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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Das Märchen von der schönen Ajoga

Es war einmal ein Bauer mit Namen La, der lebte mit seiner Frau und seiner wunderschönen Tochter Ajoga im hohen Norden. Alle Leute hatten die schöne Ajoga sehr lieb. Sobald sie des alten La oder seiner Frau ansichtig wurden, sagten sie:

»Was habt ihr doch für eine schöne Tochter! Wir haben eine solche Schönheit noch nie gesehen. Weit und breit ist kein Mädchen, das eurer Ajoga gleicht.«

Als Ajoga die Leute so reden hörte, wurde sie stolz und hoffärtig. Sie betrachtete sich den ganzen Tag über nur noch im Spiegel und konnte sich von ihrem eigenen Anblick gar nicht losreißen. Bald betrachtete sie sich in einer blankgeputzten Kupferschüssel, bald bewunderte sie ihr Spiegelbild im Wasser. Sie tat keine Arbeit mehr, weil sie fürchtete, daß das ihrer Schönheit schaden könnte.

»Faul ist Ajoga geworden«, sagten die Leute.

Der alte Bauer und seine Frau aber mußten alle Arbeit allein besorgen



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und mühten sich vom Morgen bis zum Abend. Einmal sagte die Mutter zu Ajoga:

»Hol mir Wasser, Töchterchen.«

Ajoga aber wollte kein Wasser holen, und so sprachen sie hin und sprachen her.

»Ich will kein Wasser holen, ich könnte in den Fluß fallen, liebe Mutter.«

»Mußt dich am Strauch festhalten, liebes Töchterchen.«

»Der Strauch ist zu schwach, liebe Mutter.«

»Such dir einen starken, liebes Töchterchen.«

»Der zerkratzt mir die Hände, liebe Mutter.«

»Nimm Fausthandschuhe, liebes Töchterchen.«

»Die werden zerreißen, liebes Mütterchen«, antwortete Ajoga, während sie sich wohlgefällig in einer blanken Kupferschüssel betrachtete. >Wie schön bin ich doch, viel zu schön, um Wasser zu holen<, dachte sie.

Und von neuem begann das Hin- und Widerreden.

Die Mutter sagte:

»Wenn der Handschuh ein Loch hat, nimm eine Nadel, liebe Tochter, stopf's zu.«

»Die Nadel wird abbrechen, liebe Mutter.«

»Nimm eine dicke«, sagte der Vater, der dem Streit ein Ende machen wollte.

Ajoga aber redete weiter:

»Da zerstech ich mir die Finger, lieber Vater.«

»Nimm einen Fingerhut aus derbem Leder, liebe Tochter.«

»Der Fingerhut wird zerreißen, lieber Vater«, gab Ajoga zur Antwort. Und sicher wäre das Reden ohne Ende so weitergegangen, wenn nicht auf einmal ein Mädchen, das nebenan wohnte und alles mit anhörte, zu Ajogas Mutter gesagt hätte:

»Komm, laß mich nach Wasser gehen!«

Das Mädchen ging zum Fluß und holte Wasser, soviel wie gebraucht wurde. Die Mutter rührte nun einen Teig an und machte daraus Fladen. Die Fladen wurden auf den glühendheißen Herdsteinen gebacken.

Als Ajoga die Fladen sah, rief sie:

»Gib mir einen Fladen, liebe Mutter!«



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Die Mutter aber wollte der faulen Tochter keinen Fladen geben, und so hub das Reden von neuem an:

»Er ist heiß, liebe Tochter, du wirst dir die Hände verbrennen.«

»Ich zieh mir Fausthandschuhe an, liebe Mutter.«

»Die Fausthandschuhe sind naß, liebe Tochter.«

»Ich werde sie an der Sonne trocknen, liebe Mutter.«

»Sie werden zusammenschrumpfen, liebe Tochter.«

»Ich werde sie tüchtig walken, liebe Mutter.«

»Die Hände werden dir weh tun, liebes Töchterchen. Warum willst du dich mühen und gar deiner Schönheit schaden? Ich gebe den Fladen lieber dem anderen Mädchen, dessen Hände nicht so großer Schonung bedürfen.«

Die Mutter nahm den Fladen und reichte ihn dem fleißigen Mädchen hinüber.

Als Ajoga das sah, wurde sie böse und lief aus dem Hause. Sie rannte zum Fluß und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. Das fleißige Mädchen aber biß in den Fladen und kaute mit Behagen.

Ajoga mußte sich immerzu nach dem kauenden Mädchen umschauen. Ihr Hals wurde lang und immer länger, und das Wasser lief ihr im Munde zusammen.

»Hier, nimm den Fladen!« rief das fleißige Mädchen Ajoga zu. Die aber spie wütend das fleißige Mädchen an, ballte die Fäuste und schlug wild mit den Armen um sich. Da wurden ihre Arme zu Flügeln.

»Ga-ga-gar nichts will ich von dir!« schrie Ajoga. In ihrer wilden Wut achtete sie nicht auf den Uferrand, fiel ins Wasser und wurde zur Gans.

Da schwamm sie nun daher und rief in einem fort:

»Ach, wie bin ich doch schön! Ga-ga-ga.. . Ach, wie bin ich doch schön! Ga-ga-ga!« Sie schwamm hin und schwamm her, sie schwamm so lange, bis sie ihre heimatliche Sprache ganz und gar vergessen hatte. Nur ihren Namen vergaß sie nicht. Jeder sollte wissen, daß sie die schöne Ajoga war.

Und so ruft die Schöne bis auf den heutigen Tag, sobald sie eines Menschen ansichtig wird:

»Ajo-ga-ga-ga! . . . Ajo-ga-ga-ga!«


Copyright: arpa, 2015.

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