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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der seherische Traum

Einmal war ein Kaufmann, der zwei Söhne hatte: Dimitri und Iwan. Eines Tages verabschiedete sich der Vater von den Söhnen, entließ sie für die Nacht und sagte zu ihnen: »Kinder! Was ihr heute nacht träumen werdet, sollt ihr mir morgen früh erzählen. Wer von euch mir seinen Traum verheimlicht, dem soll es nicht gut ergehen.«

Am Morgen kam der ältere Sohn zum Vater und sprach: »Väterchen, mir hat geträumt, daß der Bruder Iwan mit zwölf Adlern bis hoch unter den Himmel geflogen ist.«

»Gut«, sagte der Vater, »und was hat dir geträumt, Wanja?«

»So etwas Ungereimtes, Väterchen, daß ich es nicht sagen kann.«

»Was soll das heißen? Sprich!«

»Nein, ich will es nicht sagen!«

»Sprich, wenn ich es dir befehle!«

»Nein, ich werde und werde es nicht sagen!«

Da packte den Vater gegen den jüngeren Sohn ein großer Zorn und er nahm sich vor, ihn wegen seines Ungehorsams zu strafen. Er ließ seine Arbeiter kommen und befahl ihnen, Iwan völlig nackt auszuziehen und ihn an einem einsamen Kreuzweg fest an einen Pfahl zu binden. Seinem Befehl wurde gehorcht: Die Arbeiter ergriffen Iwan, führten ihn weit von daheim weg zu einer Kreuzung, wo sieben Wege auseinandergingen, banden ihn mit Händen und Füßen an einen Pfahl und überließen ihn völlig allein seinem Schicksal.

Dem guten Jüngling erging es schlecht: Die Sonne schmorte ihn fast, Mücken und Wespen saugten sein Blut, Hunger und Durst quälten ihn schier zu Tode.

Zu Iwans Glück kam da auf einem der sieben Wege ein junger Prinz vorbei. Er sah den Kaufmannssohn, fühlte Mitleid mit ihm und



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befahl, ihn vom Pfosten loszubinden. Er ließ ihn bekleiden und errettete ihn so vor einem grausamen Tod. Dann nahm er Iwan mit sich auf sein Schloß, gab ihm zu essen und zu trinken und fragte ihn:

»Wer hat dich an den Pfahl gebunden?«

»Meinen leiblichen Vater hat der Zorn auf mich gepackt!«

»Aber warum denn? Sicherlich ist deine Schuld nicht gerade klein gewesen?«

»Ich war ungehorsam gegen ihn, ich habe ihm nicht erzählen wollen, was mir geträumt hat!«

»Und wegen dieser Kleinigkeit hat er dich zu einer so furchtbaren Strafe verurteilt? Ist er etwa verrückt geworden? Was hat dir denn tatsächlich geträumt?«

»Was mir geträumt hat, das will ich auch dir nicht sagen, mein Prinz!«

»Wie, du willst es nicht sagen? Auch mir nicht? Dem Prinzen? Ich habe dich vor dem grausamen Tod bewahrt, und du willst mir diese kleine Gefälligkeit nicht erweisen? Rede auf der Stelle, oder es wird dir nicht gut ergehen!«

»Nein, Prinz! Dem Vater habe ich es nicht gesagt, und dir werde ich es auch nicht sagen!«

Jetzt packte den Prinzen die Wut, er rief seine Diener und Läufer herbei und befahl: »Heda, ihr meine treuen Diener, packt diesen schnöden Grobian, legt ihm kräftige Fesseln an die Hände, schlagt ihm enge Fußklötze an die Beine und werft ihn in mein tiefstes Gefängnis!

Die Diener zögerten nicht lange. Sie ergriffen den Kaufmannssohn Iwan, fesselten ihn an Händen und Füßen und setzten ihn in das steinerne Verlies.

Einige Zeit verging, da beabsichtigte der Prinz, Helena Überklug, die herrlichste Schönheit der ganzen Welt und die Klügste aller Frauen, zu heiraten. Er bereitete sich vor, in das weit entfernte Reich zu reisen und dort um Helena Überklug zu freien.

Kaum war er davongeritten, da geschah es am anderen Tag, daß seine Schwester, die Prinzessin, im Garten spazierenging und an dem Kerker vorüberkam, in dem der Kaufmannssohn Iwan gefangensaß. Er sah die Prinzessin durchs vergitterte Fenster und rief mit lauter



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Stimme: »Mütterchen Prinzessin, ohne meine Hilfe kann dein Bruder nicht heiraten!«

»Was sagst du da? Rede!« antwortete die Prinzessin. Iwan nannte seinen Namen und setzte hinzu: »Ich denke, Prinzessin, du wirst von der List und der Klugheit der Prinzessin Helena Überklug schon gehört haben. Auch ich habe mehr als einmal erfahren, daß sie schon viele Freier in die andere Welt befördert hat. Glaub mir, daß auch dein Bruder ohne mich nicht heiraten kann; vielleicht aber wird er sogar seinen Kopf verlieren.«

»Willst du es denn auf dich nehmen, dem Prinzen zu helfen?«

»Gern würde ich das tun, aber dem Falken sind die Flügel gebunden und alle Wege versperrt.«

Die Prinzessin befahl, Iwan aus dem Gefängnis zu befreien. Sie überließ es seiner freien Entscheidung, alles zu tun, was er wollte, wenn er nur ihrem Bruder zum Heiraten verhalf. Der Kaufmannssohn Iwan suchte sich zunächst Kameraden, einen wackeren Burschen neben dem anderen, die auch äußerlich einander so ähnelten wie Brüder. Er zog ihnen allen die gleichen Kleider an, die nach ein- und demselben Maß genäht waren, verhalf ihnen zu Pferden von gleicher Farbe -gleiche Stimmen, gleiche Haare. Sie saßen auf und ritten davon. Mit dem Kaufmannssohn Iwan zusammen waren es genau zwölf Mann. Sie ritten los und gelangten am dritten Tag in einen finsteren Wald.

Da sagte Iwan: »Halt, Brüder, hier über der Schlucht steht ein hohler alter Baum mit vielen Ästen. Ich muß in die Höhlung hineinschauen, um dort etwas Gutes für mich zu holen.«

Er ritt zu dem Kennzeichen am Baum, griff mit der Hand in die Höhlung und zog eine Tarnkappe daraus hervor. Er verbarg sie an seiner Brust und kehrte zu den Kameraden zurück.

Nachdem sie in das Reich von Helena Ueberklug gekommen waren, ritten sie in die Hauptstadt, suchten den Prinzen auf und baten ihn: »Nimm uns zu dir in Dienst, Prinz, wir werden dir mit reinem Herzen gute Dienste tun.«

Der Prinz überlegte nicht lange und sagte: »Warum soll ich so wackere Burschen nicht in meinen Dienst nehmen, vielleicht können sie mir in der Fremde nützlich werden.«

Dann bestimmte er einem jeden den Dienst; wer Stallbursche und



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wer Koch sein sollte, dem Iwan aber befahl er, ständig bei ihm zu bleiben.

Am anderen Tag zog der Prinz sein Festgewand an und ging zur Prinzessin Helena, um sie zu freien. Sie nahm ihn liebenswürdig auf und bewirtete ihn mit allen möglichen Speisen und köstlichen Getränken.

Dann sprach sie zu ihm: »Ich bin nicht abgeneigt, dich zu heiraten, aber du mußt zunächst drei Aufgaben erfüllen. Wenn du das tust, werde ich dir eine treue Frau sein, wenn aber nicht, so wird dein kühner Kopf nicht auf deinen starken Schultern bleiben.«

»Wozu vorzeitig erschrecken - sage mir die Aufgaben, Helena Überklug!

»Hier hast du meine Aufgaben: Morgen wird bei mir fertig, aber was —sage ich nicht, und zu dem, was du nicht weißt, erdenke und bringe das Deine, daß es ein Paar wird.«

Höchst unlustig ging der Prinz aus dem Palast und ließ den Kopf hängen. Da begegnete ihm Iwan und sagte: »Teile deinen Kummer mit mir, Prinz, es wird für dich leichter sein.«

»Die Prinzessin«, sagte der Prinz, »hat mir eine Aufgabe gegeben, die kein einziger Weiser in der ganzen Welt herausbringen kann.« Und er erzählte Iwan alles der Reihe nach.

»Nun«, sagte Iwan, »das ist noch lange kein so großes Unglück! Bete und lege dich schlafen, der Morgen ist klüger als der Abend, morgen werden wir die Sache überlegen.«

Der Prinz ging schlafen. Der Kaufmannssohn Iwan aber setzte seine Tarnkappe auf und eilte zum Schloß. Dort lief er durch alle Zimmer und schlüpfte endlich ins Schlafgemach der Prinzessin Helena. Da hörte er, wie sie gerade ihrer treuesten Dienerin befahl: »Nimm diesen Goldbrokat und trag ihn zu meinem Schuster. Er soll so rasch wie möglich einen Schuh für meinen Fuß machen.«

Die Dienerin lief -aber Iwan eilte hinter ihr her. Der Meister fing sogleich zu arbeiten an; er arbeitete, so schnell er konnte, klopfte mit dem Hammer, stach mit der Ahle -schnell hatte er den Schuh fertig und stellte ihn ans Fenster. Der Kaufmannssohn Iwan aber nahm den Schuh und verbarg ihn an seiner Brust.

Da wunderte sich der Schuster: »Das ist doch merkwürdig! Auf einmal ist mir meine Arbeit aus den Augen entschwunden!« Er suchte



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und suchte, leuchtete alle Ecken ab - alles umsonst! >Merkwürdig!< dachte er, >hat sich da etwa der Teufel einen Scherz mit mir erlaubt?<

Es war nichts zu machen. Wieder setzte er sich zur Arbeit hin und verfertigte einen Schuh, den er durch die Dienerin an Helena Überklug sandte. Iwan aber ging wieder hinter ihr her und schlich sich mit seiner Tarnkappe wie ein Schatten ins Schloß. Da sah er, wie Prinzessin Helena am Tisch saß, den Schuh mit Gold einsäumte, mit Perlen besetzte und durchwegs mit Edelsteinen besäte. Nun nahm Iwan seinen Schuh heraus und tat flugs das gleiche: Er wählte genau dieselben Steinchen aus wie sie, und wo sie eine Perle hinsetzte, da nahm auch er eine und setzte sie hin. Als Prinzessin Helena den Schuh fertig hatte, betrachtete sie ihn, und er gefiel ihr. Lächelnd dachte sie: >Nun wollen wir sehen, was der Prinz morgen vorzeigt.< Der Kaufmannssohn Iwan aber weckte den Prinzen schon am frühesten Morgen und reichte ihm den Schuh: »Geh zu deiner Erkorenen und zeige ihr diesen Schuh, er enthält die Lösung ihrer ersten Aufgabe!«

Der Prinz wusch sich und kleidete sich an, dann galoppierte er zu seiner Erwählten. Da sah er in ihrem Gemach alle Würdenträger, Bojaren und Ratgeber versammelt. Eine liebliche Musik ertönte. Die Tür zu den inneren Gemächern wurde aufgetan, und die Prinzessin Überklug trat heraus, schritt wie ein Schwan, grüßte nach allen Seiten und begrüßte den Prinzen besonders. Dann nahm sie den Schuh aus der Tasche, der mit Perlen besetzt und mit Edelsteinen besät war. Lächelnd schaute sie den Prinzen an. Alle fremden Bojaren, Würdenträger und Räte, so viele im Palast waren, verschlangen den Prinzen schier mit ihren Augen . . . Der aber sagte zur Prinzessin: »Euer Schuh ist sehr schön, doch wenn der zweite fehlt, ist er zu nichts nutze. Darum schenke ich Euch den anderen dazu, genau den gleichen!«

Er zog seinen Schuh aus der Tasche und stellte ihn neben den ihren. Da schrie die ganze Versammlung vor Staunen und Bewunderung auf! Einstimmig riefen die Würdenträger, Bojaren und Räte: »Heil dem Prinzen! Er hat es erreicht, er wird unsere Prinzessin Helena Überklug heiraten!«

»Wir müssen erst mal sehen, wie er die zweite Aufgabe lösen wird«, sagte drauf die Prinzessin.



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»Ich erwarte dich morgen, Prinz, an dieser Stelle, und hier meine Aufgabe: Zu meinem Unwissenden, Unverständigen, mit Federn und Steinen geschmückt, bringe du das Gegenstück, das gleiche Unwissende, Unvernünftige, mit den gleichen Federn und mit Steinen geschmückt.«

Der Prinz grüßte und ging noch bekümmerter davon als gestern. >Jetzt<, dachte er, >werde ich meinen Kopf nicht mehr lange auf den Schultern tragen!<

Da kam ihm wieder der Kaufmannssohn Iwan entgegen und beruhigte ihn lächelnd: »Laß das Trauern, Prinz! Bete und geh schlafen, der Morgen ist weiser als der Abend!«

Er begleitete den Prinzen zum Schlafen, holte seine Tarnkappe und eilte geschwind ins Schloß. Dort kam er gerade in dem Augenblick an, als die Prinzessin ihrer Lieblingsdienerin den Auftrag gab: »Geh auf den Geflügelhof und bring mir eine Ente!«

Die Dienerin ging - aber Iwan hinter ihr her. Sie nahm eine Ente unter den Arm, während Iwan einen Enterich an seine Brust drückte. Dann gingen sie denselben Weg zurück. Prinzessin Helena setzte sich wieder an ihr Tischchen, nahm die Ente, schmückte ihre Flügel mit Bändchen, das Schöpfchen mit Edelsteinen und hängte ihr ein Perlenkettchen um den Hals. Iwan sah das alles und tat das gleiche mit seinem Enterich.

Am anderen Tag begab sich der Prinz in dasselbe Gemach, wo wieder die Bojaren und Würdenträger versammelt waren. Wieder erklang Musik, die Tür zu den inneren Gemächern ging auf, und die Prinzessin Helena trat herein wie ein Pfau. Hinter ihr trugen die Kammerzofen eine goldene Schüssel herbei, auf der sich unter einem weißen Tuch etwas Lebendiges rührte. Ganz langsam hob die Prinzessin das Tuch auf, ließ die Ente sehen und fragte den Prinzen:

»Hast du meine Aufgabe herausgebracht?«

»Warum sollte ich sie nicht herausbringen?« sagte der Prinz. »Diese Aufgabe erfordert keine Weisheit.«

Er griff in seine Mütze und holte den Enterich hervor. Da schrien alle Bojaren und Würdenträger auf: »Heil dem wackeren jungen Prinzen! Jetzt hat er es erreicht, die Prinzessin Helena für sich zu nehmen!«

Prinzessin Helena Überklug sagte aber mit gerunzelten Augenbrauen:



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»Nein, wartet! Er muß vorher noch meine dritte Aufgabe lösen. Wenn er wirklich ein Held ist, gut, dann soll er mir von meinem Großvater, dem König des Meeres, drei Kopfhaare und drei Barthaare bringen. Dann bin ich gern bereit, ihn zu heiraten.« Der Prinz ging heim, finsterer als eine düstere Herbstnacht, wollte nichts sehen und hören und sprach mit niemandem.

»Laß den Kopf nicht hängen, Prinz!« konnte der Kaufmannssohn Iwan ihm schnell zuflüstern. Er selber aber holte seine Tarnkappe und eilte in den Palast. Da sah er, wie sich die Prinzessin Helena in ihre Kutsche setzte und sich anschickte, ans blaue Meer zu fahren. In seiner Tarnkappe setzte sich Iwan ebenfalls in die Kutsche, und in vollem Galopp ging es mit den schnellen Pferden der Prinzessin zum Meer.

Als sie dort angekommen war, setzte sie sich unter den Felsen am Meeresufer auf einen Stein, wandte ihr Gesicht dem blauen Meer zu und begann ihren Großvater, den Meerkönig, zu rufen. Das blaue Meer erbrauste wie im Sturm. Trotz des hellen Wetters stieg eine hohe, strudelnde Woge auf, brach sich oben in einem schäumenden silbernen Kamm, rollte wie streichelnd zum Ufer und verlief sich leicht im goldfarbenen Ufersand, wo sie sich in kleine kristallene Wasserstrahlen aufteilte, die Perlmuttermuscheln vom Ufer wegtrieben. Jetzt erhob sich der uralte Großvater bis zum Gürtel aus dem Wasser. Auf seinem Kopf standen in dichten Büscheln graue Haare, die in der Sonne glänzten und schillerten wie Silber, die Augenbrauen hingen ihm in Zotten herunter, sein Gesicht aber war wie mit Moos von einem dichten goldenen Bart bedeckt, der einer Welle gleich über die Brust hinunterfloß, sich über die Schultern ausbreitete und den Körper bis zum Gürtel einhüllte.

Der Meergreis stützte sich mit seinen Gänsepfoten auf einen Stein, schaute mit seinen grünen Augen in die Augen von Helena Überklug und sagte: »Guten Tag, liebe Enkelin! Lange habe ich dich nicht gesehen, schon lange hast du mir keine Zärtlichkeiten erwiesen . . Aber jetzt - kratze mir das Köpfchen.«

Mit seinem zottigen Kopf ließ er sich vor der Enkelin auf die Knie nieder und versank in süßen Schlummer.

Helena Überklug aber betrachtete die Haare des Großvaters. Sie wickelte sie um ihre Finger und drehte sie zu Ringeln zusammen,



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sagte dem Großvater zärtliche Worte ins Ohr und sang ihn leise in Schlaf. Sowie sie merkte, daß er eingeschlafen war, riß sie ihm drei silberne Haare aus. Der Kaufmannssohn Iwan aber riß ihm gleich ein ganzes Büschel aus.

Da erwachte der Goßvater, sah die Enkelin an und sagte schläfrig: »Bist du verrückt? Das tut doch weh!«

»Verzeih, Großväterchen«, sagte Helena Ueberklug, »ich habe dir deine Locken schon lange nicht mehr gelegt, sie haben sich alle verwickelt und zerzaust.«

Der Großvater hörte schon nichts mehr, er schnarchte bereits wieder.

Nach einer kurzen Weile riß die Prinzessin drei Haare aus seinem Bart. Da dachte der Kaufmannssohn Iwan: >Das brauche ich ebenfalls<, packte den Großvater beim Bart und riß ihm eine ganze Handvoll Haare aus . . Da wurde der Meer-Großvater aus dem Schlaf gerüttelt, er brüllte auf vor Schmerzen, und -plumps! — verschwand er im Strudel; nur kleine Bläschen blieben oben noch sichtbar.

Am anderen Tag trat die Prinzessin ins Gemach und dachte: >Jetzt ist mir der Prinz gewiß verfallen!<

Sie zeigte ihm die drei goldenen und die drei silbernen Haare und sagte: »Nun, Prinz, hast etwa auch du so etwas Wunderbares erlangt?«

»Aber Prinzessin! Da hast du noch etwas zum Großtun gefunden! Wenn du es willst, schenke ich dir gern je ein ganzes Büschel von diesem Zeug!«

Die Versammlung brüllte vor Erstaunen, als der Prinz alsbald die Haare des Großvaters aus seinem Busen hervorholte. Jetzt wurde die Prinzessin sehr böse. Sie eilte in ihr Schlafgemach, schaute in ihrem Zauberbuch nach und sah, daß nicht der Prinz der Schlaue war, sondern sein Lieblingsdiener, der Kaufmannssohn Iwan. Sie kehrte zu den Gästen zurück und sagte leise und heimlich:

»Du hast meine Aufgaben nicht allein gelöst, Prinz, dein Lieblingsdiener Iwan hat dir dabei geholfen... Ich möchte den wackeren Jüngling gern sehen -schicke ihn geschwind zu mir!«

»Prinzessin, ich habe nicht einen Diener, sondern ganze zwölf.«

»Dann schicke mir den, der Iwan heißt.«



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»Ja, sie heißen alle Iwan.«

»Gut, dann sollen sie alle kommen.«

Bei sich aber dachte die Prinzessin: >Ich werde den Schuldigen schon herausfinden.<

Der Prinz schickte seine Diener: es kamen zwölf wackere Burschen. Alle hatten sie die gleichen Gesichter, waren gleich groß gewachsen, ein Haar glich dem andern, eine Stimme der anderen.

»Wer ist der erste unter euch?«

Da riefen sie alle auf einmal: »Ich bin der erste, ich bin der erste!« >Gut<, dachte die Prinzessin Helena, >habe ich euch so nicht erwischt, so werde ich euch auf andere Art fangen.<

Sie befahl, elf einfache Becher und einen zwölften goldenen zu bringen. Sie goß kostbaren Wein in die Becher und fing an, die Burschen zu bewirten. Keiner aber wollte die einfachen Becher auch nur ansehen, alle streckten die Hände nach dem goldenen aus, einer riß ihn dem anderen aus der Hand. Sie machten einen großen Lärm und verschütteten den Wein. Jetzt sah die Prinzessin, daß auch dieses Mittel keinen Erfolg brachte. Sie befahl den Dienern des Prinzen, im Palast zu übernachten. Am Abend gab sie ihnen reichlich zu essen und zu trinken, und sie legten sich dann auf weichen Federn schlafen. Als sie fest eingeschlafen waren, ging Helena Überklug zu ihnen ins Schlafzimmer, schaute in ihr Zauberbuch und sah sofort, wer von ihnen der Kaufmannssohn Iwan war. Da nahm sie eine Schere und schnitt ihm die Haare an der linken Schläfe ab, denn sie dachte sich: >An diesem Zeichen werde ich ihn morgen erkennen und werde ihn hinrichten lassen.<

Am Morgen erwachte der Kaufmannssohn Iwan vor allen anderen, griff sich an den Kopf und entdeckte, daß seine Haare an der Schläfe abgeschnitten waren!

Schnell sprang er aus dem Bett und weckte die Kameraden: »Nehmt schnell Scheren, Brüder«, sagte er, »und schneidet euch die Haare an der Schläfe ab.«

Nach einer Stunde wurden sie zur Prinzessin Helena gerufen. Die schaute nicht schlecht, denn bei allen waren die Schläfenhaare abgeschnitten. Voller Verdruß nahm sie ihr Zauberbuch und warf es in den Ofen. Dann rief sie den Prinzen zu sich und sagte: »Ich werde dich heiraten! Mache dich zur Hochzeit bereit!«



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Der Prinz ließ nun vor allem seine zwölf braven Jungen kommen und sagte zu Iwan: »Reite zu meiner Schwester und sage ihr, sie solle alles zur Hochzeit vorbereiten.«

Iwan kam zur Prinzessin, erzählte ihr vom Bruder und übergab ihr seinen Befehl.

»Ich danke dir, du braver Jüngling und treuer Diener, für deinen Dienst«, sagte die Prinzessin-Schwester zu Iwan. »Sage mir jetzt, womit soll ich dich belohnen?«

»Womit belohnen?« antwortete der Kaufmannssohn Iwan. »Laß mich wieder an den alten Platz im Kerker setzen.«

Soviel auch die Prinzessin auf ihn einreden mochte, er blieb auf seinem Verlangen bestehen.

Als der Prinz mit seiner Braut ankam, versammelten sich die Würdenträger, Bojaren und fremden Gäste, beglückwünschten ihn zu seinem Erfolg und überreichten ihm Salz und Brot. . . Es war so viel an Volk zusammengeströmt, daß man auf den Köpfen hätte spazierengehen können.

»Aber wo ist denn mein treuer Diener Iwan?« fragte der Prinz, »warum sehe ich ihn nicht hier?«

Da antwortete ihm die Prinzessin: »Du hast doch selbst befohlen, ihn in den Kerker zu setzen.«

»Ist es denn möglich, daß es derselbe ist?«

»Derselbe -ich habe ihn nur vorübergehend zu deiner Hilfe entlassen.«

Da befahl der Prinz, Iwan vor ihn zu führen, umarmte ihn und bat unter Tränen, nichts Böses von ihm zu denken.

»Weißt du, Prinz«, sagte der Kaufmannssohn Iwan, »ich habe dir meinen Traum damals deshalb nicht erzählt, weil ich das alles im Traum vorhergesehen habe, was dir später beschieden war! Jetzt urteile selber, wenn ich dir das alles erzählt hätte -hättest du mich doch sicher für einen halben Verrückten gehalten?«

Der Prinz belohnte Iwan; er erhob ihn zum Angesehensten seines Reiches nach sich selber. Iwan aber ließ seinen Vater und die Brüder kommen, und sie lebten glücklich beisammen und erwarben Reichtümer ohne Zahl.


Copyright: arpa, 2015.

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