Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der Zwerg mit dem Schnurrbart

In einem Königreich herrschte einmal ein König, dem ein Stall gehörte, in dem die Pferde mit goldenen Ketten angebunden waren. Eines Nachts nun träumte er, daß in seinem Stall ein wunderbares Pferd angebunden sei, das statt der Haare lauter Silber auf dem Leib hatte und von dessen Stirn der helle Mond selber leuchtete.

Als der König am Morgen erwachte, ließ er im ganzen Lande ausrufen: »Wer mir diesen Traum deutet und das Wunderpferd verschafft, dem gebe ich meine Tochter und mein halbes Königreich zum Lohn.«

Daraufhin versammelten sich alle Fürsten, Grafen und berühmten Persönlichkeiten, um zu beraten. Aber niemand vermochte den Traum zu deuten, und keiner wußte, wie man das Pferd herbringen könnte. Endlich drängte sich ein altes Bäuerlein vor und sprach zum König: »Was du gesehen hast, war gar kein Traum, sondern reine Wirklichkeit. Auf dem Pferde, von dem du glaubst, es im Traum gesehen zu haben, kam diese Nacht ein Zwerg in deine feste Burg. Er hat einen ellenlangen Schnurrbart und wollte deine Tochter rauben.«

»Ich danke dir, guter Mann, für deinen Bericht«, sagte der König. »Kannst du mir jetzt noch sagen, wer mir dieses Pferd verschaffen kann?«

»Ich will es dir sagen, mein König! Ich habe drei Söhne, die großmächtige Helden sind. Alle drei sind von meiner Frau in einer Nacht geboren worden. Der älteste kam am Abend, der mittlere um Mitternacht und der jüngste beim Morgengrauen zur Welt. Wir haben sie auf die Namen Abendröte, Mitternacht und Morgenröte getauft. Keiner in deinem Reich kommt ihnen an Stärke und Tapferkeit gleich -willst du ihnen befehlen, Väterchen König, auszuziehen, um das Wunderpferd herzubringen?«

»Ja, sie sollen gehen, mein guter Alter. Aus meinem Schatz können sie sich nehmen, was immer sie brauchen. Ich aber bleibe bei meinem Versprechen: Wer von ihnen mir das Pferd bringt, dem will ich meine Tochter und mein halbes Königreich geben.«

Am frühen Morgen des nächsten Tages ritten die drei Brüder ins königliche Schloß: Morgenröte, Abendröte und Mitternacht.



Bd-07-102_Maerchen aus Russland Flip arpa

Einer war noch schöner und kräftiger als der andere, es waren ganz herrliche Recken. Sie gingen zum König, beteten vorm Heiligenbild, grüßten nach allen Seiten, beugten das Knie und sagten: »Sei gegrüßt, großer König! Wir sind nicht zum Schmausen und Zechen gekommen, sondern wir wollen die schwere Aufgabe übernehmen, dir aus fernem Lande das Wunderpferd zu holen, das dir im Traum erschienen ist.«

»Möge es euch gelingen!« sagte darauf der König. »Was soll ich euch auf den Weg mitgeben?«

»Wir brauchen nichts, mein König. Nimm nur unsere Eltern zu dir und beschütze sie vor Armut und allen Beschwerden des Alters.« »Wenn es so ist, dann reitet mit Gott und glückliche Reise! Eure Eltern werde ich in mein Schloß bringen lassen. Sie werden am königlichen Tisch essen und trinken und aus meinem königlichen Vorrat beschuht und bekleidet werden. Nichts soll ihnen abgehen.«

Nun machten sich die drei wackeren Jünglinge auf den Weg. Sie ritten einen Tag, dann noch zwei, und ständig war nur der blaue Himmel über ihnen und vor ihnen die unendliche Steppe. Endlich erreichten sie einen dichten Wald, der am Rande der Steppe lag. Darüber freuten sie sich sehr. Auf einer Lichtung stand eine Hütte und hinter ihr ein Stall voller Schafe.

»Endlich«, sagten sie, »haben wir ein Plätzchen gefunden, wo wir uns niederlegen und ausruhen können.«

Sie klopften an die Tür, aber niemand gab Antwort. Sie schauten zum Fenster hinein und sahen, daß die Hütte leer war. Sie gingen hinein, kleideten sich aus und legten sich zum Schlafen nieder.

Am anderen Morgen gingen Morgenröte und Mitternacht in den Wald auf Jagd. Sie sagten zu Abendröte: »Du bleibst zu Hause und bereitest uns das Essen.«

Der älteste Bruder war damit einverstanden. Er brachte die Hütte in Ordnung, ging dann in den Stall, wählte den fettesten Hammel aus, schlachtete ihn, zog ihm das Fell ab und briet ihn zum Mittagessen. Er hatte gerade den Tisch gedeckt und sich ans Fenster gesetzt, um die Brüder zu erwarten, da erklang plötzlich ein großes Getöse aus dem Wald.

Die Hüttentür wurde weit aufgerissen, und ein Zwerg mit einem ellenlangen Schnurrbart trat ein. Sein Bart war so lang, daß er ihn auf



Bd-07-103_Maerchen aus Russland Flip arpa

dem Rücken hinter sich herschleifen mußte. Der Zwerg sah Abendröte finster an und brüllte mit schrecklicher Stimme: »Wie kannst du es wagen, in meiner Hütte zu wohnen? Wie kannst du dich unterstehen, meinen Hammel zu schlachten?«

Abendröte schaute ihn an und sagte lachend: »Ehe du so brüllst, mußt du besser wachsen! Mach rasch, daß du verschwindest, sonst zerkrümle ich dich wie ein Stückchen Brot und pappe dir die Augen zu!« Da sagte der Zwerg: »Ich sehe, du weißt nicht, daß auch ich kühn und stark bin.«

Kaum hatte er das gesagt, da riß er ihn auch schon vom Fenster weg und schleuderte ihn von einer Ecke in die andere. Die Wände zitterten von dem Lärm, und Abendröte lag halbtot da. Dann nahm der Zwerg den Hammel und fraß ihn mitsamt allen Knochen auf. Als die Brüder zurückkamen, fragten sie: »Was ist mit dir geschehen?« Abendröte schämte sich zu erzählen, daß ihn der Zwerg derart zugerichtet hatte, und sagte zu den Brüdern: »Ich habe mir die Finger verbrannt und konnte nicht mehr kochen und braten.«

Am anderen Tage gingen Morgenröte und Abendröte auf Jagd. Mitternacht blieb zurück, um das Essen zu bereiten. Kaum war er damit fertig, da kam auch der Zwerg wieder hereingestürzt, verprügelte Mitternacht, richtete ihn übel zu und warf ihn unters Fenster. Dann verzehrte er das ganze Mittagessen, und fort war er.

Als die Brüder zurückkamen, fragten sie: »Was ist mit dir, Bruder? Warum bist du derart verwundet?«

»Ich habe mich verbrannt, Brüder«, antwortete Mitternacht. »Ich bin am Kopf verletzt und konnte deshalb kein Mittagessen herrichten.«

Am dritten Tag gingen die beiden älteren Brüder auf Jagd, während Morgenröte allein in der Hütte zurückblieb. Er dachte: >Da stimmt doch was nicht! Nicht umsonst haben zwei Tage hintereinander die Brüder über Brandwunden geklagt.<

Er paßte auf, ob nicht jemand käme, der ihm Böses zufügen wollte. Auch er wählte einen Hammel aus, schlachtete und putzte ihn, briet ihn und stellte ihn auf den Tisch. Plötzlich kam lautes Getöse aus dem Wald. Der Zwerg eilte in den Hof. Er hatte ein großes Bündel Heu auf dem Kopf und trug einen Kübel mit Wasser in der einen Hand. Den stellte er mitten auf dem Hof nieder und verstreute das



Bd-07-104_Maerchen aus Russland Flip arpa

Heu. Dann fing er an, die Schafe zu zählen. Als er sah, daß wieder ein Hammelfehlte, wurde er vor Zorn ganz bleich und stampfte mit seinen kleinen Füßen auf den Boden. Sofort eilte er in die Hütte und begann mit Morgenröte zu raufen

Der aber war von anderer Art als seine Brüder. Er packte den Zwerg bei seinem langen Schnurrbart und schleifte ihn auf dem Boden in der Hütte herum. Dabei sage er: »Wenn du das Ufer nicht kennst, dann steige nicht ins Wasser!«

Der Zwerg wand und drehte sich nach allen Seiten und konnte sich schließlich aus den eisenharten Händen von Morgenröte befreien, in denen aber die Enden seines Schnurrbartes hängenblieben. Er rannte davon, so rasch er konnte, Morgenröte hinter ihm her. Der Zwerg aber flog dahin wie eine Daunenfeder, und ehe man sich's versah, war er verschwunden. Der Jüngling ging in die Hütte zurück und setzte sich ans Fenster, um auf seine Brüder zu warten. Als sie kamen, verwunderten sie sich sehr, daß er unverletzt war und das Essen bereit auf dem Tische stand.

Da zog Morgenröte die langen Bartenden, die er dem Ungeheuer ausgerissen hatte, aus dem Gürtel und sprach zu seinen Brüdern: »Da, meine Brüder, ich habe euer Feuer an meinen Gürtel gehängt! Ich sehe, daß ihr weder an Stärke noch Tapferkeit meine Kameraden seid. Ich will das Wunderpferd allein suchen. Ihr aber geht ins Dorf zurück und bebaut den Acker!«

Nachdem er sich von den Brüdern verabschiedet hatte, zog er weiter. Am Waldesrand stieß er auf eine alte Hütte und hörte, wie dort jemand kläglich schrie: »Wer speist und tränkt mich? Ich muß verhungern!«

Der brave Jüngling trat in die Hütte und sah darin einen Menschen ohne Hände und Füße auf dem Ofen liegen.

Der klagte und jammerte und bat um Speise und Trank.

Morgenröte reichte ihm beides und fragte ihn: »Wer bist du?« »Ich war ein Held, nicht schlechter als du«, sagte der Verstümmelte. »Bei dem Zwerg habe ich einen Hammel verzehrt, und er hat mich dafür auf alle Zeit zum Krüppel geschlagen. Aber dafür, daß du mit mir Mitleid gehabt hast, will ich dir sagen, wie du das Wunderpferd bekommen kannst. Merk gut auf, lieber Jüngling! Geh zu dem nahen Fluß und übernimm dort die Fähre. Du mußt ein ganzes Jahr



Bd-07-105_Maerchen aus Russland Flip arpa



Bd-07-106_Maerchen aus Russland Flip arpa

Fährmann sein, darfst aber von keinem Menschen Geld annehmen. Dann wirst du selber sehen, was geschieht.«

Morgenröte ging zu dem Fluß hinunter und übernahm die Fähre. Ein volles Jahr lang setzte er alle, die kamen, umsonst über. Eines Tages mußte er drei greise Wanderer über den Fluß bringen. Als sie am anderen Ufer waren, öffneten sie ihre Reisesäcke. Der eine holte zwei Hände voll Gold heraus, der andere runde Perlen und der dritte echte Edelsteine.

»Nimm das für die Überfahrt, braver Junge!« sagten sie.

»Ich kann von euch nichts nehmen«, antwortete Morgenröte, »weil ich nach einem Gelöbnis jeden umsonst übersetze.«

»Was ist das für ein Gelöbnis?«

»Ich suche das Wunderpferd mit dem silbernen Fell, kann es aber nirgendwo finden. Gute Leute haben mir geraten, hier die Fähre zu übernehmen und sagten: >Du wirst schon sehen, was geschieht.« »Wir danken dir, braver Jüngling, daß du so fest bei deinem Gelöbnis bleibst. Wir können dir aber einen Weg zeigen. Stecke diesen Ring hier an deinen kleinen Finger! Wenn du ihn von einer Hand in die andere bringst, gehen dir alle Wünsche in Erfüllung.«

Dann zogen die drei Greise ihres Weges weiter. Morgenröte aber steckte den Ring gleich an die andere Hand und sagte: »Ich will gleich dort sein, wo der Zwerg mit dem langen Schnurrbart wohnt und sein Pferd hütet!«

Sofort ergriff ihn ein Wirbel, und ehe er noch einen Gedanken fassen konnte, stand er schon am Rande einer tiefen Schlucht. Dort sah er auf der anderen Seite den Zwerg und ganz in der Nähe von ihm das Wunderpferd mit dem Silberfell stehen. Auf dessen Stirn leuchtete der Mond, und die Mähne war mit Sternen besät.

»Sei gegrüßt, wackerer Bursche! Was führt dich hierher?« rief ihm der Zwerg zu.

»Ich will dir das Pferd abnehmen!«

»Nein! Kein Mensch wird es mir nehmen. Ich brauche es nur an der Mähne zu packen und an den Rand der Schlucht zu führen, dort wird uns nie jemand finden!«

»Gut, dann tauschen wir!«

»Höre, ich kann mit dir tauschen. Wenn du mir die Tochter des Königs hierher bringst, dann gebe ich dir das Pferd dafür.«



Bd-07-107_Maerchen aus Russland Flip arpa

»Gut«, sagte Morgenröte, und es fiel ihm alsbald ein, wie er den Zwerg überlisten könnte. Er steckte den Ring von einem Finger an den anderen und sagte: »Die schöne Prinzessin soll sofort vor mir erscheinen!« Im nächsten Augenblick stand auch schon die Prinzessin vor ihm. Sie war ganz blaß vor Angst, fiel ihm zu Füßen und flehte: »Guter Jüngling, warum hast du mich von meinem Vater weggerissen? Habe Erbarmen mit meiner Jugend!«

Da flüsterte ihr Morgenröte ins Ohr: »Ich will dieses Ungeheuer überlisten. Ich stelle mich nur so, als ob ich dich gegen das Pferd eintauschen und dich dem Zwerg zur Frau geben wollte. Nimm diesen Ring, und wenn du wieder heim willst, so stecke ihn nur an einen anderen Finger und sage: >Ich will eine Stecknadel werden und unter den Rockkragen von Morgenröte schlüpfen.< Dann wirst du sehen, was geschieht.«

Alles kam genau, wie es Morgenröte mit der Prinzessin besprochen hatte. Er vertauschte die schöne Prinzessin gegen das Wunderpferd, legte ihm den Sattel auf und ritt seines Weges fort. Der Zwerg aber rief ihm höhnisch nach: »Das hast du gut gemacht, mein Lieber, daß du die schöne Prinzessin für das Pferd hergegeben hast!«

Morgenröte war nur eine kurze Strecke weit geritten, da fühlte er, wie etwas unter seinen Kragen fuhr. Er tastete danach und fand die Stecknadel, ließ sie zu Boden fallen, und -siehe da -die schöne Prinzessin stand vor ihm und bat ihn weinend, sie zu ihrem Vater heimzubringen.

Morgenröte setzte das Mädchen aufs Pferd und brachte es in vollem Galopp ins Schloß. Als er kurz danach durch den Schloßhof ritt, begegnete ihm der König, der tiefbetrübt war.

Er sagte zu ihm: »Ich kann mich über deine treuen Dienste gar nicht freuen. Das Wunderpferd nützt mir jetzt nichts mehr, und ich kann dich auch nicht dafür belohnen, daß du es hergebracht hast.« »Warum, Väterchen König?«

»Weil meine Tochter spurlos verschwunden ist, guter Jüngling!« »Du willst deinen Scherz mit mir treiben. Soeben hat mich doch deine Tochter vom Palast aus gegrüßt!«

Da eilte der König ins Gemach der Prinzessin, umarmte sie und führte sie dem Jüngling zu. »Hier hast du deine Belohnung, und ich habe nun meine Ruhe wieder.«



Bd-07-108_Maerchen aus Russland Flip arpa

Der König nahm das Wunderpferd, gab Morgenröte seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich dazu. Die beiden lebten ruhig und glücklich bis an ihr Ende.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt