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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Das kluge Mädchen

Einst fuhr ein Bauer vom Markt nach Hause. Sein Weg führte ihn durch einen dichten, undurchdringlichen Wald, in dem keine lebende Seele zu erblicken war. Die Nacht brach herein, und es war so finster, daß man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Der Bauer beschloß zu halten und zu übernachten. Er zündete ein Feuer an, spannte sein Pferd aus und ließ es weiden. Dann setzte er sich ans Feuer, briet sich ein Stück Speck und aß es. Als er gegessen hatte, legte er sich hin und schlief sogleich ein, denn er war sehr müde von dem weiten Weg.

Als er am anderen Morgen aufwachte und um sich blickte, wollte



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er seinen Augen nicht trauen: Rings um ihn her war ein großer See, und die Wellen wogten, als wollten sie ihn verschlingen. Der Bauer erschrak und wußte nicht, was er machen sollte.

>Ich bin verloren<, dachte er, >von hier gibt es kein Entrinnen!< Und das Wasser stieg und stieg, und die Wellen schlugen immer höher und höher. Plötzlich erblickte der Bauer ein Boot auf dem Wasser und einen Menschen darin. Da wurde er froh und dachte:

>Das Schicksal will nicht, daß ich hier umkomme!<und rief aus Leibeskräften dem Manne im Boot zu: »He! Guter Mann! Führe dein Boot zu mir, sonst muß ich ertrinken!«

Der Mann steuerte sein Boot auf den Bauern zu, doch nicht so dicht heran, daß er es hätte erreichen können.

»Rette mich, Bruder!« bat ihn der Bauer. »Dann gebe ich dir alles, was du willst!«

»Gut!« sagte der Mann im Boot. »Ich will dich retten. Doch nicht umsonst: Gib mir das, was du zu Hause hast und von dem du nicht weißt, daß du es hast!«

Der Bauer dachte lange nach: >Was kann das schon sein, was ich zu Hause habe und von dem ich nichts weiß? So etwas gibt es nicht. Ach, mag kommen, was will, zum Handeln ist jetzt keine Zeit. Ich muß mich fügen.<

»Gut!« sagte er. »Ich gebe dir, was ich zu Hause habe und von dem ich nicht weiß, daß ich es habe. Nur rette mich!«

»Deine Worte allein genügen mir nicht, du könntest später dein Versprechen ableugnen.« »Was soll ich denn tun?«

»Nimm dort von jener Birke ein Stück Rinde, ritze dich in den kleinen Finger und schreibe mir das Versprechen mit deinem Blute auf die Birkenrinde, dann will ich dir glauben.«

Der Bauer tat, wie ihm geheißen, schrieb mit seinem Blute das Versprechen auf das Stück Birkenrinde und warf es in das Boot. Der Mann im Boot nahm die Birkenrinde, lachte höhnisch, und im gleichen Augenblick verschwand das Wasser, als wäre es nie gewesen. Auch der Mann im Boot war verschwunden. Da ahnte der Bauer, daß es kein anderer als der Teufel selber gewesen war. Aber was sollte er tun? Er holte sein Pferd, schirrte es an und fuhr nach Hause.



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Unterwegs wurde ihm derart weh ums Herz und so traurig zumute, daß er zu sterben vermeinte. Er trieb das Pferd zur Eile an, um nur recht schnell nach Hause zu kommen. Als er in seine Hütte trat, ging es da gar lustig zu. Die Stube war voller Gäste, nur seine Frau saß nicht beim Tisch.

»Guten Tag«, sagte der Bauer, »was gibt es denn Neues?«

»Oh, wir haben eine gute Neuigkeit! Deine Frau hat einen Sohn geboren, einen schönen, kräftigen Jungen. Komm und sieh ihn dir an!«

Als der Bauer das hörte, wurde ihm schwarz vor den Augen. Sein ganzes Leben lang war er kinderlos geblieben, und als ihm endlich ein Sohn geboren wurde, hatte er ihn dem Leibhaftigen verschrieben.

Die Gäste blickten auf den Bauern und konnten nicht begreifen, was mit ihm vorging.

»Sicherlich hat er vor Freude den Verstand verloren«, sagten sie. Der Junge bekam den Namen Juri; er wuchs nicht nach Tagen, sondern nach Stunden und wurde ein schöner und stattlicher Bursche. Da schickten ihn seine Eltern zum Lernen, und er war so klug und so geschickt, daß keiner es ihm gleichtun konnte. Wenn ihn die Leute sahen, freuten sie sich an seinem Anblick und beneideten die Eltern um ihren Sohn. Nur der Vater wurde immer finsterer und trauriger. Jun dachte sich, daß ihn etwas bedrückte, drum fragte er ihn eines Tages:

»Sage doch, lieber Vater, bist du mit mir unzufrieden, daß du mich immer so traurig anblickst? Hast du mich nicht mehr lieb, oder habe ich vielleicht etwas Böses getan, wovon ich nichts weiß?« Der Vater seufzte tief und blickte den Sohn traurig an. »Nein, mein Sohn, ich liebe dich über alles, und auch Böses hast du nicht getan, nur-ich habe dich dem Bösen verschrieben, als du noch nicht geboren warst.«

Und er erzählte ihm, wie es dazu gekommen war.

»Wenn es so ist, Vater, dann lebe wohl«, sagte Jun. »Ich muß nun gehen. Ich weiß nicht, ob wir uns bald wiedersehen. Entweder ich verliere meinen Kopf oder ich löse dein Versprechen.«

Jun nahm einen Kanten Brot und ein Stück Speck und stahl sich heimlich nachts aus dem Haus, um seinen Eltern durch den Abschied



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das Herz nicht schwerzumachen. Er verließ das Haus, ging durch Tannen- und Fichtenwälder und durch Sümpfe, bis er zu einer Hütte kam. Er trat ein. In der Hütte saß ein uraltes Weiblein.

»Guten Tag, Großmütterchen«, sagte Jun.

»Guten Tag, mein Kind, wohin gehst du?«

Jun erzählte ihr, wohin er gehen wollte. Das Weiblein hörte ihm zu und sagte:

»Gut, mein Kind, daß du zu mir gekommen bist. Spute dich, bringe mir Wasser und hacke mir Holz, ich will Pfannkuchen backen. Wenn ich gebacken habe und du dich sattgegessen hast, werde ich dir sagen, welchen Weg du gehen mußt, allein würdest du ihn nicht so bald finden.« J

uri brachte dem alten Weiblein Wasser und hackte Holz, und das Weiblein backte Pfannkuchen, gab ihm zu essen und sagte ihm, welchen Weg er gehen solle.

»Und wenn du zu dem Bösen kommst, dann suche seine Dienstmagd. Sie wird dir helfen können.«

Jun sagte dem alten Weiblein Lebewohl und setzte seinen Weg fort. Er ging durch dunkle Tannenwälder, durch dichte Fichtenwälder und tiefe Sümpfe.

Ober kurz oder lang kam er zu einem Hof, der war auf Bergen erbaut, groß und fest und ringsherum von einer hohen Mauer umgeben. Jun klopfte an das Tor.

»He! Den Herrn des Hofes will ich sehen!« rief er.

Da erschien der Herr des Hofes in kostbare Gewänder gekleidet, an denen das Gold nur so funkelte.

Es war der Böse selber.

»Was willst du hier?«fragte er.

»Ich suche meinen Herrn«, antwortete Jun. »Mein Vater hat mich ihm versprochen, als ich noch nicht geboren war.«

»Ich bin dein Herr«, sagte der Böse. »Schon wollte ich meine Reiter aussenden, dich zu holen, denn es ist soweit. Du bist groß geworden, und du bist, wie ich sehe, von selber gekommen. So muß es auch sein. Dafür will ich dich loben.«

»Sage mir, Herr, hast du noch das Stück Birkenrinde mit dem Versprechen meines Vaters?«

»Ja, das habe ich. Es ist mit Blut auf Birkenrinde geschrieben. Wenn



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du mir treu dienst, werde ich dich freilassen, und du kannst gehen, wohin du willst. Wenn nicht, so lasse ich dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen! Jetzt antworte mir: Gingst du durch Tannenwälder?«

»Ich ging.«

»Gingst du durch Fichtenwälder?«

»Ich ging.«

»Gingst du durch Sümpfe?«

»Auch durch Sümpfe bin ich gegangen.«

»Bist du zu meinem Hof gekommen?«

»Ich bin gekommen.«

»Dann gebe ich dir jetzt deine Arbeit: In dieser Nacht mußt du alle Bäume in meinem Walde fällen und wegschaffen. Dann muß du den Boden pflügen, eggen und Weizen darauf säen. Und der Weizen soll wachsen und reifen, dann mußt du ihn mähen und dreschen und das Korn mahlen. Und aus dem Mehl mußt du mir Piroggen backen und mir morgen früh zum Frühstück bringen. Wenn du es fertigbringst, bist du frei. Die Arbeit ist leicht!«

Nachdem der Böse das gesagt hatte, lachte er höhnisch. Jun verließ seinen Herrn, ließ den Kopf sinken und wußte nicht, was er tun sollte. Er ging über den Hof und dachte: >Das ist eine schwere Aufgabe! Alles habe ich gelernt, aber wie ich das vollbringen soll, weiß ich nicht. Ich bin verloren!<

J uri begann die Dienstmagd des Herrn auf dem Hofe zu suchen. Er suchte und suchte und geriet dabei bis ans Ende des Hofes. Da sah er eine kleine Hütte stehen. Ein Mädchen guckte aus der Hütte, und Juni fragte:

»Bist du die Dienstmagd des Herrn?«

»Ja, mein Junge. Aber warum bist du so traurig? Was bedrückt dich denn?«

»Wie sollte ich nicht traurig sein?« antwortete Jun. »Der Herr hat mir für diese Nacht eine Arbeit aufgetragen, die ich in einem ganzen Jahr nicht schaffen könnte.«

»Was für eine Arbeit hat er dir denn aufgetragen?«

»Er hat mir befohlen, in einer Nacht alle Bäume in seinem Walde zu fällen und wegzuschaffen, dann den Boden zu pflügen, zu eggen und Weizen zu säen. Und der Weizen soll wachsen und reifen. Dann



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muß ich ihn mähen und dreschen und das Korn mahlen, und aus dem Mehl muß ich ihm Piroggen backen und sie ihm morgen früh zum Frühstück bringen.«

Jun gefiel dem Mädchen. Er dauerte sie, und sie dachte: >Er soll nicht umkommen<, zu ihm aber sagte sie: »Sei nicht traurig, lege dich hin und schlafe, ruhe dich nach dem weiten Wege aus! Ich will dir helfen. Ohne mich könntest du deinen Kopf nicht behalten. Hier sind schon viele Menschen umgekommen.«

»Sage mir«, fragte Juni das Mädchen, »lebst du aus freien Stücken bei deinem Herrn?«

»Nie und nimmer. Ich muß so lange hierbleiben, bis mich jemand liebgewinnt und mich von hier wegführt.«

»Ich werde dich wegführen«, sagte Juni, und sie saßen noch lange beisammen und sprachen miteinander.

»Nun ist es aber Zeit für dich, schlafen zu gehen«, sagte das Mädchen.

J uri legte sich hin und schlief auf der Stelle ein, denn er war sehr müde von all dem Wandern durch Wälder und Sümpfe.

Das Mädchen aber ging um Mitternacht auf die Freitreppe, klatschte dreimal in die Hände, und sofort kamen viele Ungeheuer angeflogen.

»Sei gegrüßt, junge Herrin!«

»Seid gegrüßt, schreckliche Ungeheuer!«

»Weshalb hast du uns gerufen?«

»Arbeiten sollt ihr. Geht hin und fällt alle Bäume im Walde unseres Herrn, schafft sie fort und pflügt den Boden, dann sollt ihr ihn eggen und Weizen säen. Und der Weizen soll in einer Nacht wachsen und reifen, dann müßt ihr ihn mähen und dreschen und das Korn mahlen. Und aus dem Mehl sollt ihr mir Piroggen backen und sie morgen früh zu mir bringen!«

Die Ungeheuer stürzten sich sogleich auf die Arbeit. Die einen fällten Bäume, die anderen schafften sie fort, die einen pflügten und die anderen eggten und säten. Kaum daß sie gesät hatten, begann der Weizen zu wachsen und zu reifen.

Die einen mähten und droschen ihn, und die anderen mahlten das Korn zu Mehl und buken Piroggen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als schon alles fertig war.



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»Hier, junge Herrin, alles ist fertig.«

Das Mädchen nahm die Piroggen und sagte:

»Jetzt könnt ihr euch trollen!«

Und im Nu waren die Ungeheuer verschwunden. Das Mädchen aber ging zu Jun und weckte ihn.

»Nun«, sagte sie, »mein Junge, in der Fremde schläft man nicht so lange. In der Fremde muß man früher aufstehen.«

Jun erwachte, und sein erster Gedanke war: >Sind wohl die Piroggen fertig?<

Die Piroggen aber lagen bereits auf dem Tische, goldgelb und herrlich anzuschauen.

»Nimm die Piroggen und bringe sie dem Herrn!«sagte das Mädchen zu ihm.

Sie legte die Piroggen auf eine Schüssel, deckte ein Tuch darüber und schickte Juni zum Herrn. Der Herr trat aus seinen Gemächern, und Juni verneigte sich vor ihm. »Sei gegrüßt, Herr!«

»Sei gegrüßt, mein Junge! Hast du mein Gebot erfüllt?«

»Ich habe es erfüllt, Herr. Wie du befohlen, habe ich alles getan.«

»Laß sehen!«

Der Herr sah die Piroggen an, beroch sie und war damit zufrieden. Und hast du nicht gesehen, hatte er sie auch schon verschlungen. »Du bist ein wackerer Bursche, Juri«, sagte der Böse. »Arbeiten kannst du, wie ich sehe. Einen Dienst hast du mir geleistet; wenn du noch zwei Aufgaben erfüllst, lasse ich dich zu deinem Vater ziehen. Nun geh! Drei Tage darfst du ruhen, und am vierten kommst du und hörst, was ich dir befehle!«

Als Jun das hörte, wurde er traurig und dachte: >Platzen sollst du, du Teufel! Eine Arbeit wird er mir auftragen, sicher noch schwerer als die erste. Was soll ich nur tun? Meine ganze Hoffnung ist das Mädchen!<

Er verließ den Herrn düster und niedergeschlagen. Da sah ihn das Mädchen und fragte:

»Juri, warum bist du so traurig?«

Und Jun antwortete dem Mädchen:

»Wie sollte ich denn fröhlich sein, wenn mir der Herr noch eine neue Arbeit auftragen will?«

»Sei nicht traurig! Die erste Arbeit haben wir vollbracht, und auch



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die zweite werden wir vollbringen. Wenn die Frist um ist, gehe hin zu dem Herrn und höre, was er dir befiehlt!«

Als die drei Tage verstrichen waren, ging Jun zum Herrn.

»Guten Tag, mein Junge.«

»Guten Tag, Herr.«

»Siehst du mein Schloß?«

»Ich sehe es.«

»Siehst du dort den Berg?«

»Ich sehe ihn.«

»Auf diesem Berg erbaue mir in einer Nacht ein steinernes Schloß, viel schöner als dieses, und in dem Schloß sollen so viele Gemächer sein, wie das Jahr Tage hat. Und die Decke soll klar sein wie der blaue Himmel, und die rote Sonne und der helle Mond und die klaren Sterne sollen von ihr herabblinken. Das Dach des Schlosses aber soll mit Mohn gedeckt sein, und jedes Mohnkörnchen soll mit drei goldenen Nägelchen beschlagen sein. Und um das Schloß herum soll ein Fluß fließen und über den Fluß eine Brücke führen, erst ein goldenes Brettchen, dann ein silbernes Brettchen. Und über diese Brücke soll sich ein Regenbogen spannen, der sich mit beiden Enden aufs Wasser stützt. Mit einem Wort: Das Schloß soll so sein, daß man sich nicht schämt, es anderen Leuten zu zeigen. Wenn du mir ein solches Schloß baust, lasse ich dich zu deinem Vater, wenn nicht, lasse ich dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Bei mir ist es so: Wenn ich gnädig bin, lasse ich Gnade walten, doch wenn ich in Zorn gerate, dann bin ich zornig. Und jetzt geh!«

Jun kam zu dem Mädchen und erzählte ihr, was für eine Arbeit ihm sein Herr aufgetragen habe.

»Tröste dich, es wird alles getan werden. Es wird alles rechtzeitig fertig sein«, sagte das Mädchen. »Und jetzt gehe auf den Berg und tue so, als wolltest du die Stelle aussuchen, auf der das Schloß erbaut werden soll.«

Jun tat, wie ihm geheißen. Er ging rund um den Berg, blickte dahin und blickte dorthin, und am Abend kehrte er in die Hütte zurück und legte sich schlafen.

Um Mitternacht trat das Mädchen auf die Freitreppe und klatschte dreimal in die Hände. Wieder kamen viele Ungeheuer angeflogen. »Sei gegrüßt, junge Herrin!«



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»Seid gegrüßt, schreckliche Ungeheuer!«

»Weshalb hast du uns gerufen?«

»Arbeiten sollt ihr. In dieser Nacht sollt ihr auf diesem Berge ein steinernes Schloß erbauen. Und es soll so viele Gemächer haben, wie das Jahr Tage hat.

Und die Decke soll so klar sein wie der blaue Himmel, und die rote Sonne und der helle Mond und die klaren Sterne sollen von ihr herabblinken. Und das Dach soll mit Mohn gedeckt sein und jedes Mohnkörnchen mit drei goldenen Nägelchen beschlagen sein. Und um dieses Schloß soll ein Fluß fließen, und über diesen Fluß soll eine Brücke führen, erst ein goldenes Brettchen, dann ein silbernes Brettchen, dann wieder ein goldenes Brettchen, und wieder ein silbernes Brettchen. Und über die Brücke soll sich ein Regenbogen spannen, der sich mit beiden Enden aufs Wasser stützt.«

Kaum gesagt, stürzten sich die Ungeheuer auf die Arbeit. Die einen trugen Steine, die anderen mauerten, die einen deckten das Dach und die anderen schlugen die Nägelchen ein.

Am Morgen erschienen sie bei dem Mädchen.

»Seid ihr fertig?«

»Ja, junge Herrin, nur dort an jenem Eckchen haben wir ein Mohnkörnchen statt mit dreien nur mit zwei Goldnägelchen beschlagen.«

»Das ist nicht schlimm, und nun könnt ihr euch trollen!«

Die Ungeheuer verschwanden, das Mädchen aber ging in die Hütte und weckte Jun.

»Steh auf und gehe zu deinem Herrn, es ist alles fertig.«

Jun trat aus der Hütte, erblickte das Schloß und kam aus dem Staunen nicht heraus. Da stand ein Schloß, so hoch wie der Himmel, und über ihm schillerte ein Regenbogen, und die Brücke leuchtete wie Feuer. Er trat in das Schloß, blickte zur Decke empor und mußte geblendet die Augen schließen, so glänzte die rote Sonne, so strahlte der helle Mond und so funkelten die klaren Sterne.

J uri stand auf der Brücke und erwartete seinen Herrn. Bald darauf erschien der Teufel. Er besah sich das Schloß, und es gefiel ihm. »Du bist ein Prachtkerl, Juni«, sagte er, »eine gute Arbeit hast du vollbracht, wenn du die selber getan hast. Du hast dir wirklich viel Mühe gegeben. Jetzt bekommst du noch eine Aufgabe, das ist die letzte.



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Schaffst du sie, kehrst du zu deinem Vater zurück. Schaffst du sie aber nicht, verlierst du deinen Kopf: Ich habe ein gutes Pferd, wie es kein besseres gibt. Es ist aber noch nicht zugeritten. Du sollst es mir zureiten.«

»Gut«, antwortete Jun. »Morgen werde ich es dir zureiten.« Bei sich selbst aber dachte er: >Was kann das schon für eine Arbeit sein. Ich kann jedes Pferd zureiten.«

Er ging in die Hütte, erzählte dem Mädchen alles und sagte: »Das ist eine Arbeit, die ich selber kann.«

»Nein«, antwortete das Mädchen, »im voraus sollst du dich nicht loben. Es wird die schwerste Arbeit sein. Du glaubst wohl, es wird ein richtiges Pferd sein? Nein, es wird der Böse selber sein. Er glaubt dir nicht, daß du den Wald gerodet, den Weizen gesät, die Piroggen gebacken und das Schloß erbaut hast. Er will dich prüfen. Aber sei nicht traurig. Ich werde dir auch dieses Mal helfen.«

Am Morgen sagte das Mädchen zu Juni:

»Es ist Zeit, gehe das Pferd zureiten, nimm aber diese Weidengerte mit. Sobald das Pferd bockt und dich abzuwerfen versucht, schlage es mit dieser Gerte zwischen die Ohren. Es wird sofort still und folgsam werden.«

Juni nahm die Weidengerte und ging ins Schloß.

»Wo ist der Herr?«

»Der Herr ist nicht da«, antworteten die Diener, »er hat dir befohlen, in den Stall zu gehen, das Pferd herauszuführen und es zuzureiten.«

Juni ging in den Stall. Da stand ein Pferd mit einem Fell aus Gold und Silber, die Augen blutunterlaufen, und aus den Nüstern schlugen Flammen, und Rauch quoll aus den Ohren. Es war unmöglich, an das Pferd heranzukommen. Juni hieb mit der Weidengerte durch die Luft, und das Feuer konnte ihm nichts anhaben. Er trat an das Pferd heran. Es bäumte sich auf, sprang bis unter die Decke und ließ ihn nicht aufsitzen, und als es wieherte, erbebte der ganze Stall. Aber Jun schlug ihm mit der Weidengerte zwischen die Ohren, daß es auf die Knie fiel. In diesem Augenblick schwang sich Jun auf den Rücken. Abermals bäumte sich das Pferd auf und hätte fast seinen Reiter abgeworfen. Aber Juni nicht faul, schlug ihm die Gerte zwischen die Ohren. Das Pferd raste unter ihm, aber er schlug es immer wieder.



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Und das Pferd trug ihn fort, und es flog dahin, kaum daß es den Boden berührte, und wollte Jun abwerfen und ihn mit den Hufen zermalmen; aber Jun schlug immer wieder zu und ließ die Zügel nicht locker. Im gestreckten Galopp flog das Pferd über Berge und Sümpfe und durch Wälder, bis es am Ende dermaßen erschöpft war, daß es ganz stille wurde. So kehrten sie ins Schloß zurück.

Jun führte das Pferd in den Stall und schlenderte über den Hof. Die Diener des Herrn wandten sich von ihm ab, und keiner wollte mit ihm reden, denn sie hatten alle Angst, daß sie der Herr sehen und glauben könnte, sie seien mit Jun gut Freund. Jun kehrte in die Hütte zu dem Mädchen zurück und erzählte ihr, wie es gewesen war.

»Du hast ihm aber den Kopf gewaschen, deinem Herrn, und selbst bist du heil zurückgekommen. Iß nun und ruhe dich aus, denn du wirst sicherlich sehr müde sein.«

Am nächsten Tage kam ein Diener zu Juni und rief ihn zu seinem Herrn ins Schloß. Jun ging hin. Der Herr empfing ihn mit verbundenem Kopfe.

»Nun«, sagte er, »kenne ich dich nicht mehr, und du kennst mich nicht mehr. Hier, nimm die Birkenrinde mit dem Versprechen deines Vaters und morgen früh geh weg von hier!«

Juni nahm die Rinde, ging in die Hütte zurück und war guter Dinge. Er erzählte alles dem Mädchen, doch sie sagte zu ihm: »Du freust dich zu früh. Der Böse wird dich niemals lebendig von hier fortlassen; wir dürfen nicht bis morgen warten. Sobald es Mitternacht ist, müssen wir uns auf den Weg machen. Gelingt es uns nicht, zu deinen Eltern zu entkommen, bringt der Herr uns beide um.«

Um Mitternacht machten sie sich auf den Weg. Das Mädchen sagte zu Juri, er möge in jeder Ecke der Hütte ausspeien, darauf verschlossen sie die Tür ganz fest und gingen fort.

Als es Morgen wurde, schickte der Herr einen Diener zu Juni, dem er befahl, zu kommen. Der Diener klopfte ans Fenster.

»Wach auf«, rief er, »es ist schon heller Tag.«

»Ich stehe gleich auf«, antwortete der Speichel.

Die Sonne stand schon ganz hoch, als wieder ein Diener kam.

»Steh auf«, rief er, »es ist schon bald Mittag.«

»Ich ziehe mich an«, antwortete der Speichel?



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Und es wurde Mittag. Wieder kam ein Diener und rief nach Jun.

»Ich wasche mich«, antwortete der Speichel.

Der Herr wurde wütend und schickte wieder nach Jun. Die Diener kamen und riefen nach ihm, aber der Speichel war getrocknet, und niemand antwortete. Da brachen sie die Tür auf, aber sie fanden die Hütte leer. Als sie das dem Herrn berichteten, wurde er fast rasend. Vor Wut rannte er mit dem Kopf gegen die Wand, und die Herrin schrie:

»Er selbst ist gegangen, und unsere Dienstmagd hat er entführt. Schnell, schicke ihnen Reiter nach! Ob tot oder lebendig, sie sollen sie bringen. Ihn mag man töten, aber die Dienstmagd brauche ich, denn ein geschickteres Mädchen finde ich nirgendwo wieder.«

Und die Reiter jagten hinterher, so schnell wie ein Pferd eben laufen kann.

Jun aber und das Mädchen liefen, so schnell sie konnten. Da sagte das Mädchen:

»Lege dein Ohr an die Erde und höre, ob nicht der Eichenwald rauscht und der Weg nicht stöhnt und ob nicht die Reiter hinter uns her sind.«

Jun horchte und sagte:

»Laut rauscht der Eichenwald, der Weg stöhnt.«

»Das ist der Böse, der uns seine Verfolger nachschickt. Wir müssen schneller laufen. Sobald sie uns einholen, verwandle ich mich in eine Schafherde und dich in einen Hirten. Und wenn die Reiter dich fragen, ob du nicht einen Burschen und ein Mädchen hier hast vorbeilaufen sehen, dann sage ihnen: Ich sah sie, als ich noch jung war, als ich Hirte wurde und nur zwei Schäfchen hatte. Doch heute bin ich schon ein alter Mann, und aus den zwei Schäfchen ist eine ganze Herde geworden.«

Und das Mädchen verwandelte sich in eine Schafherde, und Jun wurde ein alter Hirt. Da sprengten auch schon die Reiter heran. »He, Alter!« riefen sie. »Hast du nicht einen Burschen und ein Mädchen hier vorbeilaufen sehen?«

»Das habe ich wohl.«

»Wann hast du sie gesehen?«

»Als ich noch jung war und zwei Lämmer weidete. Aber jetzt bin



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ich schon ein alter Mann und von diesen zwei Lämmern habe ich jetzt schon eine ganze Schafherde.«

»Ho, wie sollen wir sie da einholen?« riefen die Reiter. »Hier sind wohl an die tausend Schafe, wieviel Jahre werden vergangen sein, seit sie hier vorbeigelaufen sind!«

Und die Reiter jagten zurück zu ihrem Herrn. Jun aber und das Mädchen nahmen ihre frühere Gestalt an und liefen weiter. Die Reiter kehrten zurück und sagten ihrem Herrn: »Wir haben niemand gesehen. Vielleicht haben wir die Spur verloren, vielleicht sind wir einen falschen Weg geritten? Wir begegneten nur einem alten Hirten und einer Herde Schafe. Der Hirte sagte uns, daß er seit jungen Jahren dort die Herde weide, aber den Burschen und das Mädchen nicht gesehen hätte.«

»Ach, ihr Dummköpfe!«schrie der Herr. »Das waren sie doch! Ihr hättet den Hirten erschlagen und die Schafe hertreiben sollen. Die Dienstmagd hat sich selbst in die Schafherde und den Burschen in den Hirten verwandelt. Jagt los und holt sie ein!«schrie der Herr. »Erschlägt ihn mit euren Äxten, und die Schafe treibt her!«Und die Reiter jagten wieder los. Jun und sein Mädchen aber waren unterdessen ein gutes Stück weitergelaufen. Sie liefen und liefen. Da sagte das Mädchen zu Juni: »Lege dein Ohr an die Erde und höre, ob nicht der Eichenwald rauscht und der Weg nicht stöhnt und ob nicht die Reiter hinter uns her sind.« Juni horchte und sagte:

»Laut rauscht der Eichenwald, der Weg stöhnt. Die Reiter des Bösen sind hinter uns her.«

Da winkte das Mädchen mit einem Tüchlein und verwandelte sich in einen Garten und Juni in einen alten Gärtner. Die Reiter brausten heran und fragten:

»Großvater, hast du nicht einen Burschen und ein Mädchen hier vorbeilaufen sehen?«

»Nein, ich habe niemanden gesehen, obgleich ich schon seit langer Zeit diesen Garten pflege«, antwortete der Gärtner.

»Und einen Hirten mit einer Schafherde hast du auch nicht gesehen?«

»Nein, auch den Hirten habe ich nicht gesehen.«

So mußten die Reiter abermals umkehren.



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Jun aber und das Mädchen liefen weiter. Die Reiter kehrten zurück und berichteten:

»Wir haben sie nicht gefunden. Sie sind wie vom Erdboden verschwunden. Nur einem alten Gärtner in seinem Garten sind wir begegnet; der sagte uns, es sei niemand auf dem Weg vorbeigekommen, und auch den Hirten mit der Schafherde hat er nicht gesehen. Wir sind zurückgekehrt. Sollten wir vielleicht den Wind auf dem Felde einfangen?«

»Ihr Dummköpfe«, schrien der Herr und die Herrin, »ihr hättet die Bäume im Garten fällen und den Gärtner mit euren Äxten erschlagen sollen, denn das waren Jun und unsere Dienstmagd. Auf euch ist kein Verlaß. Wir werden selber hinterherreiten.« Der Herr und die Herrin ritten mit ihren Reitern hinterher. Und sie flogen dahin, daß der Staub wie eine Wolke aufwirbelte, die Erde erbebte und es ringsherum dröhnte. Jun und das Mädchen hörten den Lärm und das Getöse und liefen noch schneller. Sie ahnten, daß diesmal sie der Herr und die Herrin selber verfolgten, um sie mit ihren Reitern einzuholen. Und das Dröhnen wurde immer lauter und lauter.

»Nun«, sagte das Mädchen, »wenngleich es nicht mehr weit bis zu deinem Hause ist, werden wir's doch nicht mehr erreichen. Wir müssen uns retten. Ich werde mich in einen Fluß verwandeln, und du wirst am anderen Ufer stehen.«

Und im nächsten Augenblick war sie in einen Fluß verwandelt, und Jun befand sich am jenseitigen Ufer. Da kamen auch schon der Herr und die Herrin mit den Reitern heran. Kaum sah die Herrin den Fluß, da schrie sie: »Schlagt zu mit euren Äxten, schlagt zu!«

Die Reiter sprangen zum Fluß und schlugen mit ihren Äxten auf ihn ein. Der Fluß stöhnte und färbte sich blutrot. J

uri aber stand am anderen Ufer und konnte nicht helfen. Er wußte auch nicht, was er tun sollte.

»Sterben sollst du, Verfluchte!« riefen der Herr und die Herrin dem Fluß zu. »Und du, Bauernsohn, nimm dich in acht, auch dich kriegen wir noch einmal!«

Sie schrien und drohten, aber sie konnten nichts ausrichten; unverrichteter Dinge mußten sie nach Hause zurückkehren. Jun aber hörte, wie der Fluß stöhnte.

»Ach, wie schwer ist's mir . . . Ich werde noch lange liegen müssen,



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denn die Wunden schmerzen sehr. Wir werden uns lange Zeit nicht sehen. Geh nach Hause, Juri, zu deinem Vater und zu deiner Mutter, nur vergiß mich nicht! Damit du mich aber nicht vergißt, darfst du niemanden küssen; wenn du jemanden küßt, so wirst du mich vergessen. Komm recht oft zu mir her, besuche mich!«

Jun ging traurig und niedergeschlagen nach Hause. Er hatte mit einer jungen Frau zurückkehren wollen, und nun war alles ganz anders geworden.

Sein Vater und seine Mutter wären vor Freude fast gestorben, als sie ihn sahen; sie wunderten sich nur, daß Jun niemanden küssen wollte, selbst sie hatte er nicht ein einziges Mal geküßt. Und Jun lebte wieder im Hause zur Freude seiner Eltern. Sobald es aber Abend wurde, ging er zum Fluß, sprach mit ihm und kehrte dann nach Hause zurück. Und er konnte es kaum erwarten, bis die Wunden des Mädchens verheilten. So verging eine lange Zeit. Das Wasser im Fluß wurde immer heller, denn die Wunden des Mädchens begannen sich zu schließen. Doch das Unglück kam erst.

Eines Tages war Jun eingeschlafen, da kam ein alter Mann und küßte den Schlafenden. Als Jun erwachte, hatte er das Mädchen vergessen, als ob er es nie gesehen hätte. Nicht lange danach sagte sein Vater zu ihm:

»Warum bist du noch immer ohne Frau? Du solltest heiraten. Wir haben dir schon eine schöne Braut ausgesucht.«

J uri gefiel die Braut, und die Hochzeit wurde vorbereitet. Es war eine fröhliche und laute Hochzeit. Nur Juni konnte nicht fröhlich sein. Sein Herz pochte so schwer und unruhig, er wußte selbst nicht, wieso.

In der Küche bereiteten die Frauen unterdessen den Hochzeitskuchen. Sie waikten den Teig und formten allerlei Figuren. Plötzlich erschien ein fremdes Mädchen in der Küche und sagte:

»Erlaubt mir, liebe Frauen, einen Enterich und eine Ente aus dem Teig zu formen und auf den Hochzeitskuchen zu setzen und ihn dem Brautpaar zu überreichen.«

Und die Frauen erlaubten es gern. Das Mädchen formte aus dem Teig einen Enterich und eine Ente; sie setzte den Enterich auf den Kuchen, die Ente aber behielt sie in der Hand. Dann trat sie ins Zimmer



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und stellte den Kuchen vor das junge Brautpaar. Sie nahm die Ente und stieß mit dem Entenschnabel auf des Enterichs Kopf und sagte dazu. »Hast du vergessen, Enterich, wie ich dich befreite aus der Gewalt des Bösen?« Und sie stieß zum zweiten Male: »Hast du vergessen, wie ich dich bewahrte vor deinem Tod?«

Und ein letztes Mal stieß sie den Enterich: »Hast du vergessen, wie ich die Wunden auf mich nahm?«

Da war es Juri, als erwache er aus einem tiefen Traum. Er erinnerte sich, was mit ihm geschehen war, und er erkannte das Mädchen. Er sprang auf, stürzte zu ihr hin und drückte sie an sein Herz.

»Hier, liebe Eltern, das ist meine liebe Frau, sie hat mich vor dem sicheren Tode bewahrt. Sie hat mich aus der Gewalt des Bösen errettet. Ich liebe nur sie allein und will von keiner anderen etwas wissen.«

Und er setzte sich neben sie hin.

Da feierten sie eine fröhliche Hochzeit, und Jun lebte von nun an mit seiner jungen Frau. Und sie lebten noch lange und glücklich miteinander.


Copyright: arpa, 2015.

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