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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Die Sprache der Vögel

In einer Stadt lebte ein sehr reicher Kaufmann mit seiner Frau. Die beiden hatten einen Sohn, der für seine Jahre nicht sonderlich aufgeweckt und tüchtig war. Er hieß Iwan. Eines Tages saßen die Eltern beim Essen. Die Nachtigall sang im Käfig über dem Tisch so schmelzend, pfiff und schnalzte in einem so zarten silbernen Wirbel, als wolle sie alle Töne auf einmal verschwenden .

Der Kaufmann horchte und lauschte und konnte es schließlich nicht unterlassen zu sagen: »Wenn sich ein Mensch fände, der mir sagen könnte, was der Vogel singt, wäre ich glatt bereit, ihm die Hälfte meines Vermögens zu geben.«

Diese Worte nahm der Kaufmannssohn Iwan begierig in sich auf. Wo er nun ging und stand, überall war fortan sein einziges Sinnen: wie er die Sprache der Vögel erlernen könne.

Einige Zeit ging dahin, da war der Kaufmannssohn Iwan eines Tages im Wald auf Jagd. Dort überraschte ihn ein furchtbares Unwetter mit Blitz und Donner. Es regnete in Strömen. Um sich vor der Nässe zu schützen, stellte er sich unter einen Baum. Auf diesem Baum sah er ein großes Vogelnest und vier junge Vögel darin. Sie zitterten vor Kälte, waren vom Regen schon ganz durchnäßt und piepsten ganz kläglich. Iwan hatte Mitleid mit ihnen; er stieg auf den Baum und deckte sie mit seinem Rocke zu.



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Als das Gewitter vorüber war, kam ein großer Vogel zu dem Baum geflogen, setzte sich auf einen Ast und sagte mit menschlicher Stimme: »Kaufmannssohn Iwan, du hast meine Jungen vor Kälte und Nässe beschützt, ich fühle mich in deiner Schuld. Verlange von mir, was dein Herz begehrt.«

Iwan antwortete dem Vogel: »Ich brauche von dir nichts, ich habe alles und entbehre nichts. Aber vielleicht könntest du mich die Sprache der Vögel lehren?«

»Freilich kannst du sie erlernen - bleibe nur drei Tage bei mir im Walde, und du wirst alles verstehen können, was die Vögel unter sich sprechen.«

Iwan lebte drei Tage im Wald und verstand nun die Sprache der Vögel. Verständiger kehrte er nach Hause zurück.

Wieder verging einige Zeit, da saß er wieder mit Vater und Mutter am Tisch. Jetzt sang die Nachtigall so traurig und klagend, daß es sogar dem Kaufmann und seiner Frau ganz schwer ums Herz wurde. Iwan aber vergoß bittere Tränen.

»Warum weinst du, lieber Sohn?«fragten die Eltern.

»Ich weine deshalb, weil ich jetzt die Sprache der Vögel verstehe und weil uns die Nachtigall nichts Gutes ankündigt.«

»Was soll das heißen? Sprich geradeheraus!«

»Ach, wäre ich doch nicht auf dieser Welt geboren!«

»Laß das und rede vernünftig, wenn du die Sprache der Vögel verstehst: Was hast du Schlimmes vernommen?«

»Ja, hört ihr's denn nicht, was die Nachtigall singt? —Die Zeit wird kommen, und Iwan wird König sein, sein Vater aber wird als Knecht ihm dienen müssen.«Über diese Worte wurde der Kaufmann zornig und wollte seinem Sohn nicht glauben. Er meinte: >Vermutlich hat er was Böses gegen uns im Sinn, daß er aus dem Gesang der Nachtigall etwas so Schlimmes heraushören kann.<

Der Kaufmann und seine Frau berieten sich miteinander und beschlossen, den Sohn zu entfernen, damit das, was er da gesprochen hatte, nicht eintreten könne. In einer finsteren Herbstnacht gaben sie ihm einen Schlaftrunk ein und brachten ihn zu einem Kahn, setzten drauf ein weißes Segel, stießen den Kahn vom Ufer weg und ließen ihn aufs offene Meer hinausfahren.

Der Kahn trieb weiter aufs offene Meer hinaus und geriet an ein



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Kaufmannsschiff. Beim Zusammenstoß erwachte Iwan. Die Schiffer sahen ihn, erbarmten sich seiner und nahmen ihn auf ihr Schiff. Als sie weiterfuhren, sah Iwan, daß Kraniche hinter dem Schiff herflogen und laut untereinander redeten.

Iwan sagte den Schiffern: »Gebt acht! Hütet euch! Ich höre, was die Kraniche unter sich schwatzen: Ein großer Sturm wird kommen, er wird eure Masten zerbrechen und die Segel zerreißen. Fahrt lieber nicht weiter!«

Doch die Schiffer hörten nicht auf Iwan. Bald aber brach ein furchtbarer Sturm los, zerbrach die Masten, zerriß die Segel und richtete schweren Schaden an. Die Schiffer konnten nur mit Not in den Hafen zurückfahren, um ihr Schiff auszubessern.

Kaum waren sie damit fertig geworden und weitergefahren, da kam hinterm Schiff ein mächtiger Zug von Schwänen geflogen, die bald laut, bald leise untereinander schnatterten.

Iwan sagte zu den Schiffern: »Gebt acht! Hütet euch! Ich höre, was die Schwäne unter sich sprechen: Es wird euch ein Schiff mit Seeräubern begegnen, die euch gefangennehmen und ausplündern wollen. Kehrt lieber in den Hafen zurück.«

Dieses Mal hörten die Schiffer auf den Kaufmannssohn Iwan, und bald sahen sie, wie die Räuber an ihnen vorbeifuhren, andere Schiffe ausraubten und deren Besatzung gefangennahmen.

Die Schiffer warteten so lange, wie das notwendig war, und fuhren dann weiter. In einer entfernten, am Meer gelegenen Stadt machten sie halt. Dort herrschte ein König, vor dessen Palastfenstern schon seit Jahren ein Rabe und ein Rabenweibchen herumflogen und so laut krächzten, daß man bei Tag und Nacht vor ihnen keine Ruhe hatte. Was immer der König tat, um die Raben zu vertreiben -nichts konnte helfen. Nun hatte der König an allen Wegkreuzungen eine Kundmachung anschlagen lassen, in der zu lesen war: »Wer den König von dem Raben und dem Rabenweibchen befreien kann, dem wird er die Hälfte seines Reiches und die jüngste Prinzessin zur Frau geben. Wer es aber auf sich nimmt und nicht auszuführen vermag, —dem kommt der Kopf von den Schultern.«

Iwan ging zum König. Er wollte es übernehmen, ihn vom Raben und Rabenweibchen zu befreien, gab Anordnung, das Fenster zu öffnen, vor dem die Raben hin und her flogen. Dann horchte er auf



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ihr Gekrächze und sagte zum König: »Hier fliegen drei: ein männlicher Rabe, seine Frau - das Rabenweibchen - und ihr Sohn, der junge Rabe. Der Rabenvater und die Rabenmutter streiten seit vielen Jahren, wem der Sohn gehören soll -dem Vater oder der Mutter? Sie können sich in dieser Frage aber auf gar keine Weise einigen und warten auf deine königliche Entscheidung. Sag an, wem sprichst du den Sohn zu?« Der König antwortete: »Dem Vater!«

Kaum hatte er das ausgesprochen, da flog der Rabe mit seinem Sohn nach rechts, das Rabenweibchen aber nach links davon. Nun übergab der König dem Kaufmannssohn Iwan die Hälfte seines Reiches und seine jüngste Tochter zur Frau. Reich und glücklich lebten Iwan und seine Frau viele Jahre in diesem Königreich in Frieden und Eintracht.

Sein Vater aber war inzwischen Witwer geworden und allmählich so völlig verarmt, daß er als Bettler unter den Fenstern um milde Gaben bitten mußte. Er zog von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und kam schließlich auch in die Stadt, wo es dem Kaufmannssohn Iwan beschieden war, sein Glück zu finden. Er kam an den Königshof und bettelte unterm Fenster. Da bemerkte ihn Prinz Iwan und befahl, ihn ins Schloß zu führen. Er gab dem Alten zu essen und trinken und fragte ihn: »Womit kann ich dir helfen, Alter?«

»Wenn du mir eine Gnade erweisen willst, so ordne an, daß ich an deinem Hof bleiben darf. Nimm mich unter deiner Dienerschar auf. Ich bin bereit, dir ehrlich und treu zu dienen.«

»Siehst du, Väterchen, du hast dem traurigen Gesang der Nachtigall nicht glauben wollen -aber nun ist es doch gekommen, daß wir uns so treffen, wie es die Nachtigall in ihrem Lied gesagt hat.« Der Alte erschrak und wollte vor dem prinzlichen Sohn auf die Knie fallen. Der aber ließ das nicht zu. Sie fielen einander in die Arme und weinten vor Freude.

Nachdem der erste Freudenrausch vorüber war, wagte es der Vater, den Sohn Iwan zu fragen: »Wie kommt es, daß du, mein Sohn, damals nicht ertrunken bist, als wir dich schlafend in einen Kahn aufs Meer hinausstießen?«

»Wahrscheinlich, Väterchen, war ich nicht dazu geboren, den Tod des Ertrinkens zu erleiden, sondern eine Prinzessin zu heiraten«, antwortete Iwan.


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