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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der Vogelzug

Vor langer, langer Zeit lebten die Vögel, die jeden Sommer zu uns kommen, das ganze Jahr über im Süden. Aber in den Sommermonaten wurde dort die Hitze für sie schier unerträglich. Darum versammelten sich die Vögel eines Tages und überlegten hin und her, was sie tun könnten. Schließlich sprach einer von ihnen:

»Wir alle wissen, daß es im Sommer hier immer sehr heiß wird. Unsere Eier verfaulen in der Hitze, und wir können uns nicht vermehren. Wir möchten aber, daß die Zahl unserer Kinder größer wird. Drum sollten wir zum Sommer in andere Länder ziehen.«

»Das ist richtig«, antwortete ein anderer Vogel. »Aber wir sollten erst mal einen Kundschafter ausschicken, damit er Umschau hält und für uns woanders einen guten Platz erkundet.«

Alle Vögel waren damit einverstanden, und sie bestimmten den Kranich zu ihrem Kundschafter. Er war als klug und vorsichtig bekannt, konnte gut fliegen und dank seiner langen Beine auch gut laufen. Der Kranich sollte durch den Westen, den Norden und den



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Osten fliegen und in drei Jahren zurück sein. Er fühlte sich auch sehr geehrt und machte sich sogleich auf den Weg.

Kaum aber war der Kranich fortgeflogen, machte der Krickenterich der Kranichfrau den Hof. Der Krickenterich war der schönste von allen Vögeln. Er hatte glänzende, leuchtendgrüne Federn und übertraf alle anderen an Beweglichkeit und Fröhlichkeit. Die Kranichfrau fand Gefallen an dem Enterich und lebte mit ihm in Saus und Braus; und es dauerte nicht lange, da zog der Enterich zu der Kranichfrau ins Nest.

Als aber die drei Jahre um waren, kam eines Nachts der Kranich zurück. Der Enterich sah ihn kommen und versteckte sich schnell unter dem Nest.

Der Kranich setzte sich zu seiner Frau und begann sogleich zu erzählen: »Im Norden habe ich wunderbare, große Plätze gefunden, wo es reichlich Nahrung gibt. Dort können wir viele Junge ausbrüten. Wenn aber morgen alle Vögel zusammenkommen, werde ich nichts davon erzählen. Ich bin doch kein Dummkopf! Ich werde ihnen sagen, daß wir im Norden gar nicht leben können. Dann fliegen wir beide allein dorthin und leben herrlich und in Freuden. Niemand wird kommen und uns stören.«

»Krick! Krick!« rief da der Enterich, kam unter dem Nest hervor und flog eilig davon.

»Nanu, was war das?«fragte der Kranich seine Frau.

»Ach, lieber Mann«, antwortete die Kranichfrau, »es ist hier schon lange nicht mehr recht geheuer. Seit du fort warst, habe ich keine Nacht Ruhe gehabt. Immer war etwas los. Es pfiff oder sang, lachte oder weinte hier. Schlimm war das!«

»Ja, ja, das mag wohl sein«, sagte der Kranich. »Ich will doch einmal nachsehen.« Der Krickenterich aber hatte sich schon längst aus dem Staube gemacht. Er war geradenwegs zu der kleinen funken Bogorgono-Ente geflogen. Die war eine Verwandte des Krickenterichs und durch ihre Geschwätzigkeit überall bekannt.

»Weißt du schon? Der Kranich ist zurück!« platzte der Enterich heraus.

»Na, und weiter . . . ?«fragte die kleine Ente.

»Er will unser ganzes Vogelgeschlecht verderben«, sagte der Krickenterich gewichtig.



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»Das glaube ich dir nicht«, entgegnete die Bogorgono-Ente gelassen.

»Ein so kluger und ehrbarer Vogel wie der Kranich tut so etwas nicht!«

»Es ist aber doch so«, rief der Enterich. »Hör mich nur an! Eben belauschte ich heimlich, was der Kranich seiner Frau erzählt hat. Er lobte den Norden, sprach von großen, freien Plätzen und viel Nahrung. Aber morgen, wenn wir alle versammelt sind, will er nur Schlechtes über den Norden sagen, damit er mit der Kranichfrau allein dorthin fliegen kann.«

»Nun sieh einer diesen Halunken an«, rief da die kleine Ente empört. »Aber laß mich nur machen. Ich bin sowieso nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er sich immer vor den andern über meine kurzen Beine lustig macht.«

Am nächsten Tag kamen alle Vögel zusammen, große und kleine.

Alle wollten sie hören, was der Kranich zu berichten hatte.

Der Kranich begann:

»Ich war im Westen, im Osten und im Norden, wie ihr es mich geheißen habt. Im Westen und Osten ist es genauso wie hier. Und an Nahrung fehlt es auch. Im Norden ist es aber schrecklich kalt. Immer ist Winter dort, und meist liegt über den Ländern ein dichter Nebelschleier. Pflanzen gibt es auch keine, aber riesige Raubvögel mit Schnäbeln und Krallen wie Sensen so scharf. Diese Vögel sind grausam und dermaßen gefräßig, daß ihr es euch gar nicht vorstellen könnt. Wenn wir dorthin fliegen, kommt keiner von uns lebend zurück. Ich bin froh, daß es mir gelungen ist, wieder heil zu euch zu kommen.«

»Wie hast du es nur angestellt, daß dich die gefräßigen Vögel nicht verschluckt haben?«fragte plötzlich die Bogorgono-Ente.

Der Kranich sah die kleine Ente ganz wütend an. Diese aber redete ruhig weiter:

»Vögel, glaubt ihm nicht! Er lügt! Seiner Frau hat er in der letzten Nacht etwas ganz anderes erzählt. Er will nur nicht, daß wir alle dorthin fliegen. Er will die großen Plätze und das viele Futter ganz für sich allein und die Kranichfrau haben. Viele Junge soll die Kranichfrau ausbrüten, und wir können hier ruhig des Hungers sterben. Glaubt mir, ich weiß es ganz genau, daß er lügt.«

»Wie kannst du es wagen, du Kurzbeinige du, vor allen meinen



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Freunden so etwas zu behaupten?« schrie der Kranich mit schriller Stimme. Voller Wut sprang er von seinem Platz auf und stürzte sich auf die Ente. Ehe die Vögel sich's versahen, hatte der große Kranich die kleine Bogorgono schon halbtot geschlagen. Und ganz sicher hätte er sie völlig umgebracht, wenn die versammelten Vögel die kleine Ente nicht gerettet hätten.

Da sagen die Vögel zum Kranich:

»Wir sind sehr unzufrieden mit dir. Warum hast du das getan? Wie konntest du, den wir für so klug und ehrbar hielten, ein so kleines Tier wie unsere Bogorgono fast totschlagen? Schäme dich! Wir haben jetzt kein Vertrauen mehr zu dir.«

Beschämt und böse ging der Kranich von dannen. Die Vögel aber sprachen noch lange über das, was geschehen war. »Sicherlich hat der Kranich gelogen«, sagten sie, »denn sonst wäre er nicht so zornig auf die kleine Ente geworden.«

Die Vogelversammlung wählte einen anderen Kundschafter. Diesmal sollte es der kühne Adler sein, der Beherrscher der Lüfte. Weil er nur den Norden besuchen sollte, bekam er ein Jahr Zeit. Dem Kranich aber wurde befohlen, für die kleine Bogorgono-Ente so lange zu sorgen, bis sie wieder gesund wäre. Der Adler flog gen Norden und kehrte genau nach einem Jahr zurück.

Wieder versammelten sich die Vögel. Und der Adler erzählte ihnen, daß es im Norden herrliche große Plätze gäbe. Große gefräßige Vögel hätte er nicht gesehen.

Als die Vögel das hörten, wollten sie keine Zeit mehr verlieren und rüsteten sich sogleich für den Flug nach Norden. Schnell waren sie mit den Vorbereitungen fertig, und die Reise konnte beginnen. Da aber humpelte die kleine Bogorgono-Ente heran und sagte weinend: »Ich möchte noch schnell mit euch sprechen, denn ihr wißt ja, wie der Kranich nach seiner Heimkehr im vorigen Jahr über mich hergefallen ist. Und ihr wißt doch genau, daß ich ganz unschuldig war und nur die reine Wahrheit gesagt habe. Nun wollt ihr davonfliegen. Was soll aber aus mir und meinen Kinderchen werden? Ich bin immer noch krank, und wenn ihr nicht mehr da seid und mir keiner von euch mehr helfen kann, muß ich jämmerlich sterben.« »Recht hat sie«, riefen die Vögel. »Sie ist noch krank. Sicher wird sie umkommen, wenn sie uns nicht mehr hat. Das aber dürfen wir



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nicht zulassen. Der Kranich ist schuld an allem. Er soll als Strafe für alle Zeiten die Bogorgono-Ente auf seinem Rücken tragen, wenn wir gen Norden fliegen. Aber auch wenn wir vom Norden zurückkommen, muß er sie wieder mitnehmen.«

Von jenem Tage an trägt der Kranich die Bogorgono-Ente auf seinem Rücken, wenn die Vögel gen Norden ziehen. Doch wird die Ente dem Kranich auf dem langen Fluge sehr schwer, deshalb fliegt er nur selten bis in den hohen Norden hinauf.


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