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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Verfolgte Unschuld

Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie hatten zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, mit denen sie froh und zufrieden lebten.

Da starb eines Tages der Vater, und bald darauf folgte ihm die Mutter im Tode nach. Die zwei Geschwister blieben allein als Waisen auf der Erde zurück; doch sie liebten sich innig, lebten einträchtig miteinander, und eines tat dem andern so viel Liebes, als es nur konnte. Als sie erwachsen waren, sagte der Bruder zu seiner Schwester: »Was meinst du, Schwesterchen, wäre es nicht gut und klug, wenn ich heiraten würde? Du hättest dann weniger Arbeit und überdies eine fröhliche Freundin im Haus.«

»Ja, heirate, mein lieber Bruder«, antwortete die Schwester, »ich werde deiner Frau eine gute Freundin sein.« Darauf schickte der Bruder seine Werber aus; die brachten ihm bald ein Mädchen, mit dem er Hochzeit feierte, und nun lebten die drei miteinander. Er liebte sie beide gleich zärtlich; doch nach einiger Zeit wurde seine Frau auf die Schwester eifersüchtig.

Sie begann sie zu hassen, obgleich die Schwester sich redlich mühte, die Liebe der Frau ihres Bruders zu gewinnen und Nächte hindurch für sie arbeitete.

Die Frau verleumdete das Mädchen, erzählte ihrem Mann, seine Schwester sei faul und unordentlich, doch der Bruder glaubte ihr nicht. Nun mußte er einmal eine weite Reise tun. Als er fort war, hackte die Frau seinen Jagdhunden die Pfoten ab, und bei seiner Heimkehr lief sie ihm sogleich entgegen und rief: »Da, sieh nur mal an, was du für eine liebe Schwester hast! Während du fort warst, hackte sie den Jagdhunden die Pfoten ab.«

»Das ist doch nicht gar so schlimm; meine Schwester gilt mir mehr als meine Hunde«, antwortete er.

Der Schwester gegenüber erwähnte er den Vorfall mit keinem Wort. Doch nach einiger Zeit mußte er wieder verreisen, und diesmal hieb die Frau seinem besten Pferd mit einem Säbel die Beine ab.

Als er zurückkehrte, lief sie ihm wieder entgegen: »Du hast wirklich eine liebe Schwester! Nun hat sie deinem Lieblingspferd die Beine abgeschlagen!«



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»Ach, das ist doch nicht gar so schlimm. Meine Schwester ist mir teurer als das Pferd«, erwiderte der Mann. Mit seiner Schwester sprach er darüber wieder kein Wort.

Und er mußte ein drittes Mal verreisen.

Während er fort war, steckte die Frau sein Haus in Brand, so daß er um seine ganze Habe kam, so verblendet war sie in ihrem Haß gegen die Schwester ihres Mannes. Nachdem sie das getan, sandte sie ihrem Manne einen Boten nach und ließ ihn zurückrufen. Höhnisch sprach sie zu ihm: »Du wolltest mir nicht glauben, als ich dir sagte, was für eine liebe Schwester du hast. Jetzt hat sie dich völlig zugrunde gerichtet.«

Da wurde der Bruder furchtbar zornig.

Seine Schwester hörte nicht auf, ihre Unschuld zu beteuern; sie schwur und schluchzte, doch es war alles vergebens; er glaubte ihr nicht.

»Wer anders kann das Feuer gelegt haben als du? Oder willst du sagen, daß meine Frau sich selber ins Elend bringen will?«

Und ohne auf ihre Bitten und Beschwörungen zu hören, übergab er sie dem Gericht. Die Richter berieten lange, was für eine Strafe das Mädchen verdiente.

»Stecken wir sie ihr Leben lang ins Gefängnis«, sagte der eine. »Sie soll für ihre Tat den Tod erleiden«, der andere.

Doch der dritte sprach: »Schmieden wir ihr die verruchten Hände, mit denen sie die Tat beging, auf dem Rücken zusammen und lassen wir sie dann frei.«

So geschah es. Dem armen Mädchen wurden ihre weißen Hände auf den Rücken gelegt, ein eisernes Band wurde darübergeschoben und unlösbar zusammengeschweißt.

Dann jagte man sie in die weite kalte Welt hinaus.

Das arme, unschuldige Mädchen irrte durch die Steppen und Wälder, bis ihre Kräfte sie verließen.

Endlich, nach langem Umherirren, kam sie zu einem großen Garten. Sie schritt durch das offene Tor und erblickte darinnen einen schönen Apfelbaum mit goldenen Früchten. Einer der goldenen Apfel hing ganz niedrig, und da das Mädchen von all dem Leiden und der langen Wanderung sehr hungrig war, pflückte sie ihn mit dem Munde und aß die Frucht.



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Nachdem sie geruht hatte, ging sie einige Schritte weiter, bis sie zu einem Brunnen kam. Als sie sich darüberbeugte, um zu trinken, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte hinein.

Es war aber ein Zauberbrunnen, in den das Mädchen gefallen war, und kaum war sie in dem Wasser, da fielen die Bande von ihr ab und ihre Wunden waren geheilt. Sie kletterte aus dem Brunnen und ging in dem schönen Garten spazieren.

Da sah sie einen ganz wunderschönen Prinzen des Weges kommen; der schritt gerade auf den Apfelbaum zu. Als er bemerkte, daß einer der goldenen Äpfel fehlte, fragte er:

»Wer hat mir meinen goldenen Apfel gestohlen?«

Das Mädchen hatte sich im Gebüsch verborgen gehalten; nun trat es hervor und sagte: »Ich aß deinen goldenen Apfel.«

Da fragte der Prinz: »Wer bist du und wie kommst du hierher?« Da erzählte ihm das Mädchen ihre traurigen Erlebnisse. Während sie sprach, blickte sie der Prinz unverwandt an. Er war entzückt von ihrer Schönheit und Lieblichkeit, und es schien ihm, als sei der ganze Garten in ein helleres und schöneres Licht getaucht, seit sie ihn betreten hatte. »Mädchen«, sagte er schließlich, »willst du meine geliebte Frau werden?«

Beglückt von seiner Güte, willigte sie freudig ein.

Bald darauf feierten sie Hochzeit und lebten ein volles Jahr in Freude und Herrlichkeit.

Da mußte der Prinz einmal in ein fernes, fremdes Land reisen. Während er fort war, gebar seine Frau einen Sohn, der war wunderschön, und auf seiner Stirn erstrahlte ein funkelnder Stern.

Die Mutter war unsagbar glücklich; sofort sandte sie ihrem Gemahl einen Brief nach und schrieb darin:

»Ich bekam einen schönen, herrlichen Sohn, der auf der Stirn einen strahlenden Stern trägt.«

Der Bote mußte unterwegs übernachten. Er war aber zur Hütte des Bruders gekommen, und auf Befragen erzählte er der Frau seinen Auftrag, woher er komme und wohin er gehe.

Da erkannte sie, daß die Gemahlin des Prinzen niemand anders als die Schwester war, und während der Bote schlief, nahm sie ihm seinen Brief und vertauschte ihn mit einem anderen, worin sie schrieb: »Ich bekam einen Sohn mit einem Hundekopf.«



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Am nächsten Morgen reiste der Bote weiter und überbrachte dem Prinzen diesen gefälschten Brief.

Als der Prinz ihn gelesen hatte, packte ihn der Zorn und er schrieb als Antwort:

»Ich befehle, die Mutter samt dem Neugeborenen davonzujagen.« Als die Ältesten des Landes diesen Befehl lasen, schüttelten sie die Köpfe, doch sie mußten ihre Pflicht tun und gehorchen.

So wurde die arme Frau mit ihrem unschuldigen Kinde verstoßen. Die Unglückliche mußte wiederum hinausziehen in die weite Welt. Lange Zeit verdiente sie durch ihrer Hände Arbeit ihr Brot bei fremden Menschen.

Ihr Sohn wuchs indessen fröhlich heran, er war voller Übermut und Heiterkeit.

Der Prinz jedoch hatte nach seiner Rückkehr erfahren, daß sein Sohn gar keinen Hundekopf hätte, sondern vor andern durch einen strahlenden Stern auf der Stirn ausgezeichnet war.

Fortan dachte er an nichts anderes mehr als an seine verstoßene Frau, und er fuhr durch die ganze Welt, um sie zu suchen.

Lange reiste er traurig durch die Lande; von seiner Frau aber war keine Spur zu entdecken. Schließlich kam er auch in das Dorf, wo sie lebte. Er

war müde, wollte ein wenig ruhen und setzte sich in den Schatten einer Hütte. Auf der Dorfstraße tollte eine Schar Knaben umher. Er sah ihnen zu, und einer darunter, ein besonders schöner Junge, fiel ihm auf. Auch der Knabe starrte den Prinzen verwundert an.

Endlich rief er ihn zu sich und fragte ihn:

»Wie heißt dein Vater?«

»Mein Vater ist ein Prinz«, antwortete der Knabe.

»So, etwas anderes weißt du mir nicht aufzubinden? Wo wohnt denn dieser Prinz?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte das Kind, »denn mein Vater hat meine Mutter verstoßen als ich noch ganz klein war.«

»Wie heißt deine Mutter?«

Der Knabe erzählte nun alles, was er gehört hatte: daß man seiner Mutter die Hände auf den Rücken geschmiedet, daß der Prinz sie geheiratet und sie dann aus dem Schlosse hatte jagen lassen. Hierauf strich der Prinz dem Knaben das Haar aus der Stirn, und



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ein Stern blitzte ihm blendend entgegen. Da rief er: »Führe mich zu deiner Mutter!«

Er erkannte sie sofort, und die beiden feierten ein unbeschreibliches Wiedersehen. Der Prinz nahm sie mit sich in die Heimat, wo sie gleich nach ihrer Ankunft den Boten rufen ließen.

Nun erfuhren sie alles.

Der Prinz befahl, den Bruder und seine Frau vor ihn zu bringen. Sie kamen, und als die Frau die verhaßte Schwägerin in ihrem Glücke sah, wurde sie von Neid und Wut so überwältigt, daß sie sich selbst totete.

Der Bruder aber lebte von Stund an bei seiner Schwester, und sie erkannten dankbar, wie glücklich das Schicksal alles für sie gefügt hatte.


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