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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Vom Elend

In einem Dorfe lebten zwei Brüder, der eine war reich, der andere arm. Dem Reichen floß alles wie von selber zu, in allem hatte er Glück und Erfolg. Bei dem Armen aber ging alles rückwärts, so sehr er sich auch plagte und arbeitete. Der Reiche hatte in wenigen Jahren schon so viel erworben, daß er in die Stadt übersiedelte, sich dort ein großes Haus baute und sich in die Kaufmannsgilde eintragen ließ. Der Arme aber kam immer weiter herunter, daß oft im ganzen



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Haus kein Stück Brot mehr zu finden war. Ein ganzer Haufen Kinder, eins kleiner als das andere, weinte und jammerte um Essen und Trinken.

Da haderte der Arme mit seinem Schicksal, wurde völlig mutlos und ließ den Kopf immer tiefer hängen. Er ging zu seinem reichen Bruder in die Stadt und sprach: »Hilf mir, ich bin schon ganz kraftlos geworden!«

»Warum soll ich dir nicht helfen?« sagte der Reiche. »Ich kann alles. Nur arbeite du bei mir diese ganze Woche.«

»Einverstanden«, antwortete drauf der Arme und machte sich an die Arbeit. Er kehrte den Hof, putzte die Pferde und spaltete Holz. Nach einer Woche gab ihm der Reiche einen Groschen und einen Laib Brot.

»Ich bin auch für das dankbar!« sagte der Arme zu ihm und wollte wieder nach Hause gehen. Da rührte sich bei dem Bruder das Gewissen, und er sagte: »Wo willst du denn hin? Morgen ist mein Namenstag, bleib da und schmause mit uns zusammen.«

Der Arme blieb zum Schmause bei dem Bruder. Aber zu seinem Unglück erschienen viele reiche Gäste und vornehme Leute, und der Bruder mußte sie eifrig bewirten. Er mußte sich vor ihnen tief verneigen, damit sie gern aßen und tranken und seine Schmeicheleien im Gedächtnis behielten. Dabei dachte er zuletzt gar nicht mehr an den armen Bruder. Der konnte nur von ferne zuschauen, wie all die fremden Leute aßen und tranken und sich an guter Unterhaltung ergötzten. Als das Mahl zu Ende war, standen die Gäste auf und bedankten sich beim Hausherrn und bei der Hausfrau. Auch der Arme verneigte sich bis zum Gürtel. Die Gäste gingen nach Hause und waren sehr lustig. Sie lachten, lärmten und sangen fröhliche Lieder.

Der Arme aber ging voll Hunger nach Hause und dachte dabei: >Ich will auch ein Lied singen! Die Leute sollen dran denken, daß man auch mich am Namenstag des Bruders nicht übersehen und nicht vergessen hat, daß man mich gesättigt und mir ein Räuschlein angehängt hat.<Also fing er an zu singen -doch auf einmal fuhr er zusammen. . . Er hörte deutlich, daß jemand hinter ihm mit dünner Stimme hersang. Wenn er schwieg, dann schwieg auch die andere Stimme, wenn er sang, so wiederholte die Stimme wieder dasselbe...



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»Ja, wer singt denn da - komm vor!« schrie der Arme. Da sah er ein Ungeheuer vor sich - so dünn und gelb, daß es kaum die Seele in sich behalten konnte. Es war völlig mit Lumpen bedeckt, die es mit Lindenbast zusammengebunden hatte; auch die Füße waren mit Bastfasern umwickelt. Der Bauer war vor lauter Schreck ganz eingeschüchtert und redete das Ungeheuer an: »Wer bist du?«

»Ich bin das Elend. Ich habe Mitleid mit dir gehabt und bin dabei, dir beim Singen zu helfen.«

»Gut, Elend, ziehen wir miteinander durch die Welt, Arm in Arm.

Ich sehe, daß ich doch keinen anderen Freund finden kann.«

»Dann komm! Ich verlasse dich auch so nicht!«

»Aber worauf wollen wir denn fahren?«

»Ich weiß nicht, worauf du fahren wirst, ich selber aber werde auf dir reiten . .

Und mit einem Satz schon saß es im Genick des Bauern. Er aber besaß nicht die Kraft, das Elend abzuschütteln. So trottete er denn seines Weges, schleppte das Elend auf seinen Schultern dahin und konnte kaum noch die Beine vorwärtsbringen. Das Ungeheuer aber sang lustig und trieb ihn mit einem Stöckchen an.

»Soll ich dir mein Lieblingsliedchen beibringen? Das mußt du immer singen, wenn du traurig wirst:

Ich bin das traurige Elend!
Mit Lindenbast bin ich umgürtet,
Bastfasern hab' ich als Schuhe.
Mit mir, dem Elend, zusammen leben
heißt ohne Sorgen sein.
Wenn kein Geld da ist -
auf Gelder warten.
Fest eingebunden war ein Groschen
vor den bösen Tagen.


***
Du hast jetzt auch einen Groschen und einen Laib Brot. Komm, laß uns ihn vertrinken und lustig sein!«

Sie gingen und vertranken den Groschen. Dann kamen sie heim, wo Frau und Kinder ohne Brot dasaßen und weinten. Das Elend aber zwang den Bauern zum Tanz. Am folgenden Morgen stöhnte das



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Elend und sagte: »Von dem Rausch tut mir der Schädel weh.« Und abermals rief es den Bauern zum Schnapstrinken.

»Ich habe kein Geld!« sagte der Bauer.

»Ich habe dir doch gesagt, daß, wenn kein Geld da ist, man auf Gelder warten muß. Nimm die Egge und den Pflug, den Schlitten und den Wagen, das alles wollen wir vertrinken, für heute reicht es dann schon!«

Da war nichts zu ändern -der Bauer konnte das Elend nicht loswerden; es hatte sich fest bei ihm eingenistet. So schleppte er sich dahin, trank und bummelte.

Am anderen Tage stöhnte das Elend noch viel mehr und sagte: »Komm, heute werden wir lustig sein und alles vertrinken, alles verpfänden . . . Wir wollen uns zu Leibeigenen machen!«

Der Bauer aber sah seinen Untergang vor sich; deshalb griff er zu einer List. Er sagte zu dem Elend: »Ich habe von alten Leuten gehört, daß in unserer Gegend am Rande des Dorfes seit uralten Tagen ein Schatz vergraben ist. Er liegt aber unter einem so schweren Stein, daß ich nicht die Kraft habe, ihn allein aufzuheben. . . Schön könnten wir miteinander trinken und lustig sein, wenn wir diesen Schatz höben.«

»Was ist dabei, komm, holen wir ihn! Das Elend hat Kraft genug zu allem!«

Sie gingen zum Rande des Dorfes und kamen an einen großen, schweren Stein. Fünf Bauern hätten ihn nicht vom Fleck bringen können, aber unser Bauer und das Elend hoben ihn mit einem Male auf. Sie rissen die Augen weit auf; wirklich war unter dem Stein eine tiefe, finstere Grube, in der ganz unten etwas glitzerte. Der Bauer sprach zu dem Elend: »Steig da in die Grube hinunter und hole das Gold, ich warte einstweilen hier und halte den Stein.« Das Elend stieg hinunter, jauchzte in der Grube vor Freude auf und schrie: »Hier, Bauer, sind Schätze ohne Zahl! Zwölf bauchige Krüge bis zum Rande voll Gold, einer neben dem andern!«

Es reichte dem Bauern einen Krug hinauf. Der nahm ihn an sich, ließ den Stein an seinen alten Platz fallen und begrub so das Elend in der Goldgrube.

>Geh nur zugrunde mitsamt deinem Reichtum<, dachte der Bauer, >mit dir gerät nichts Gutes.<



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Als anderer Mensch ging der Bauer nach Hause. Mit dem Geld aus dem Krug kaufte er Holz, setzte seine Hütte instand, vermehrte seinen Viehstand, arbeitete noch fleißiger als früher, machte Handelsgeschäfte, und es gelang ihm, in einem Jahr so reich zu werden, daß er an Stelle der alten Hütte ein großes Haus erbaute. Dann fuhr er in die Stadt zu seinem Bruder und lud diesen und seine Frau in seinen Neubau ein.

»Da hast du dir was Schönes ausgedacht!« sagte der reiche Bruder lachend, »du selber hungerst und hast nichts zu essen, und hier errichtest du einen Neubau und veranstaltest Schmausereien.«

»Ja, das war einmal, daß ich nichts zu essen hatte, aber jetzt - Gott sei gelobt - lebe ich nicht schlechter als du. Komm und sieh dir's an.«

Am anderen Tag kam der reiche Kaufmann in das Dorf, darin sein Bruder wohnte, sah, daß bei dem armen Schlucker ein neues Haus gebaut war, so groß, wie nicht einmal ein Kaufmann in der Stadt eins hatte. Der arme Schlucker bewirtete den reichen Bruder reichlich und machte ihn betrunken. Aber dann, als seine Zunge locker geworden war, erzählte er ihm ganz aufrichtig, wie er selber reich geworden war. Den Reichen packte der Neid, und er dachte: >Ha, was ist doch mein Bruder für ein Dummkopf! Von den zwölf Krügen hat er sich nur einen genommen! Wenn man Geld hat, ist doch kein Elend zu fürchten! Ich werde hingehen, den Stein aufheben, das Gold nehmen und das Elend wieder herauslassen. Von mir aus soll es dann den Bruder um Haus und Hof bringen.<

Der Reiche verabschiedete sich vom Bruder, fuhr aber nicht heim, sondern gleich zu dem Steine hin. Nach langem Bemühen wälzte er ihn ein wenig zur Seite, um in das Loch hineinzusehen, aber kaum hatte er seinen Kopf hinabgebeugt, da war auch schon das Elend herausgesprungen und saß ihm im Genick. Der Reiche spürte auf seinen Schultern eine schwere Last, sah sich um und erblickte das fürchterliche Ungeheuer. Das Elend aber schrie ihm ins Ohr: »So einer bist du? Du wolltest mich hier umkommen lassen! Aber jetzt gehe ich von dir nicht mehr weg!«

»Närrisches Elend!« sagte der Reiche, »ich habe dich ja überhaupt nicht unter den Stein gesetzt, du darfst doch mich, den Reichen, nicht belästigen! Da, geh zu meinem Bruder und halte dich an ihn!«



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Aber das Elend wollte nichts hören.

»Nein«, schrie es, »du lügst! Einmal hast du mich betrogen, ein zweites Mal soll dir das nicht gelingen!«

Der Reiche brachte das Elend mit sich nach Hause, und all sein Reichtum zerfiel . . . Der arme Bruder aber lebt noch jetzt in Zufriedenheit und singt heitere Lieder.


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