius hatten ebenfalls keine Lust.

»Na, dann steig ich eben selber hinab«, sprach Rollerbslein. »Wir wollen nun Stricke drehen.« Sie drehten Stricke. Rollerbslein schlang das eine Ende um seinen Arm und sagte:

»Laßt mich hinab.«

Sie ließen ihn an dem Strick hinab, lange, sehr lange. Schließlich erreichte er aber doch den Boden der Grube, das war schon in jener Welt.

Und so spazierte denn Rollerbslein dort herum, plötzlich sah er einen herrlichen Palast stehen. Der blitzte und funkelte von Gold und Edelsteinen. Rollerbslein trat ein. Und wie er so durch die Gemächer wandelte, kam eine Prinzessin auf ihn zugelaufen und war so wunderschön, daß man's nicht im Märchen erzählen noch mit der Feder beschreiben kann.

»Ach, guter Mann«, sagte sie. »Warum bist du bloß hergekommen?«

»Ich heiße Rollerbslein«, entgegnete er darauf, »und suche einen kleinen alten Mann mit langem Bart.«

»Oh«, sagte sie, »der Alte zieht gerade seinen Bart aus der Kerbe im Eichbaum. Geh nicht zu ihm, er tötet dich. Er hat schon viele Menschen umgebracht.«

»Mich tötet er nicht«, erwiderte Rollerbslein. »Ich habe ihm den Bart eingeklemmt. Was machst du hier?«

»Ich bin eine Prinzessin, der Alte hat mich geraubt und hält mich hier gefangen.«

»So werde ich dich befreien. Führe mich zu ihm.«

Und sie führte ihn hin. Saß doch wirklich der Alte da und hatte schon den ganzen Bart aus der Kerbe gezogen. Wie er Rollerbslein sah, brüllte er:

»Was willst du hier. Richten oder schlichten?«

»Nein, schlichten will ich nicht, ich will mit dir kämpfen.«



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Und sie begannen den Kampf. Lange schlugen sie sich, sehr lange, schließlich tötete Rollerbslein den Alten mit seinem Schwert. Darauf packten er und die Prinzessin all das Gold und die Edelsteine in drei Säcke und gingen zu der Grube, durch die er herabgestiegen war.

Als sie hinkamen, rief er:

»He, Brüder, seid ihr noch da?«

»Ja, wir sind hier.«

Da band er den einen Sack an den Strick und ließ ihn hochziehen.

»Der ist euer!«

Sie zogen ihn herauf und warfen den Strick abermals herab. Er band den zweiten Sack an.

»Der ist auch euer.«

Auch den dritten Sack schenkte er ihnen, alles, was er erbeutet hatte.

Doch dann band er die Prinzessin an und rief:

»Das gehört mir!«

Und die drei zogen die Prinzessin aus der Grube. Nun mußten sie Rollerbslein emporziehen. Da überlegten sie: »Wozu sollen wir ihn heraufziehen? Lieber behalten wir die Prinzessin auch für uns. Wir werden ein bißchen ziehen und dann loslassen, so stürzt er ab und zerschlägt sich alle Knochen.«

Rollerbslein aber ahnte, was sie im Schilde führten. Er nahm einen großen Stein, band ihn an den Strick und rief:

»Holt mich 'rauf!«

Sie zogen ihn fast bis oben, aber dann ließen sie los, der Stein fiel krachend in die Tiefe.

»Na so was«, sagte Rollerbslein. »Soll es so sein?«

Und er machte sich in jener Welt auf die Wanderung. Er ging lange, sehr lange, doch da ballten sich Wolken am Himmel zusammen, und ein starker Regen, vermischt mit Hagel, prasselte hernieder. Rollerbslein stellte sich unter eine Eiche. Plötzlich hörte er, wie auf der Eiche ein paar Adlerjunge in ihrem Nest piepsten. Er stieg auf den Baum und deckte die Jungen mit seinem Mantel zu. Es regnete weiter. Da kam ein großer Vogel geflogen, es war der Adler, der Vater der Kleinen. Er sah, daß die Kinderchen zugedeckt waren, und fragte:

»Wer hat euch zugedeckt?«

Und die Kinder gaben zur Antwort:



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»Friß ihn nicht auf, so sagen wir's.«

»Nein, ich fresse ihn nicht.«

»Dort sitzt ein Mann unterm Baum, der hat uns zugedeckt.«

Der Adler flog zu Rollerbslein und sprach:

»Sag mir, was du wünscht, ich gebe dir alles. Zum erstenmal sind meine Jungen lebendig geblieben. Immer, wenn ich wegfliege, fängt ein furchtbarer Regen an, und sie ersaufen im Nest.«

»Trag mich in die obere Welt«, bat Rollerbslein.

»Da hast du mir aber eine schwere Aufgabe gegeben! Nichts zu machen, ich werde fliegen müssen. Wir nehmen sechs Fäßchen Fleisch und sechs Fäßchen Wasser mit. Wenn ich den Kopf im Flug nach rechts drehe, wirfst du mir ein Stück Fleisch in den Schnabel, wenn ich ihn nach links drehe, gibst du mir ein bißchen Wasser. Sonst halte ich nicht aus und falle hinunter.«

Sie nahmen sechs Fäßchen Fleisch und sechs Fäßchen Wasser. Rollerbslein setzte sich auf den Rücken des Adlers, und sie flogen los. Lange flogen sie, sehr lange. Der Adler drehte den Kopf nach rechts, und Rollerbslein warf ihm ein Stück Fleisch zu, er drehte ihn nach links, und Rollerbslein gab ihm Wasser zu trinken. Sie waren schon beinah am Ziel. Da drehte der Adler wieder den Kopf nach rechts, doch in dem Fäßlein war kein Fleisch mehr. Rollerbslein schnitt ein Stück aus seinem Bein und warf es dem Adler in den Schnabel. Oben angekommen, fragte der Adler:

»Was war das für ein leckrer Happen?«

Rollerbslein wies auf sein Bein:

»Da hab' ich's hergenommen.«

Da spie der Adler das Fleisch aus, flog fort und kam mit heilendem Wasser zurück. Er legte das Stück ans Bein, tröpfelte das Wasser darauf, und es wuchs wieder an.

So getan, flog der Adler nach Hause, Rollerbslein aber machte sich auf die Suche nach seinen Gefährten. Die waren bereits beim Vater der Prinzessin zu Besuch und zankten sich in einem fort, weil jeder von ihnen die Prinzessin heimführen wollte. Sie konnten sich gar nicht einig werden.

Als plötzlich Rollerbslein auftauchte, erschraken sie sehr, denn sie dachten, er werde sie töten.

Er aber sprach:



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»Meine leiblichen Brüder haben mich verraten, was soll ich von euch verlangen. Ich muß euch verzeihen.« Und er verzieh ihnen. Dann heiratete er die Prinzessin, und sie leben herrlich und in Freuden.


Copyright: arpa, 2015.

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