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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Die Wunderblume

Über einem schönen, reichen Lande strahlte am Tage die Sonne und leuchteten nachts der Mond und die Sterne. Der Acker war gut, und das Korn gedieh prächtig, wenn die Menschen fleißig waren. Sie waren auch fleißig, sie arbeiteten den ganzen Tag und oft bis in die Nacht. Aber sie waren brummig und böse, beschimpften einander und gönnten sich gegenseitig nichts Gutes. Und weil sie so stark und unverträglich waren, schlugen sie sich auch miteinander, und nach dem Streit blieb oft einer blutend am Boden, während der andere noch böser und düsterer heimging. Lachen und Freude kannten sie nicht und konnten nicht fröhlich sein, denn sie hatten die Liebe verloren, waren also trotz allen Reichtums arm und sehr unglücklich.

Es gab nur einen Menschen, der jeden liebte und jeden mit seinen Augen und seinem Mund anlachte. Akulina war die schöne Tochter des alten Iwan Gregorowitsch, der von den Menschen wegen seiner Weisheit und Güte verehrt wurde. Akulina trug langes schwarzes Haar, in das sie sich frühmorgens viele bunte Blumen wand, deren zarter Duft sie umgab. Wenn sie in dem großen Garten spazierenging, sprang ein flinkes kleines Reh neben ihr her, und die Vögel flatterten von den Bäumen herunter.

Jenseits des großen Flusses, der das Land im Norden begrenzte, befand sich das Reich des bösen Eisfürsten. Dort war die Erde ganz weiß, so weit das Auge sehen konnte. Kalte Winde wehten bei Tag und Nacht, und große, schwere Eiszapfen hingen von Bäumen und Felsen. Der Eisfürst lebte in einem Schloß aus Eiskristallen, in dem nie eine Stimme zu hören, nie eine Menschenseele zu sehen war; nur Elfen und Gnome, die den Fürsten bedienten, huschten heimlich durch die Säle.

Die längste Zeit des Jahres hielt der Fürst sich in seinem Reiche verborgen. Zuweilen aber fiel er in das schöne, blühende Land ein. Schneeflocken wirbelten wild und ungestüm hinter ihm her; Menschen und Tiere verkrochen sich angstvoll in ihren Stuben und Höhlen, denn sie fürchteten sich vor ihm.

Wohl hatten die Menschen schon öfter versucht, gegen ihn zu kämpfen, denn sie waren mutig genug. Als sie aber wieder einmal berieten, wer gegen ihn ausziehen sollte, waren sie darauf in Streit



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geraten, daß sie sich gegenseitig erschlugen und viele ihr Leben einbüßten. So hatten sie schließlich den Kampf gegen ihn aufgegeben; seine Macht war geblieben, und sie zitterten oft wieder vor Ängsten und Not.

Eines Tages geschah's, daß der Eisfürst von dem schönen Mädchen erfuhr, von ihren schwarzen Haaren, ihren blauen Augen, von ihrer köstlichen Stimme und von der Wonne ihres Lachens. Er dachte sich: >Dieses Mädchen will ich mir zur Frau nehmen<, denn er war der Einsamkeit müde.

Zusammen mit seinem Schneegefolge machte er sich auf und flog ins Land der strahlenden Sonne. Schnell wurden dort die blühenden Felder weiß, und die Sonne verkroch sich vor Entsetzen. Der Eisfürst flog zum Haus von Iwan Gregorowitsch, das sich auf einem kleinen Hügel befand und von hohen, dunklen Tannen umgeben war. Er trug ein weißes, glitzerndes Gewand und hatte riesige schwarze Flügel. Seine Gesichtszüge waren finster und grausam, seine Augen schauten kalt und düster.

Iwan Gregorowitsch saß in seinem alten Lehnstuhl, und neben ihm saß Akulina. Sie beide sahen dem Eisfürsten voller Schrecken entgegen, der gleich an der Tür stehengeblieben war und sie herrisch anblickte. Der Alte fragte ihn schließlich, was er wolle.

»Deine Tochter will ich zur Frau«, forderte grimmig der Eisfürst. »Meine Tochter?«rief Iwan Gregorowitsch entsetzt. »Nie und nimmer sollst du sie haben!«

»Dann werde ich sie mit Gewalt mit mir nehmen«, bekam er zur Antwort, und die Worte des Eisfürsten klangen wie klirrendes Eis.

Akulina selber antwortete dem Eindringling ganz ruhig: »Nie und nimmer werde ich Eure Gemahlin. Gegen meinen Willen könnt Ihr mich nicht entführen. Denn Ihr wißt genau, daß alle guten Kräfte der Welt mir helfen werden, und denen bleibt Ihr immer unterlegen.

Ich bitte Euch also, daß Ihr in Euer Reich zurückkehrt.«

Der Fürst war, während sie sprach, nur noch bleicher geworden. Eine blasse Wut zog in seinen Augen auf.

»Du hast recht, das muß ich zugeben«, sagte er. »Gewalt kann mir nicht helfen, aber ich lasse dich nicht zufrieden. Du sollst zu Eis erstarren und ohne Leben sein. Ober euer Land werde ich ein weißes Tuch breiten, und alles Leben soll vergehen. Nur allein die Liebe



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kann dich noch retten, aber die kann in dieser Kälte nicht gedeihen.«

Weit breitete er seine Arme aus, blies dem Mädchen den kalten Hauch des Todes ins Gesicht und zog davon.

Akulina versank in den Armen des Alten, schwer wurden ihre Glieder, und alles Leben schien aus ihr entwichen.

Auf Iwan Gregorowitschs Rufen eilten die Mägde herbei. Großes Wehklagen erfüllte das Haus. Akulina wurde auf ihr weiches Bett getragen, das neben dem großen Ofen stand. Kerzen wurden angesteckt. Der Vater saß neben ihr und schluchzte. Auch die alte Wurzelfrau, die bei allen Krankheiten half und die gleich herbeigeholt wurde, rang voller Verzweiflung ihre Hände und wußte nicht zu raten.

Übers ganze Land aber hatte sich indessen der Schnee gelegt. Die Blumen senkten traurig ihre Köpfchen und starben ab. Die Bäume verloren fröstelnd ihre Blätter. Die Bäche erstarben unter der Last des Eises, und die Flüsse und Seen froren zu. Viele Wochen vergingen. Die Sonne wollte nicht mehr scheinen, dunkel und kalt war es im Land, und jeder Tag brachte mehr Jammer und Klagen.

Nahrung mangelte, es gab kein Holz mehr, um die Ofen zu heizen. Krankheiten schlichen in die Hütten. Das Ärgste aber war für die Menschen, daß Akulina wie tot darniederlag und ihr Herz, in dem allein noch die Liebe gewohnt hatte, nicht mehr schlug. Immer feindseliger schauten die Menschen einander an, alle Freude und alles Licht verschwand.

Nur in der kleinen Hütte dicht am Walde gab es noch Wärme und Freude. Dort lebte ein junger Bursche mit seiner Mutter. In ihrem Ofen war das Feuer noch nicht erloschen, weil Aljoscha öfters in den Wald ging, um Holz zu holen. Auch der Hunger war hier noch unbekannt, und wenn die Sonne ihnen auch zu jeder Tageszeit fehlte, so waren sie doch heiter und voll von Hoffnung, denn sie liebten einander, und an dieser Liebe wärmten sie sich. Aljoscha war ein geschickter und fleißiger junger Mann; wenn er einmal ins Dorf kam und die anderen klagen hörte, dann nickte er, sprach aber ein aufmunterndes Wort und ging still seines Wegs. Wieder einmal wollte er zum Holzholen in den Wald gehen.

Über Nacht war Schnee gefallen. Der Schnee lastete schwer auf den



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Bäumen. Die Luft war still und sehr kalt. Aljoscha sammelte den Korb voll Holz, hackte einen kleinen Baum um und legte die Scheite obenauf. Zum Verschnaufen setzte er sich auf einen Baumstamm. Mit einem Male stand ein graues Zwerglein vor ihm, dem die Tränen über seine Runzelbäckchen rannen.

»Nanu«, rief er, »wie kommst denn du Kerlchen hierher, und warum weinst du?«

»Ach«, sagte der Zwerg und zog umständlich ein großes Tuch aus feinen Spinnweben aus seiner Tasche, »es ist ein großes Leid, das der weiße Fürst uns antut. Wir armen Zwerge vermögen es kaum noch, in der Erde zu leben.

Sie ist hartgefroren wie Stein, und wenn das noch lange so weitergeht, müssen wir nächstens noch alle erfrieren.«

Er schluchzte und Aljoscha empfand großes Mitleid für ihn. »Uns Menschen geht's nicht besser«, sagte er, und der Zwerg nickte. Auf dem Heimweg war Aljoscha sehr traurig. Als er wieder daheim war und das Feuer lustig brennen sah, hatte er den Zwerg bald vergessen und zeigte sich wieder zufrieden und froh.

Am nächsten Morgen machte er sich auf, um unterm Schnee nach welkem Gras zu suchen. Die Ziege im Stall hatte nichts mehr zu fressen. Er rückte den Schnee beiseite und rupfte sich eine Tasche voll. Dann setzte er sich unter einen hohen einsamen Baum und schaute weit übers weiße Land. Plötzlich rauschte es über ihm, und ein großer Vogel setzte sich vor ihm in den Schnee. Er schaute ihn mit unsagbar traurigen Augen an und fing an, sein Leid zu klagen. Er krächzte. »Wir armen Vögel finden bald nichts mehr zu fressen, denn der Schnee wird zu hoch, und das Fliegen fällt uns in der kalten Luft immer schwerer.«

Müde schlug er mit den Flügeln. Große Tränen rollten aus seinen Augen.

Aljoscha blickte ihn ratlos an. Warum klagen ihm alle ihr Leid? Er nahm seine Tasche und begab sich langsam zur Hütte zurück. Bald darauf sagte die Mutter zu ihm:

»Aljoscha, mein Junge, hör zu: wir haben kein Wasser mehr. Geh doch zum Fluß, welches zu holen.«

Er nahm seine Axt und griff sich zwei Eimer und ging hinunter zum Fluß, ein kleines Loch in das Eis zu hacken, um Wasser zu schöpfen.



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Das Eis war sehr dick und es kostete ihn ziemliche Mühe. Als er aber endlich Wasser im Eimer hatte, tauchte ein schöner großer Fisch in der Öffnung auf, der erst tüchtig nach Luft schnappte und dann zu sprechen begann: »Ach, es ist große Not hier im Fluß. Wenn der böse Winter sich nicht bald verabschiedet, müssen wir alle sterben. Wenn uns doch bloß jemand helfen könnte.«

»Ja«, sagte Aljoscha und nickte. »Wenn uns nur einer helfen wollte!

Wenn ich's nur könnte, wollte ich's von Herzen gern tun.«

Kaum hatte er so gesprochen, als er hörte, wie über ihm Flügelschlagen ertönte und der große Vogel vor ihm auf dem Eise landete.

»Du kannst's schon«, krächzte er und schlug mit den Flügeln.

»Du kannst es«, rief auch der Fisch und schnappte nach Luft.

»Du kannst es«, sagte es neben Aljoscha noch einmal, und als er. sich umwandte, erkannte er das graue Zwerglein neben sich.

Aljoscha setzte sich auf einen Stein und fragte ungläubig: »Ich sollte helfen können, ich armer dummer Kerl?«

»Ja«, gaben die drei zur Antwort.

»Und was muß ich denn tun?«

Der Zwerg trat geheimnisvoll näher und flüsterte: »Du mußt die rote Wunderblume suchen.«

»Der weiße Fürst hat sie vor langer Zeit geraubt. Wenn du sie wiederbringst, muß er in sein Reich zurück«, rief der Fisch.

Und der Vogel krächzte: »Wenn du sie bringen wirst, sind wir alle erlöst, Tiere und Menschen.«

»Wo aber finde ich die Wunderblume?« wollte Aljoscha wissen.

»Im Reiche des Eisfürsten«, rief der Fisch, und Zwerg und Vogel nickten dazu.

»Erzählt mir mehr davon«, bat sie Aljoscha.

Der Zwerg fing an zu sprechen:

»Jenseits vom großen Flusse, tief in dem weißen, öden Land steht ein dunkler, riesiger Turm. Drei Tiere bewachen ihn: ein Wolf, eine Eule und ein weißer Bär. Sie sind stark und kräftig, und nur ein tapferer Mensch kann sie besiegen.

In dem Turm befindet sich nur ein einziges Gemach und in diesem die Wunderblume. Sie ist in einem Glaskästchen eingeschlossen und weint oft bittere Tränen vor lauter Sehnsucht nach unserem Sonnenland.



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Du mußt wissen: sie ist lange Zeit schon dort eingeschlossen und mit ihr alles Menschenglück.

Sie ist es gewesen, die den Menschen die Freude brachte, die heimliche Freude an allem Schönen, die tief in ihren Herzen saß. Ja, es war eine schöne Zeit, als sie unter uns blühte. Da lachten die Menschen, wo sie sich sahen, und halfen einander, waren gut und verständig, weil sie einander liebten. Eines Tages geschah nun das Unglück. Der Eisfürst zog im Sturm über unser Land, riß sie ab von der Wiese, auf der sie blühte, steckte sie in das Glaskästchen und nahm sie mit sich weg. Kaum aber hatte sie unser Land verlassen, als Mißgunst und Neid unter den Menschen zu herrschen begannen und niemand mehr Liebe verspürte. Wir aber haben sie nicht vergessen, auch nicht die schöne Akulina, und weil auch du ein gutes, reines Herz besitzest, sollst du uns helfen, sie zu befreien.«

»Ich will sie zurückholen«, rief Aljoscha, »ich will sie befreien, was es auch kosten mag.«

»Alle Lebewesen unseres Landes werden dir dafür danken«, krächzte der Vogel. »Denn wir stehen dem Tode schon näher als dem Leben.«

Der Fisch aber schnappte nach Luft und rief:

»Und auch die schöne Akulina wirst du erlösen. Du brauchst ihr nur die Wunderblume zu bringen, dann wird sie die Augen wieder aufschlagen und leben.«

Aljoscha lachte und rief: »Nun tue ich es noch mal so gern.« Er erhob sich und wollte nach den Eimern greifen. Doch der Zwerg hielt ihn noch zurück. »Wenn du Hilfe brauchst, poche nur dreimal auf die Erde und rufe:

>Zwerglein, schnell, kommt zur Stell'<,


***
dann werden alle meine Brüder kommen und dir helfen.« Der Vogel kam dicht zu ihm geflogen und sprach: »Wenn du Hilfe brauchst, rufe nur:
>Vöglein, schnell, kommt zur Stell'<,


***
dann kommen alle meine Brüder und werden dir helfen.«



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Und der Fisch rief: »Wenn du meine Hilfe brauchst, rufe:


>Fischlein, schnell, kommt zur Stell'<,

dann werden alle meine Brüder kommen und dir helfen.« Aljoscha dankte ihnen allen von Herzen und versprach ihnen, sich keine Ruhe zu gönnen, bis er die Wunderblume erlöst habe. Dann ging er mit seinen Eimern nach Hause.

Am nächsten Morgen begab er sich auf den Weg. Bang schaute ihm die Mutter nach. »Daß es ihm doch gelingen möchte«, sagte sie leise. Aljoscha ging zunächst zum alten Iwan Gregorowitsch. Er wollte Akulina sehen und den Alten trösten, denn überall sprachen die Menschen von dem großen Schmerz, der auf ihm lastete. Im Hause war alles still. Die Mägde schlichen auf Zehen durch die Zimmer, und nicht ein lautes Wort war zu hören. Selbst die schönen Hunde hatten den Schwanz eingezogen und waren in die Ecken gekrochen. Das alte Wurzelweibchen führte Aljoscha in das Zimmer, darin der Alte wie jeden Tag am Bett seiner schönen Tochter saß. Völlig weiß geworden vor Kummer war sein Haar und hing ihm jetzt über die Schultern herab.

»Du willst uns helfen?«fragte er leise.

»Ja, Väterchen«, antwortete ihm Aljoscha, »euch, Akulina und allen im Lande.«

»Wenn du meine Tochter wieder zum Leben aufweckst, wirst du sie zur Frau bekommen und nach meinem Tod das Haus dazu.«

Aljoscha freute sich, verneigte sich vor Iwan Gregorowitsch, küßte die starre Hand Akulinas und verließ das Haus.

Viele Tage lang mußte er wandern, bevor er den großen Fluß erreichte. Vielerlei Not und Elend sah er, das Schlimmste aber war der Haß, der die Menschen gegeneinander hetzte. Mit wehem Herzen schaute er sie an und eilte weiter, um rasch zum Ziel zu kommen. Als er endlich den großen Fluß erreicht hatte, blieb er voll Verzagen stehen und überlegte, wie er wohl hinüberkäme. Schwimmen war unmöglich, dazu war der Fluß zu kalt und zu breit. Sollte ich hier schon scheitern? Nie und nimmer. Mit einem Male fiel ihm das Verschen ein, das der Fisch ihm gesagt hatte. Er legte seine Hände an den Mund und rief:



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»Fischlein, schnell, kommt zur Stell'.«


***
Da rauschte es im Wasser, und ehe er sich's versah, glitzerte und schimmerte vor ihm eine unabsehbare Menge von Fischen; ein besonders großer Fisch, der eine goldene Krone auf dem Kopfe trug, schwamm zu ihm und fragte:

»Du hast uns gerufen, was wünschest du?«

»Bringt mich über den Fluß!«

»Setze deine Füße auf uns«, sprach der Fisch, und rasch trugen sie ihn zum anderen Ufer hinüber.

Als Aljoscha an Land sprang, hatte kein einziger Wassertropfen seine Füße berührt. Er bedankte sich bei den Fischen und ging weiter zum Lande des Eisfürsten. Wieder mußte er viele Tage und Nächte wandern. Nirgends sah er ein Wesen, das lebte wie er. Überall sah er nur Schnee und Eis. Wenn einmal ein Baum in den Himmel ragte, war er nicht schön wie die Bäume seiner Heimat, sondern kahl und verkrüppelt. Wie nackte Arme streckte er seine Äste aus, und Aljoscha fürchtete sich sehr, wenn er solchen Gespenstern im einsamen Schneefeld begegnete. Einmal erkannte er am Horizont einen schwarzen Streifen, beim Näherkommen sah er, daß es ein tiefer Graben war, der die Erde weit auseinanderspaltete. Wie komme ich da hinüber, überlegte er und wollte schon hinabklettern, da fiel ihm der Vogel ein. Er legte wieder die Hände an seinen Mund und rief:

»Vöglein, schnell, kommt zur Stell'.«


***
Da rauschte es in der klaren Luft, und der Himmel wurde schier schwarz von Vögeln. Ein Adler ließ sich neben ihm zur Erde und sprach: »Was wünschest du?«

»Bringt mich bitte über diesen Graben«, antwortete Aljoscha, und schon schwebte er hoch in den Lüften und wurde an der anderen Seite sanft zu Boden gesetzt. »Ich danke euch«, rief er, und während er weiterwanderte, flogen die Vögel wieder davon. Endlich, nach weiteren drei Tagen und drei Nächten gelangte er zu dem hohen Turm. Eine mächtige glatte Mauer umgab ihn, und so sehr er sich auch abmühte, nirgends gelang es ihm, ihn zu ersteigen. Da dachte er an den grauen Zwerg, pochte dreimal auf die Erde und rief:



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»Zwerglein, schnell, kommt zur Stell'.«

Da huschte es über die weiße Erde. Ein schmaler Gang wurde sichtbar, der in die Tiefe führte. Ein Zwerglein erschien und winkte Aljoscha zu, ihm zu folgen.

Sie gingen durch den dunklen Gang und kamen in einen glänzenden Saal. Das ganze Zwergenvolk war da versammelt; auf seinem erzenen Thron saß der kleine Zwergenkönig.

»Was willst du von uns?«fragte er.

Aljoscha verneigte sich und antwortete:

»Ich will die rote Wunderblume befreien und bitte euch, mir zu helfen, daß ich in den Turm gelange.«

»Wenn du die Wunderblume willst, wollen wir dir gern jeden Wunsch erfüllen; denn sie dauert uns sehr, und immer, wenn aus ihrem Kelch eine Träne fällt, kommt neuer Jammer in unsere Herzen. Hast du aber auch genug Mut? Die Tiere sind stark, die sie bewachen.«

»Ich habe Mut, zeigt mir nur den Weg in den Turm.«

Der König erhob sich und führte ihn zu einem Gang. »Hier gehe weiter«, sagte er, »dann kommst du auf den Hof, der zwischen Mauer und Turm liegt. Meine Zwerge werden dich dort oben erwarten.«

Aljoscha bedankte sich und stieg nach oben. Als er ins Freie trat, stand er mitten im Hof, und dicht vor ihm lag der Turm. Vor dessen Eingang aber lag der Wolf. Er mußte wohl geschlafen haben, denn er reckte sich und blinzelte mit den Augen. Kaum aber hatte er Aljoscha gesehen, als er auch schon mit großem Geheul auf ihn zusprang. Aljoscha hob die Faust und versetzte ihm einen Schlag auf die Schnauze. Da fiel der Wolf zu Boden, als ob er tot wäre.

Aljoscha ging langsam und vorsichtig auf den Eingang zu. Da hörte er Fauchen und Flügelschlagen, und überm Umwenden sah er, wie sich die riesengroße Eule auf ihn herabstürzte. Ihre Augen glühten wie zwei feurige Kohlen. Sie streckte schon ihre Krallen nach ihm aus. Da griff er zu, packte und schlug ihren Kopf zur Erde. Sie blieb liegen wie tot.

Er wollte sich schon wieder dem Eingang zuwenden, als er ein Brummen hörte, und sein Herz erzitterte. Auf ihn zu kam der weiße



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Bär. Er hatte kleine schwarze Augen und blickte ihn boshaft an. Aljoscha sah sich um. Bei dem konnte gewiß kein Schlag mit der Faust nutzen. Da sah er zur Linken einen schweren Stein liegen, hob ihn auf und schleuderte ihn auf den Bären, gerade als dieser ihn packen wollte. Der Stein traf das Tier vor den Kopf und es fiel zu Boden. Nun konnte Aljoscha ungehindert den Turm betreten. Eine Treppe führte nach oben, und er kam in das einzige Gemach, das zu finden war. Ein wunderbar rotes Licht strahlte ihm entgegen. Süßer Duft hüllte ihn ein. Auf einem glitzernden Eissockel sah er das Glaskästchen mit der Wunderblume stehen. Das Licht spiegelte sich in den Eiskristallen an den Wänden. Es war ein Funkeln, wie er es noch nie gesehen hatte. Nur schwer vermochte er sich von diesem Anblick loszureißen. Schließlich aber ergriff er behutsam das Glaskästchen und eilte die Treppe hinunter.

Die Tiere lagen noch genauso, wie er sie verlassen hatte. Rasch lief er über den Hof, und als er wieder im Gang war, wo die Zwerge auf ihn warteten, fühlte er erst, wie heftig sein Herz klopfte. Die Zwerge führten ihn zum König. »Du bist ein guter und tapferer Mensch«, sagte dieser. »Jetzt aber eile, so schnell du kannst, in deine Heimat zurück, der Eisfürst kann deine Tat schnell erfahren, und wenn er dich einholt, dann wehe dir.«

Aljoscha lief, und die Furcht, daß der Fürst ihm die Blume wieder abnehmen könne, ließ ihn nicht müde werden. Er eilte Tage und Nächte. Oft wandte er sich besorgt um, ob etwa der Böse schon käme. Endlich sah er den Fluß. Schon wollte er vor Freude jubeln, da hörte er hinter sich lärmendes Toben, und als er sich umwandte, erkannte er den Fürsten mit seinem ganzen Schneegefolge. Er preßte das Glaskästchen fest an seine Brust und lief und lief! Er kam zum Fluß, sagte sein Verslein und sprang, als die Fische kamen, auf deren spiegelnde Leiber. Wenige Augenblicke darauf erreichte der Fürst das Ufer.

Aber Aljoscha war ihm entkommen. Zornbebend stand der Eisfürst da und sah dem Fliehenden mit seinen grausamen Augen nach. Aljoscha aber lachte: »Mit deiner Macht ist es vorbei«, rief er, und als er das andere Ufer erklommen hatte, winkte er ihm noch einmal zu. Der böse Eisfürst schäumte vor Wut, drehte sich um und flog in sein Reich zurück.



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Aljoscha wanderte ruhig und glücklich durch sein Land zum Hügelhaus, in dem der Alte lebte.

Wo er auch vorüberkam, schmolzen Schnee und Eis. Das Gras wurde wieder grün und die Blumen begannen zu blühen. Die Menschen kamen aus ihren kalten, dumpfen Wohnungen, sahen seit langer Zeit wieder den blauen Himmel, sahen die Sonne, die Vögel, sahen sich an und fühlten, wie der Haß, der sie gehetzt hatte, verschwand und wie sie einander plötzlich wieder lieb und teuer wurden. Alle wollten die Wunderblume sehen, mit der die Liebe zu ihnen zurückkehrte.

Aljoscha erreichte das Haus und wurde mit Jubel begrüßt. Iwan Gregorowitsch schloß ihn in die Arme und führte ihn dann zu seiner Tochter. Kaum aber war das rote Licht der Blume auf ihr bleiches Gesicht gefallen, als es sich belebte, und nach wenigen Minuten schon schlug Akulina die Augen auf.

Sie feierten eine ganz wunderschöne Hochzeit, zu der auch Aljoschas alte Mutter geladen wurde, und das ganze Land feierte mit ihnen. Die rote Wunderblume aber blieb bei ihnen. Sie hatten sie auf die schönste Wiese gepflanzt, wo sie blühen und gedeihen konnte, und schützten sie nun einträchtig vor aller Gefahr; denn sie hatten erkannt, daß sie ohne sie nicht leben konnten, daß sie allein der Quell war, aus dem jedes Leben, jede Freude, jedes Licht aufstieg.


Copyright: arpa, 2015.

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