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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


9. Der erste Streit und die Entstehung der Völker

Im Anfange sprachen alle Steine, sprach alles Holz, sprach alles Wasser, sprach die Erde. Die erste Mutter der Welt war aber sehr alt und sehr klug geworden. Sie war so klug geworden, daß sie die Ameise nicht mehr fragte, sondern alles allein machte. Sie wurde die erste Stud (Zauberin, Plur.: stuta). Sie war die erste und die größte Zauberin. Nach ihr aber wurden alle alten Kabylenfrauen Zauberinnen und sind es bis heute.

Als die erste Mutter der Welt so alt geworden war, gab es schon viele Dörfer und Orte und eine große Zahl von Menschen. Die erste Mutter der Welt wollte die Menschen aber trennen, denn je älter sie wurde, um so böser war sie.

Die erste Mutter der Welt hatte die Menschen gelehrt, Feuer und Steine nach den Orten zu bringen. Wollte man Steine in das Dorf



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bringen, so legte man einen großen Haufen zusammen, stellte sich darauf und sagte: "Trage mich in das Dorf." Dann trug der Steinhaufen den, der obenauf stand, in das Dorf, und man hatte seine Steine dort, wo man sie haben wollte. Wollte eine Frau Feuerholz haben, so ging sie in den Wald, legte eine große Last Holz zusammen, stellte sich auf die Last und sagte: "Trage mich in das Dorf." Dann trug die Last Holz die Frau in das Dorf und sie hatte dann gleich alles daheim.

So hatte die erste Mutter der Welt die Menschen gelehrt, und so beherrschten die Menschen das Holz, die Steine, die Erde. Nur das Wasser beherrschten sie nicht. Als die erste Mutter nun aber eine alte böse Zauberin geworden war, wollte sie die Menschen glauben machen, sie habe alles gemacht. Und als die Menschen es nicht glaubten, wollte sie die Menschen trennen.

Sie tat dies vor dem Feste Ithusum (dem islamischen Ramadan, im Juli gefeiert). Das Fest Ithusum wurde damals drei Tage lang gefeiert. Zu dem Fest brauchten die Frauen viel Holz.

Ehe die anderen Frauen nun in den Wald gezogen waren, um das Holz zu sammeln, das sie für das Fest brauchten, um sich dann darauf nach Hause tragen zulassen, ging die erste Mutter der Welt in den Busch, sammelte trockenes Holz und legte es auf einen Haufen zusammen. Dann stellte sie sich auf die große Last Holz und sagte: "Nun trage mich nach Hause." Die Last Holz setzte sich in Bewegung. Als das Holz mit der ersten Mutter der Welt ein gutes Stück weit gekommen war, ließ sie einen Wind streichen. (Es ist dies die größte Schmach, die der Kabyle irgend jemand antun kann, und darum nie zu beobachten.) Das Holz lag sofort still und sagte: "Du beschimpfst mich. Du verpestest um mich die Luft. Ich bleibe stehen. Ich trage dich nicht weiter." Die erste Mutter der Welt sagte: "Geh nur! Geh nur! Geh nur!" Das Holz blieb aber liegen und rührte sich nicht. Das Holz sprach auch nicht mehr. Da stieg die erste Mutter der Welt herab, hob die Last Holz auf den eigenen Rücken und trug sie heim. Seitdem hörte das Holz auf, die Menschen heim zu tragen. Seitdem müssen die Menschen das Holz heimtragen.

Die anderen Frauen sahen, wie die erste Mutter der Welt ihr Holz auf dem Rücken heimtrug. Sie fragten die erste Mutter der Welt: "Weshalb trägst du das Holz selbst ?" Die erste Mutter der Welt sagte: "Das Holz will uns nicht mehr tragen. Wir müssen es in Zukunft selbst tragen." Da schalten die anderen Frauen und Männer



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und sagten: "Wie doch? Die alte Frau verdirbt uns alles. Wir sollen der Schmach der alten Frau wegen alles in Zukunft selbst tragen."

Es entstand ein großer Streit unter den Menschen. Es war der erste Streit. Die Menschen zankten, schimpften und bestritten einander. Sie sprachen nicht miteinander. Ihre Sprache geriet in große Unordnung. Nach einiger Zeit verstanden sie nicht mehr die Sprache der Nachbarn. Im großen Hause (der Menschheit) verstanden die Menschen sich nicht mehr untereinander. (Wörtlich: uchollen [sie sind geworden] zachamth'[im Haus] ihäudar füfen [keiner versteht den andern].)

Wenn der eine sagte: "Wir wollen gehen", so verstand der andere: "Wir wollen bleiben." Dann entstand ein Streit und eine Zwietracht. Alle Menschen wurden untereinander uneinig. Bis sich einige Amrar asemeni (kluge alte Männer) einfanden, die führten nach dem Rate der Ameise die Menschen und rieten ihnen, und so entstanden die Mächte. Die alten klugen Männer führten die einzelnen Völker, jedes an seinen Platz. Sie führten die Menschen in die wilden (unbewohnten) Länder (themurech ichlan). Dort nahm jedes Volk seine eigene Sprache an.

So entstanden die sieben Sprachen (thewail ilthauen).


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