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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der goldene Berg

Der Sohn eines Kaufmanns hatte in lustiger Gesellschaft sein Vermögen verschwendet. Eines Tages hatte er nichts mehr zu essen. Da nahm er eine Schaufel, ging auf den Marktplatz und wartete, ob ihm jemand Arbeit geben könnte. Auf einmal fuhr da ein reicher Kaufmann in einem vergoldeten Wagen daher. Kaum hatten ihn die herumstehenden Tagelöhner gesehen, da rannten sie alle auseinander und versteckten sich in den Ecken. Einzig der Sohn des Kaufmanns war stehengeblieben.

»Suchst du Arbeit, Bursche? Willst du bei mir eintreten?«fragte der reiche Kaufmann.

»Gerade deshalb bin ich ja auf den Marktplatz gekommen!«

»Was verlangst du?«

»Gib mir jeden Tag hundert Rubel, damit will ich zufrieden sein!«

»Warum denn so teuer?«

»Ja, wenn dir das zu teuer ist, dann suche dir eine billigere Kraft. Sieh, es waren eine Menge Leute hier, und als du hergefahren bist, sind sie alle auf und davon.«

»Nun gut! Komm morgen zum Hafen!«

Am anderen Tag kam der Kaufmannssohn zum Hafen, wo der reiche Kaufmann schon lange auf ihn gewartet hatte. Sie setzten sich in ein Schiff und fuhren aufs Meer hinaus.

Sie fuhren lange, bis schließlich mitten im Meer eine Insel auftauchte. Dort ragten hohe Berge auf, am Ufer selbst aber leuchtete es wie von Feuer.

»Brennt es hier etwa?«fragte der Sohn des Kaufmanns.

»Nein, das ist mein goldener Hof.«

Sie fuhren zur Insel und stiegen ans Ufer. Dem reichen Kaufmann kamen Frau und Tochter entgegen. Die Tochter war so schön, daß niemand es zu beschreiben vermag. Sie begrüßten sich und gingen auf den Hof. Den neuen Arbeiter nahmen sie mit, setzten sich zu Tisch und begannen fröhlich zu schmausen.

»Wo ist der Tag hingekommen?«fragte der Hausherr.

»Nun, heute wollen wir schmausen, aber morgen soll die Arbeit angehen.«

Auch der Kaufmannssohn war ein strammer Bursche: hochgewachsen



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und von schönem Angesicht. Er verliebte sich in das schöne Mädchen.

Sie ging in ein anderes Zimmer, winkte ihn heimlich herbei, gab ihm einen Feuerstein und einen Feuerstahl und sagte: »Nimm das, wenn du in Not kommst, wirst du es gut brauchen können!«

Am anderen Tage machte sich der reiche Kaufmann mit seinem Arbeiter zum goldenen Berge auf. Aber es war ganz unmöglich, da hinaufzusteigen.

»Nun«, sagte der Kaufmann, »trinken wir erst mal ein Gläschen!« Er goß seinem Gehilfen aber einen Schlaftrunk ein. Der Kaufmannssohn trank davon und schlief auch sofort ein. Da nahm der Kaufmann ein Messer, tötete eine alte Mähre, weidete sie aus, legte den jungen Burschen und eine Schaufel hinein und nähte alles zusammen. Er selber aber verbarg sich im Gebüsch. Plötzlich erschienen schwarze Raben mit eisernen Schnäbeln, packten das gefallene Tier und trugen es auf den Berg. Dort fingen sie an zu hacken, fraßen das Pferd auf und wollten sich schon über den Kauf mannssohn hermachen. Der aber erwachte, wehrte die schwarzen Raben von sich ab, schaute umher und fragte: »Wo bin ich?«

Der reiche Kaufmann antwortete: »Auf dem goldenen Berg. Nimm deine Schaufel und grabe Gold!«

Der Kaufmannssohn grub, grub und warf alles nach unten. Der Kaufmann aber sammelte alles in Fuhren. Bis zum Abend hatte er neun Fuhren beisammen.

»Genug!«sagte der reiche Kaufmann. »Hab Dank für deine Arbeit! Leb wohl!«

»Und was soll mit mir geschehen?«

»Daß du es genau weißt! Neunundneunzig von euch habe ich auf dem Berg umkommen lassen, mit dir sind es nun gerade hundert!« So sagte der Kaufmann und fuhr davon.

>Was soll ich jetzt machen?<dachte der Kaufmannssohn. >Vom Berg hinabsteigen ist glatt unmöglich. Ich werde des Hungers sterben müssen!<

Da stand er nun auf dem Berge, und die schwarzen Raben mit ihren eisernen Schnäbeln, die schon ihre Beute witterten, umkreisten ihn. Während er überdachte, was da alles gekommen war, erinnerte er sich plötzlich, wie das schöne Mädchen ihm gewinkt, ihm den Feuerstem



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gegeben und gesagt hatte: »Nimm das, in der Not wird es dir zugute kommen!«

>Das hat sie gewiß nicht umsonst gesagt. Ich will's versuchen!<dachte der Kaufmannssohn, nahm den Feuerstein und den Stahl heraus, schlug einmal an, und gleich erschienen zwei Jünglinge: »Was wünschest du? Was brauchst du?«

»Tragt mich vom Berg ans Ufer des Meeres.«

Kaum hatte er das gesagt, da packten sie ihn und trugen ihn vorsichtig den Berg hinunter. Als der Kaufmannssohn am Ufer entlangging, sah er an der Insel ein Schiff vorbeifahren.

»Heda, ihr guten Schiffersleute! Nehmt mich mit!«

»Nein, Bruder, wir dürfen nicht anhalten. Wir müßten für diesen Aufenthalt hundert Werst weiterfahren.«

Das Schiff fuhr an der Insel vorüber - doch auf einmal erhob sich ein starker Wind, der alsbald zum wilden Sturm wurde.

»Ach, man sieht, daß dies kein gewöhnlicher Mensch war! Laßt uns besser umkehren und ihn ins Schiff nehmen!«

Sie fuhren zur Insel zurück, legten am Ufer an, nahmen den Kaufmannssohn mit und brachten ihn in seine Heimat.

Nach einiger Zeit nahm der Kaufmannssohn wieder seine Schaufel, ging auf den Markt und wartete auf einen Arbeitgeber. Da fuhr wieder der reiche Kaufmann auf seinem vergoldeten Wagen daher. Kaum erblickten ihn die Taglöhner, da liefen sie alle auseinander und versteckten sich in den Ecken. Nur der Kaufmannssohn war stehengeblieben.

»Willst du bei mir arbeiten?« fragte der Kaufmann.

»Wenn du mir für den Tag zweihundert Rubel gibst, ja.«

»Ah, du bist aber teuer!«

»Teuer? Dann suche dir einen billigeren Arbeiter! Hast du nicht gesehen, wie viele Leute hier waren und wie sie alle davongelaufen sind, als du hergefahren bist?«

»Nun gut! Komm morgen zum Hafen!«

Am nächsten Morgen trafen sie sich beim Hafen, setzten sich in den Kahn und fuhren zur Insel. Dort vergnügten sie sich einen Tag lang, dann zogen sie wieder zum goldenen Berg. Als sie dort angekommen waren, holte der reiche Kaufmann ein Schnapsglas hervor. »Trinken wir zuerst einen!«



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»Warte, Herr! Du bist das Familienoberhaupt, du mußt zuerst trinken! Komm, ich gebe dir vom meinigen!«

Der Kaufmannssohn, der bereits geahnt hatte, was wieder kommen sollte, hatte sich einen Schluck von dem Schlaftrunk verschafft und ihn aufgehoben. Er goß das Gläschen voll und gab es dem reichen Kaufmann. Der trank es aus und schlief sofort ein. Da schlachtete der Kaufmannssohn das schlechteste Pferd, weidete es aus, legte seinen Herrn und eine Schaufel hinein, nähte alles wieder zu und verbarg sich im Gebüsch. Wieder kamen die schwarzen Raben mit ihren eisernen Schnäbeln, trugen das tote Pferd auf den Berg und fingen an, es zu zerhacken. Da erwachte der reiche Kaufmann, sah umher und sagte: »Wo bin ich?«

»Auf dem Berge. Nimm die Schaufel und fang an zu graben! Wenn du viel gräbst, werde ich dir zeigen, wie man von dem Berg wieder herunterkommt.«

Der reiche Kaufmann nahm die Schaufel und grub fleißig. Zwölf Fuhren brachte er zusammen.

»So, jetzt ist es genug!« sagte der Kaufmannssohn, »danke für die Arbeit, leb wohl!«

»Und was ist mit mir?«

»Ja, weißt du es nicht? Neunundneunzig solcher Burschen wie du habe ich auf dem Berg umkommen lassen, mit dir sind es gerade hundert!«

Der Kaufmannssohn nahm alle zwölf Fuhren mit sich, fuhr auf den goldenen Hof, heiratete die Tochter des reichen Kaufmanns, dieses wunderschöne Mädchen, nahm dessen gesamten Reichtümer an sich und fuhr mit seiner ganzen Familie in die Hauptstadt, um dort zu wohnen. Der reiche Kaufmann aber mußte auf dem Berge bleiben. Die schwarzen Raben zerhackten ihn mit ihren eisernen Schnäbeln.


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