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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Die weiße Ente

Ein großmächtiger Fürst heiratete einmal eine ganz wunderschöne Fürstin. Er hatte noch nicht genügend Zeit gefunden, sie zu bewundern, sich mit ihr zu unterhalten und sie anzuhören, da mußte er sich bereits von ihr trennen, eine weite Reise antreten und die junge Frau fremden Händen überlassen. Die Fürstin vergoß viele Tränen. Der Fürst aber gab ihr viele gute Ermahnungen. Er sagte, sie solle ihren hohen Palast nicht verlassen, nicht mit anderen Leuten verkehren, keine fremden Reden anhören und sich vor fremden Weibern hüten.

Die Fürstin versprach, alles zu erfüllen. Der Fürst reiste ab, sie aber schloß sich in ihr Gemach ein. —Dort saß sie und ging nicht hinaus. Eines Tages saß sie wieder am Fenster und weinte. Da kam eine Frau vorbei. Sie schien einfach und gutherzig zu sein. Den Ellenbogen hatte sie auf eine Krücke gestützt und hielt das Kinn in der Hand. Sie sagte einschmeichelnd und zärtlich: »Was bist du immer so traurig, liebe Fürstin? Wenn du nur ein bißchen aus dem Palast gehen und Gottes schöne Welt anschauen wolltest, wenn du dich nur ein wenig im Grünen ergingest, dann würde auch dein Kummer leichter.«

Lange leistete die Fürstin Widerstand und wollte die Reden dieser Frau nicht anhören, aber schließlich dachte sie: >Es wird kein Unglück geschehen, wenn ich ein- oder zweimal im Garten auf und ab gehe.<



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Aber sie erkannte nicht, daß diese Frau eine Hexe war, die sie ins Verderben bringen wollte, weil sie die Fürstin um deren Glück beneidete.

Die Fürstin ging mit ihr im Garten umher und hörte ihre klugen und heimtückischen Worte an. In diesem Garten rieselte auch eine kristallklare Quelle.

»Wie«, sagte die Frau, »heute ist ein so heißer Tag, die Sonne brennt mit aller Kraft, und das Wasser ist so schön kühl und plätschert so lieblich - wollen wir uns nicht hier baden?«

»Ach, nein, nein, ich will nicht!« sagte die Fürstin, dachte aber bei sich: >Warum nicht? Ein Bad kann nicht schaden!<

Sie nahm ihren Sarafan ab und sprang ins Wasser. Kaum war sie hineingesprungen, da versetzte ihr die Frau einen Schlag auf den Rücken und sagte: »Schwimm du jetzt als weiße Ente!«

Sogleich raffte die Hexe alle Kleider der Fürstin zusammen, zog sie an, schminkte sich und setzte sich an ihrer Stelle in den Palast, um den Fürsten zu erwarten. Als dann die Hunde bellten und die Glöckchen ertönten, lief sie ihm entgegen, warf sich ihm an den Hals, küßte und streichelte ihn. Der Fürst war so erfreut, daß er ihr als der ersten die Hand entgegenstreckte. Er dachte, vor ihm stehe seine Frau und nicht die böse Hexe.

Die weiße Ente aber, die in dem hellen Wasser schwamm, legte Eier und brütete Junge aus, zwei kräftige und ein drittes, das sehr schwächlich war. Ihre Kinder wurden größer, schwammen auf dem Flüßchen herum, fingen Goldfischchen, sammelten kleine Lumpen, um sich zu kleiden, und gingen auch ans Ufer, um sich auf der Wiese umzusehen.

Da sagte die Mutter zu ihnen: »Ach Kinder, geht nicht dorthin. Dort lebt eine böse Hexe. Sie hat mich ins Unglück gebracht, sie wird auch euch verderben!«

Die Kinder hörten aber nicht auf die Mutter. Heute liefen sie im Gras herum, morgen jagten sie nach Ameisen, immer weiter und weiter, bis sie endlich zum Hof des Fürsten kamen. Die Hexe erkannte sie sogleich und knirschte vor Wut mit den Zähnen. Sie tat aber recht zärtlich, lockte die Kinder in den Palast, fütterte und tränkte sie und legte sie in ein Bettchen. Ihren Leuten aber befahl sie, auf dem Hof ein Feuer anzuzünden, einen Kessel darüber aufzuhängen



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und die Messer zu wetzen. Die zwei Brüder legten sich hin und schliefen ein -das kümmerliche Entlein aber, das die Brüder unter den Flügeln tragen mußten, damit es sich nicht erkälte, schlief nicht. Es sah und hörte alles. Nachts kam die Hexe an ihre Tür und fragte: »Schlaft ihr, Kinderlein?«

Das kümmerliche Entlein antwortete für die Brüder: »Wir schlafen und schlafen nicht, aber wir denken, daß man uns schlachten will. Es werden glühende Scheiterhaufen aufgerichtet. Kochkessel aufgehängt und stählerne Messer geschliffen!«

Sie schlafen nicht, dachte die Hexe und ging davon weg. Nach einer Weile kam sie wieder und fragte: »Schlaft ihr, Kinder, oder nicht?«

Wieder schrie das Entlein statt der Brüder aus den Kissen heraus: »Wir schlafen und schlafen nicht. Wir denken, daß man uns alle schlachten will. Man richtet glühende Scheiterhaufen auf, hängt Kochkessel darüber und wetzt die stählernen Messer!«

>Das ist ja nur immer eine Stimme<, dachte die Hexe, >da muß ich doch nachsehen!<Sie öffnete leise die Tür und sah -daß die beiden Brüder fest schliefen . . . Da brachte sie alle um.

Am Morgen rief und suchte die weiße Ente ihre Kinder. Aber all ihr Rufen und Suchen war umsonst, sie kamen nicht. Das Unglück preßte ihr das Herz zusammen. Sie schüttelte sich und flog zum Hofe des Prinzen. Dort lagen, weiß wie Taschentücher, wie Fladen, die Brüder nebeneinander. Sie warf sich auf sie, schlug mit den Flügeln und klagte laut:

»Krja, krja, ihr meine Kinderlein!
Krja, krja, ihr meine Lieblinge!
In Nöten habe ich euch geboren!
Mit Tränen habe ich euch getränkt!
Die finstere Nacht habe ich nicht zerstreut,
keine Süßigkeit genossen.«


***
Der Fürst hörte das Klagelied und rief die Hexe zu sich. »Frau, hörst du das? Das ist ja noch nie dagewesen!«

»Das kommt dir nur so vor! Heda, ihr Diener, jagt die Ente vom Hof!«



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Man scheuchte sie fort, aber sie flog im Kreis herum und wieder zu den Kindern hin:

»Krja, kra, meine Kinderlein!
Krja, krja, ihr Lieblinge mein!
Die alte Hexe hat euch umgebracht,
die alte Hexe, die böse Schlange,
sie hat den Vater euch genommen,
den Vater, meinen lieben Mann!
Ins rasch fließende Wasser hat sie euch versetzt,
in weiße Entchen hat sie euch verwandelt.
Sie aber lebt weiter und brüstet sich.«

Jetzt stieg dem Fürsten eine böse Ahnung auf, und er schrie: »Fangt mir die weiße Ente!«

Alle beeilten sich, seinen Befehl auszuführen, aber die weiße Ente flog im Kreis herum und ließ sich von keinem fangen. Schließlich trat der Fürst selber auf die Freitreppe, da flog die Ente auf seine Hand. Er faßte sie vorsichtig bei den Flügeln und sagte: »Stehe als weiße Birke hinter mir, aber als schönes Mädchen vor mir.«

Da verwandelte sich die weiße Ente wieder in die schöne Fürstin. Sie zeigte, wie man aus dem Nest einer Elster ein Fläschchen mit Lebenswasser und Sprechwasser holen konnte, besprengte damit die Kinder, und sie wachten auf. Sie besprengte sie dann auch mit dem Sprechwasser, und sie redeten. Nun stand vor dem Prinzen seine ganze Familie unversehrt da. Alle freuten sich des Lebens und vergaßen das Böse.

Die Hexe aber wurde auf Befehl des Fürsten an einen Roßschweif gebunden und über die Felder geschleift. Ihr Fleisch verzehrten die Aasgeier, und ihre Gebeine wurden vom Winde verweht, so daß von ihr keinerlei Spur und Erinnerung zurückblieb.


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