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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Die sieben tüchtigen Brüder

In einem weit, weit entfernten Königreich, das hinter vielen Inseln, hohen Bergen und breiten Flüssen lag, stand in einer Ebene, die so glatt war wie ein Tischtuch, eine große Stadt. In dieser Stadt lebte ein König mit Namen Archidei. Nach seinem Vater hieß er Agejewitsch. Er war ein kluger und sehr gescheiter König. Unzählig waren



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seine Reichtümer, die Zahl seiner Krieger wußte er selber nicht. Vierzig mal vierzig Städte waren ihm untertan, und in jeder Stadt standen zehn Schlösser mit silbernen Türen, goldenen Decken und kristallenen Fenstern. Sein Rat bestand aus zwölf der weisesten Männer, jeder hatte einen ellenlangen Bart und einen erhabenen Verstand. Alle sagten dem König die Wahrheit, und keiner von ihnen wagte es, zu lügen. Wie, meint man, sollte ein solcher König nicht lustig und glücklich sein? Aber es ist klar, weder Weisheit noch Reichtum machen glücklich, wenn im Herzen der Kummer nagt. Er ist ein Bösewicht und kommt auch in die goldenen Paläste zu Gast. Der König Archidei war reich und gescheit und außerdem so schön, daß man es sich nicht vorstellen, es nicht beschreiben und auch nicht erzählen kann. Aber er konnte keine Braut nach seinem Geschmack finden, die gerade so schön gewesen wäre wie er selbst, und darüber verspürte der König oft Kummer und Pein.

Eines Tages saß er auf seinem goldenen Thron und war in tiefes Nachdenken versunken. Da sah er ein Kauffahrteischiff heranschwimmen und im Hafen gegenüber seinem Palast landen. Die Matrosen machten die weißen Segel fest, ließen einen schweren Schiffsanker ins Meer hinab, warfen die Schiffstreppe aus und schickten sich an, ans Ufer zu gehen. Allen voran schritt der Kaufherr, ein alter Mann mit grauem Bart. Da kam es dem König Archidei in den Sinn: Die fremden Kauffahrer sind erfahrene Leute. Sie segeln auf den Meeren und sehen vielerlei Wunderdinge. Ich will sie fragen, ob sie nicht eine Prinzessin gesehen haben, die ebenso schön und klug ist wie ich selber, der König Archidei. Und der König befahl, die Schiffer in seinen Palast zu rufen. Sie kamen, beteten und begrüßten den König. Der ließ jedem ein Glas grünen Weins einschenken. Die Kauffahrer tranken den Wein, wischten ihre Bärte mit einem Handtuch ab, und König Archidei fing an, mit ihnen zu reden:

»Es ist uns bekannt, ihr fremden Schiffer, daß ihr auf den Meeren fahrt und viele Wunderdinge seht. Ich möchte euch über eine Sache befragen, aber gebt mir wahre, aufrichtige Antwort.«

»Bitte, König Archidei Agejewitsch«, antworteten die Kauffahrer, »wir werden dir die reine Wahrheit sagen, um was auch immer du uns fragen willst.«



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»Also sagt mir: Habt ihr nicht erfahren, ob es nicht bei einem Zaren, einem König, bei starken, hohen Fürsten Töchter gibt, ebenso schön und klug wie ich, der König Archidei selber, daß eine von ihnen meine Gemahlin und Königin meines Reiches werden könnte?«

Die Kauffahrer besannen sich, dachten und dachten, dann sprach der Älteste von ihnen zum König: »Ich habe gehört, daß jenseits des Meeres auf einer Insel, auf Busan, ein großes Königreich liegt und daß der König von Busan eine Tochter hat, die Prinzessin Helena. Sie ist von solcher Schönheit, daß sie sicher nicht schlechter ist als du, und sie ist so klug, daß ein alter weiser Mann ein Rätsel von ihr in drei Jahren nicht herausbringt.«

»Ist es weit zu dieser Insel, und wie führt der Weg dorthin?«

»Diese Insel ist nicht nahe«, sagte der Kauffahrer. »Der Seeweg dorthin dauert von hier aus zehn Jahre. Den Weg zu ihr wissen wir nicht, und wenn wir ihn auch wüßten, so ist doch die Prinzessin Helena für dich, König Archidei, keine Braut.«

König Archidei erzürnte und sagte: »Wie kannst du es wagen, Kaufmann, mir solche Worte zu sagen?«

»Dein königlicher Wille steht über uns; aber bedenke doch selber: Wenn du einen Gesandten zur Insel Busan schickst - er muß dorthin zehn Jahre fahren, und zehn Jahre braucht er zurück, das sind schon zwanzig Jahre. In dieser Zeit wird auch die Prinzessin Helena älter — ist doch alle Mädchenschönheit wie eine vorüberfliegende Schwalbe - sie währt nicht lange.« König Archidei dachte nach.

»Gut«, sagte er zu den Schiffern. »Ich danke euch, meine Gäste, die ihr hergekommen seid, ihr Handelsleute, zieht mit Gott. Handelt in meinem Reich ohne Abgaben und Zölle, ich werde schon selber mit meinen königlichen Gedanken wegen Prinzessin Helena zu einer Lösung kommen.«

Die Kauffahrer verbeugten sich tief vor dem König und gingen aus dem königlichen Palast. Der König Archidei aber saß da und hing seinen Gedanken nach, als wickele er einen Knäuel ab und käme nicht zu Ende damit.

Traurig und unlustig wurde ihm ums Herz. Er ließ seine Falkner und Jäger um sich versammeln.

»Ich will ausreiten und die trüben Gedanken meines Herzens auf



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freiem Feld verjagen«, sagte er. »Ich will mich ergötzen und mich freuen, vielleicht wird so der Morgen klüger als der Abend.« Die Falkner und Jäger bliesen auf ihren goldenen Hörnern, nahmen die Falken auf ihre Hände und ritten mit König Archidei hinaus. Sie schauten, ob nicht irgendwo ein Reiher aufflöge, auf den sie den lichten Falken loslassen könnten.

So ritt der König lange mit seinem königlichen Jagdgefolge umher und kam zu einem grünen Eichenhain. Dahinter war das ganze Land mit Weizen bebaut, voll goldener Ähren. Er hielt an, betrachtete es und ergötzte sich.

»Sieh da«, sagte er, »hier haben offenbar gute Arbeiter das Feld gepflügt und besät. Wenn in meinem Reich alle Felder so bebaut wären, dann vermöchte mein Volk das Brot in Ewigkeit nicht aufzuessen, man könnte es übers Meer schicken und übers Meer her dafür Gold und Silber bringen.«

Der König Archidei befahl zu ermitteln, wem das Feld mit dem Sommerweizen gehöre. Seine Jäger ritten davon, kamen zu den Feldern und sahen sieben Bauern, immer ein strammer Bursche neben dem andern, wie Milch und Blut. Sie aßen gerade zu Mittag nach Bauernart Roggenbrot und Wasser. Sie hatten rote Hemden mit goldenen Streifen an. Von diesen sieben Jungen war einer dem anderen so ähnlich, daß man sie einfach nicht auseinanderhalten konnte.

Da richteten die königlichen Abgesandten die Frage an sie: »Wem gehört das Feld, das mit dem goldährigen Sommerweizen bebaut ist?«

Die sieben jungen Bauern antworteten: »Das ist unser Feld, wir haben es gepflügt und besät.«

»Was seid ihr für Leute?«

»Wir sind Arbeiter des Königs Archidei, Bauern, Feldpflüger, alle Brüder, Kinder eines Vaters und einer Mutter, und man nennt uns die sieben Simeonows.«

Die Abgesandten brachten dem König Archidei die Antwort der Bauern, und der König wünschte diese Bauern, seine guten Feldpflüger und Arbeiter, zu sehen. Also befahl er, sie vor seine überaus hellen königlichen Augen zu führen.

Die sieben tüchtigen Jünglinge kamen, grüßten den König, und er



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fragte sie: »Was seid ihr für Leute? Gehört das Feld, das mit dem goldährigen Sommerweizen besät ist, euch?«

Einer von den sieben wackeren Burschen antwortete ihm:

»Wir sind deine Arbeiter, König Archidei, einfache, ungebildete Bauern, als Pflüger der Felder geboren, Kinder eines Vaters und einer Mutter, und man nennt uns die sieben Simeonows. Unser alter Vater hat uns gelehrt zu beten und dir, o König, zu gehorchen, die Abgaben richtig zu zahlen und unermüdlich den Acker zu pflügen. Er hat uns auch verschiedenes Handwerk gelehrt nach dem alten Sprichwort: Ein Handwerk trägt man nicht auf der Schulter, aber man hat es gut mit ihm. Der Vater hat uns befohlen, das Handwerk für die schwarzen Tage aufzusparen und das heimatliche Feld niemals zu verlassen, friedlich zu leben, zu pflügen und zu eggen und nicht müßig zu gehen. >Wenn ihr die Mutter Erde nicht vergeßt<, hat er gesagt, >sie gut durchpflügt und zur rechten Zeit besät, so wird sie, die Mutter der Heimat, euch hundertfach belohnen und mit Brot nähren. Sie wird euch ein weiches Ruheplätzchen bereiten, wenn ihr dereinst alt geworden seid und euer Leben zu Ende geht.<«

Diese einfache bäuerliche Antwort gefiel dem König Archidei. »Wohl euch, ihr guten Jünglinge -Pflüger der Felder, daß ihr Weizen sät; er wächst bei euch wie Gold. Nun aber sagt mir, welches Handwerk hat euch der Vater gelehrt und was wißt ihr davon?« Da antwortete der erste Simeon: »Mein Handwerk, König Archidei, ist keine Kunst: Wenn du mir Material und Arbeiter gibst, so baue ich dir aus weißen Steinen eine Säule, höher als die Wolken, fast bis zum Himmel hinauf.«

»Gut«, sagte König Archidei. »Und du, zweiter Simeon, was hast du für ein Handwerk gelernt? Sprich!« Der zweite Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist auch keine Kunst: Wenn mein Bruder dir aus weißen Steinen eine Säule baut, so steige ich auf diese Säule bis dicht unter den Himmel und sehe von da aus alle Königreiche unter der Sonne. Ich werde dir dann erzählen, was in jedem Reiche vor sich geht.«

»Gut«, sagte der König Archidei, »und du, dritter Simeon, was für ein Handwerk treibst du?«

Der dritte Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist ein einfaches bäuerliches, gar nicht geheimes. Schiffe, die für dich



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passen, bauen auch deine gelernten Meister, erfahrene Seeleute, mit allen Kunstgriffen, aber wenn du es befiehlst, werde ich sie dir ganz einfach bauen: eins, zwei, drei, und das Schiff ist fertig! Aber meine Schiffe werden nicht wie ein Trog sein, den der Bauer selbst gemacht hat; wo ein Meerschiff ein Jahr braucht, dort fährt das meinige nur eine Stunde, und wo ein Schiff zehn Jahre braucht, da kommt das meinige in einer Woche hin.«

»Gut«, antwortete der König Archidei, »aber du, vierter Simeon, welches Handwerk kannst du?«

Der vierte Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist kein bedeutendes. Wenn dir mein Bruder ein Schiff baut und ich fahre in diesem Schiff, packe ich es, wenn ein Feind es verfolgt oder ein Sturm kommt, bei seiner schwarzen Nase und ziehe es in das Meer hinab, wo es still und unzugänglich tief ist. Wenn dann der Feind verschwunden ist und der Sturm sich beruhigt hat, dann führe ich dich wieder auf das freie, weite Meer.«

»Gut«, sagte König Archidei. »Und du, fünfter Simeon, was weißt du? In welchem Handwerk bist du erfahren?«

Der fünfte Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist keines, bei dem die Hände weiß bleiben, sondern das schwarze Schmiedehandwerk: Lasse mir eine Schmiede einrichten, und ich schmiede dir ein Gewehr. Es gibt keinen Adler unterm Himmel und kein grausames, wildes Tier im Walde, das sich vor diesem Gewehr schützen könnte. Sobald es das Auge gesehen hat, ist es auch schon erschossen.«

»Gut«, sagte König Archidei, »jetzt sage du mir, sechster Simeon, was für ein Handwerk treibst du?«

Der sechste Simeon antwortete: »Es ist fast peinlich, König Archidei, mein Handwerk zu erwähnen. Es besteht darin, daß ich das, was mein Bruder mit seinem Gewehr geschossen hat, sei es im Wald oder unter dem Himmel, nicht auf den Boden fallen lasse, sondern besser als ein Jagdhund erfasse. Fällt es ins Meer, hole ich es aus den Wogen heraus, fällt es in dichten Urwald, finde ich es auch in finsterer Mitternacht, bleibt es an einer Wolke hängen, so hake ich es von der Wolke los.«

Dem König Archidei gefielen die Handwerke der sechs Simeonows sehr. Sie waren einfach, nicht verwickelt und nicht gekünstelt. Er



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fand auch Gefallen an den Reden der Bauern. Daher sagte er zu ihnen: »Ich danke euch, ihr Bauern, Feldpflüger und Arbeiter! Der Vater hat euch die Wahrheit gesagt, daß man ein Handwerk nicht auf den Schultern trägt, daß man aber mit ihm gut fährt. Kommt mit mir in meine königliche Hauptstadt zur Probe! Solche Leute, wie ihr seid, kann ich brauchen. Aber wenn die Zeit für euch kommt, Korn zu mähen und es in Garben zu binden, auf der Tenne zu dreschen und auf den Markt zu bringen, werde ich euch mit meiner königlichen Gnade entlassen.«

Da verneigten sich alle sieben Simeonows tief vor dem König und sagten: »Wie es dein königlicher Wille ist, wir sind deine Arbeiter.« Jetzt erinnerte sich der König, daß er den siebenten Simeonow noch nicht gefragt hatte, und er sagte zu ihm: »Warum schweigst du und sagst nichts zu mir? Welches Handwerk kennst du?«

Der siebte Simeonow antwortete: »Ich habe kein Handwerk, König Archidei, was ich auch zu lernen versuchte, es war alles vergeblich. Und doch kenne ich ein Handwerk, aber es ist ein heimliches, und ich weiß nicht, ob es deiner königlichen Gnade gefällt.«

»Sprich«, sagte der König, »was ist das für ein heimliches Handwerk?«

»Nein, König Archidei, gib mir zuerst dein königliches Wort, daß du mich nicht hinrichten wirst, sondern mich wegen meiner Worte begnadigst, dann will ich dir von meinem Handwerk erzählen.« »Dein Wille geschehe: Ich gebe dir mein königliches, heiliges Wort. Ich werde dich nicht hinrichten lassen, sondern begnadigen.«

Da richtete sich der siebente Simeon auf, sah sich um, räusperte sich und sagte: »Mein Handwerk, König Archidei, ist ein so geheimes, daß man dafür in deinem Reiche hingerichtet wird und kein Erbarmen kennt: Ich bin - im Vertrauen gesagt -ein Meister im Stehlen und kann alles Gestohlene verschwinden lassen. Es gibt kein so versiegeltes Gut, kein Geheimschloß, keine so dicht zugemauerte Vorratskammer, woraus ich nicht alles stehlen könnte, was ich will.« Da empörte sich der König Archidei sehr und ergrimmte: »Nein«, sagte er, »ich begnadige dich nicht, spitzbübischer Dieb! Ich lasse dich auf die schlimmste Art hinrichten, ich lasse dich an eiserne Ketten schmieden und werfe dich in die unterirdische Finsternis bei trockenem Brot und Wasser, bis du dein Handwerk verlernt hast.«



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»König Archidei! Lasse mich nicht hinrichten, laß' mich noch ein Wort sagen«, antwortete der siebente Simeon.

»>Wer nicht erwischt wird, ist kein Dieb<, sagt ein altes Sprichwort, und der ist noch kein Dieb, der stiehlt, aber der ist ein Dieb, der die Diebe beschützt. Wenn ich stehlen wollte, hätte ich dir längst deinen ganzen königlichen Schatz gestohlen, mit deinen Richtern geteilt und mir mit dem Rest einen Palast aus weißen Steinen gebaut. Du siehst also, so ist meine einfache, dumme bäuerliche Natur: Ich kann zwar stehlen, aber ich tue es nicht, und wenn du mich um mein Handwerk gefragt hast, durfte ich dir da nicht die reine Wahrheit sagen? Wenn du mich aber dafür, daß ich die Wahrheit gesagt habe, zum Tode verurteilst, wo bleibt da dein königliches Wort, mich nicht zu verurteilen, sondern zu begnadigen?«

»Gut«, sagte der König Archidei, »ich werde dich nicht zum Tode verurteilen; für dieses Mal begnadige ich dich. Aber von dieser Stunde an wirst du Gottes Welt nicht mehr schauen, die helle Sonne nicht mehr sehen und nicht den silbernen Mond. Du wirst nicht mehr auf dem freien Feld herumwandeln, sondern du wirst mein teuerer Gast in einem solchen Palaste sein, wo kein Strahl der warmen Sonne hinkommt. Ergreift ihn und schmiedet ihn an eiserne Ketten! Führt ihn zu meinem Kerkermeister! Ihr aber, ihr sechs Simeonows, kommt mit mir, ihr habt meine königliche Gnade und bekommt eine große Belohnung. Morgen fangt ihr an, das zu machen, was jeder von euch kann.«

Die sechs Simeonows gingen mit dem König, den siebenten aber packten die Häscher, führten ihn fort und schmiedeten ihn an Ketten. Dann setzten sie ihn in die Finsternis bei Wasser und Brot. Der König Archidei befahl, dem ersten Simeon Zimmerleute, Steinmetzen, Schmiede, Arbeiter, Ziegelsteine, Steine, Eisen, Lehm und Kalk zu geben. Und Simeon baute einen Turm. Nach Bauernart brannte die Arbeit unter seiner Hand, und es ging sehr schnell vorwärts. Er baute aus weißen Steinen einen Turm bis zu den Wolken, unter die größten Sterne, die kleineren Sterne aber zogen unter dem Turm vorüber. Von oben erschienen die Menschen so winzig wie Ameisen, die auf dem Boden hin und her laufen.

Dann stieg der zweite Simeon auf den Turm, schaute, blickte umher, horchte auf alles, was unter dem Himmel vorging, stieg wieder herunter,



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und der König befahl ihm zu erzählen, was er gesehen, betrachtet und von dem gehört hatte, was unter der Sonne vorging. Simeon erzählte ihm, wo ein König mit einem anderen Krieg führte, wo einer einen Krieg im Sinne hatte, wo der Friede geschlossen wurde, und dann sagte er ihm noch allerlei geheime Sachen, daß der König lächelte und die Wojewoden und Räte nach seinem Beispiel ebenfalls in Gelächter ausbrachen.

Jetzt ging der dritte Simeon an seine Arbeit. Er bekreuzte sich, stülpte die Ärmel auf, nahm das Beil in die Hand und: eins, zwei, drei - das Wunderschiff war fertig.

König Archidei fuhr zum Ufer des Meeres und befahl, das Schiff vom Hafen aus vom Stapel zu lassen. Das Schiff schwamm dahin, so schnell wie ein weißgeflügelter Falke, der aus einer Kanone geschossen wird, an den Masten aber waren statt des Takeiwerkes Saiten gespannt, und die Gudokspieler ließen darauf mit ihren Bögen schöne Weisen ertönen.

Als aber das Schiff auf dem freien Meer dahinschwamm, packte es der vierte Simeon beim Schnabel, als ob es gar kein Schiff gewesen wäre, und ging damit unter das Wasser wie ein versinkender Stein. Nach einer Stunde aber zog er es mit der linken Hand wieder aus der Tiefe des Meeres empor, und mit der rechten holte er noch einen großen Fisch heraus, damit für den Tisch des Königs Archidei ein leckerer, gefüllter Pirog gebacken werden konnte.

Während sich König Archidei mit dem Schiff ergötzte, hatte der fünfte Simeon auf dem königlichen Hofe eine Schmiede errichtet. Dort trat er den Blasebalg, machte das Eisen glühend, hämmerte es — und fertigte das Gewehr an.

König Archidei aber begab sich aufs freie Feld und sah hoch am Himmel, gerade unter den Wolken, kaum noch erkennbar, wie ein Punkt auf einem Ass, einen Adler fliegen, der in die Sonne schaute.

»Nun sieh«, sagte der König Archidei zu dem fünften Simeon, »der Adler schaut in die Sonne -schieße ihn. Wenn du ihn triffst, werde ich dich belohnen.«

Da lachte Simeon, stopfte eine silberne Kugel in das Gewehr, legte an und drückte ab. Mit nach oben gekehrten Füßen flog der Adler aus den Wolken, der sechste Simeon ließ ihn aber nicht zu Boden



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fallen - er rannte mit einer Schüssel hin, fing ihn damit auf und brachte ihn dem König Archidei.

»Ich danke euch, ihr wackeren Jünglinge, meine Bauern, Feldpflüger und Arbeiter!« sagte der König. »Ich sehe, daß ihr alle geschickte Handwerksleute seid, und dafür belohne ich euch. Geht jetzt, eßt und ruht euch aus.«

Die sechs Simeonows verneigten sich tief vor dem König, beteten, setzten sich an den Tisch, tranken ein Glas Wein und schickten sich an, eine heiße Kohlsuppe zu essen.

Aber siehe da: Es kam der königliche Narr zu ihnen gelaufen und winkte mit seiner gestreiften Mütze, an der die Schellen erklangen. »Ihr dummen Bauerntölpel«, sagte er, »ihr habt genug Zeit gefunden und denkt nur ans Essen! Macht schnell! Der König Archidei verlangt nach euch!«

Nun liefen die sechs Simeonows in den königlichen Palast. Sie waren ganz bestürzt und dachten: Was mag da für ein Unglück passiert sein?

Sie sahen sich um: An den Türen standen die königlichen Lanzenträger mit langen Schnurrbärten und eisengepanzerten Pferden, im Palast aber waren alle Wojewoden und die weisen Räte versammelt. Der König selbst saß mit finsterer Miene da und sann.

»Hört«, sagte er, »ihr meine Bauern und Arbeiter, ihr tüchtigen Brüder Simeonow! Ich bin mit eurer Handwerkskunst zufrieden. Jetzt aber haben meine Wojewoden und die Räte folgendes ausgedacht: Wenn du, zweiter Simeon, von diesem Turm aus alles, was unter der Sonne ist, sehen kannst, so sollst du jetzt schnell hinaufsteigen und schauen, ob du nicht das Folgende siehst: Es heißt, daß irgendwo hinter dem großen Ozean die Insel Busan liegt und daß auf dieser Insel ein mächtiges Reich ist. In diesem Reich lebt bei dem König Busan eine Tochter, die Prinzessin Helena, die Wunderschöne. «

Der zweite Simeon verneigte sich und lief so schnell davon, daß er seine Mütze im Palast des Königs vergaß. Er stieg auf den Turm, sah sich nach allen Seiten um, stieg wieder herunter und berichtete dem König Archidei: »König Archidei Agejew! Deinen königlichen Befehl habe ich erfüllt. Ich habe über den großen Ozean geschaut und die Insel Busan gesehen. Dort herrscht ein mächtiger König, aber er



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ist sehr stolz und ungnädig. Er sitzt in seinem Palast und spricht folgendes: >Ich habe eine Tochter, die Prinzessin Helena. Niemand in der Welt ist weiser und klüger als sie, und es gibt keinen geeigneten Bräutigam für sie unter der Sonne, weder einen Zaren noch einen Zarewitsch, weder einen König noch einen Prinzen. Daher werde ich meine Prinzessin Helena nicht hergeben, und wer um sie werben wird, gegen den werde ich in den Krieg ziehen, sein Reich zerstören und ihn selber gefangennehmen.<«

»Ist die Stärke des Königs von Busan groß«, fragte König Archidei, »und liegt sein Reich weit von dem meinigen entfernt?«

»So nach dem Augenmaß geschätzt«, antwortete Simeon, »wird man von deinem Reich aus zwei Tage weniger als zehn Jahre fahren müssen, aber wenn ein Sturm kommt, so werden es zehn Jahre und noch ein Schwänzchen dran. Bei dem König von Busan habe ich aber auf dem Felde die Krieger üben sehen. Es sind nicht viel: hunderttausend Lanzenreiter, hunderttausend Panzerreiter, die königliche Leibwache, Tafeldecker, Speisenträger und das sonstige Gesinde macht nochmals hunderttausend. Dazu kommt eine kleine Reserve, eine Leibwache aus Rittern, die aber nirgends hingeht und offenbar nur gehätschelt und gefüttert wird.«

König Archidei fing an nachzudenken. Lange besann er sich und sagte dann: »Meine Wojewoden und Räte! Ich will die Prinzessin Helena zur Frau haben, aber wie soll ich sie erlangen?« Da schwiegen die Wojewoden und Räte, und einer versteckte sich hinter dem anderen. Jetzt fing der dritte Simeon an zu sprechen: »König Archidei! Verzeih meine einfachen, bäuerlichen Worte . . . Wie du zur Insel Busan gelangen sollst, darüber braucht man nicht viel nachzudenken und sich den Kopf zu zerbrechen: Setz dich in mein Schiff. Es ist zwar ganz einfach gebaut, nicht wie ein Oberseeschiff, aber wo ein anderes ein Jahr braucht, da fährt es nur einen Tag, und wo ein anderes zehn Jahre braucht, da kommt es in einer Woche zurück. Deine Räte aber sollen nun überlegen, ob man die Prinzessin mit den Waffen erobern oder auf friedliche Weise holen soll.«

»Jetzt, meine weisen Räte und meine tapferen Wojewoden«, sagte dann König Archidei, »wie entscheidet ihr: Wer von euch fährt hin, um die Prinzessin Helena mit den Waffen zu erobern oder im Frieden zu empfangen? Den, der sie mir bringt, will ich mit Gold und



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Silber überschütten und ihm den höchsten Rang vor den Großen meines Reiches geben!« Wieder schwiegen die Wojewoden und Räte.

Da verfinsterte sich das Antlitz des Königs Archidei, und er wollte schon ein grausames, unbarmherziges Wort aussprechen . . . Auf einmal - es war gerade, als ob man ihn gefragt habe, sprang der königliche Narr unter den klugen Leuten hervor, schwenkte seine gestreifte Mütze und ließ die Schellen erklingen.

»Was habt ihr euch ausgedacht, ihr Wojewoden und Räte«, sagte er, »ihr Großköpfe und Langbärte, steht euch der Verstand still? Was hat dieses Mal eure Hirne vernebelt? Um nach Busan zu fahren und dem König Archidei die Braut zu holen, braucht man kein Gold und keine tapferen Krieger. Habt ihr etwa das alte Sprichwort vergessen: >Es wird keine Suppe so heiß gegessen, wie sie gekocht wird?< Warum laßt ihr den siebenten Simeon nicht kommen? Vielleicht stiehlt er die Prinzessin Helena. Dann kann der König von Busan ruhig mit uns Krieg anfangen - er muß zehn Jahre lang auf dem Meere fahren, bis er zu unserem Reich kommt, aber in zehn Jahren kann bei einem überseeischen König irgendein Weiser ein Pferd sprechen lehren.«

»Ach du, du hast wirklich recht!« sagte König Archidei. »Ich danke dir, du mein gestreifter Narr! Ich werde dich reich belohnen! Ich lasse dir eine neue Narrenkappe nähen und deinen Kindern Lebkuchen geben. Lauft schnell und bringt mir den siebenten Simeon her!

Auf den königlichen Befehl öffneten sich die schweren eisernen Gefängnistüren, und dem siebenten Simeon wurden die sieben Pud schweren Ketten abgenommen. Sie führten ihn zu König Archidei, und der sagte zu ihm: »Höre siebenter Simeon -ich wollte dich bestrafen, wollte dich ewig bei Wasser und Brot im Gefängnis sitzen lassen. Wenn du mir aber jetzt einen Dienst erweist, so soll es damit sein Bewenden haben. Ich entlasse dich aus dem Gefängnis und werde dich überdies aus meinem königlichen Schatz belohnen. Kannst du mir beim König von Busan seine Tochter, die schöne Prinzessin Helena, stehlen?«

»Warum sollte ich sie nicht stehlen können, König Archidei?« antwortete Simeon. »Die Prinzessin Helena zu stehlen -da denke ich



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mir gar nichts dabei. Sie besteht ja nicht aus Perlen, die hinter dreifachen Schlössern verborgen sind! Befiehl nur, daß das Schiff, das mein Bruder, der dritte Simeon, gemacht hat, mit Brokat, Samt, persischen Teppichen, runden Perlen und echten Edelsteinen beladen wird und laß mich mit den vier mittleren Brüdern fahren, die zwei anderen können ruhig als Bürgen bei dir verbleiben.«

Da brannte der König Archidei vor Eifer . . Er ließ das Schiff herrichten und alles einladen. Seine Heerführer und Räte beeilten sich, und im Nu war alles bereit. Auf den königlichen Befehl hin ging es schneller, als man gemähtes Getreide zu einer Garbe binden kann. Das Schiff wurde mit Brokat, Samt, persischen Teppichen, runden Perlen und Edelsteinen beladen. Die fünf Simeons grüßten den König, stiegen ins Schiff, spannten die Segel, und schon konnte man sie nicht mehr sehen.

Das Schiff sauste auf dem hohen Meer dahin, es flog schneller als ein Falke, überholte alle fremden Schiffe, und wo die ein Jahr lang brauchten, fuhr es nur einen Tag. Am Samstag hatten die Simeons vor dem König den Hafen verlassen, und als sie sich am nächsten Samstag umsahen da tauchte aus dem Meer die Insel Busan auf. Die Ufer waren mit Kanonen wie mit Erbsen besät. Männer mit Schnurrbärten gingen steif am Ufer auf und ab. Im königlichen Schloß aber schrie man auf einem hohen Turm mit schallender Stimme durch ein Sprachrohr: »Halt! Werft die Anker! Gebt Antwort! Was seid ihr für Leute?«

Der siebente Simeon antwortete: »Wir sind friedliche Leute, keine Krieger, wir sind fremde Schiffer. Wir haben die Fahrt zu euch auf die Insel Busan gemacht, bringen vielerlei Muster, überseeische Waren, und wollen verkaufen, tauschen, Spitzen für Seife, Zimt für Weizen, und eurem König und eurer Königin wollen wir Geschenke bringen.«

Die Simeonows ließen einen Kahn ins Meer hinab und legten Brokat, Samt, runde Perlen, echte Edelsteine und Perserteppiche hinein. Dann ruderten sie zum Ufer und wollten die Geschenke zum König und zu der schönen Prinzessin Helena bringen. Die saß in ihrem roten Gemach, schön und lieblich. Augen hatte sie wie ein Falke, Augenbrauen wie Zobelfell - und sie schritt wie ein schwimmender Schwan.



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Als die Prinzessin Helena die Simeonows gesehen hatte, rief sie ihre Wärterinnen und Kammerzofen: »Geht, ihr meine Wärterinnen und Kammerzofen, und schaut, was das für Leute sind, die zum königlichen Palaste kommen!«

Die Wärterinnen und Kammerzofen liefen und fragten die Simeonows, der siebente Simeon aber antwortete ihnen: »Wir sind fremde Schiffer, friedsame Handelsleute aus dem Reich des Königs Archidei. Wir sind zum Handeln, Einkaufen, Verkaufen, Tauschen gekommen und bringen dem König und der Königin verschiedene Kleinigkeiten. Vielleicht ist uns der König gnädig und befiehlt, daß wir, wenn auch nur zum Verkauf von Putzsachen an seine Kammerzofen, zugelassen werden.«

Als die Prinzessin Helena diese Worte vernommen hatte, ließ sie die Simeonows zu sich rufen. Sie kamen, verneigten sich vor der Prinzessin und breiteten Brokat und Samt aus, schütteten runde Perlen hin und legten ihr echte Edelsteine vor, wie man sie im Königreich Busan noch nie gesehen und von denen man dort noch niemals gehört hatte.

»Ach! Ach!«schrien die Wärterinnen und Kammerzofen, und auch die Prinzessin war begeistert.

Der siebente Simeon aber hielt folgende Rede: »Prinzessin Helena, du überaus Kluge! Du treibst deinen Scherz mit uns oder verspottest uns: Was sind das hierfür Muster, was für ein Samt, was für Brokat! Laß sie von deinen Kammerzofen fortnehmen, die Perlen können deine Wärterinnen als Halsketten tragen, und mit diesen teueren Steinen können deine Köche anstatt mit Knöchelchen spielen. Aber höre, wenn du es mir zu sagen erlaubst: Auf dem Schiff haben wir vielfarbige Gewebe, Perlen und funkelnde Edelsteine. Wir haben uns aber nicht getraut, sie mitzunehmen, denn wir wußten ja nicht, ob wir vor dir Gefallen fänden. Könntest du dich nicht entschließen, selber zu uns aufs Schiff zu kommen und dir dort auszusuchen, was dir gefällt? Wir verneigen uns tief vor dir allein dafür, daß wir deine hellen, wunderschönen Augen sehen dürfen!«

Diese höflichen Worte gefielen der Prinzessin wohl. Sie ging zu ihrem Vater, dem König von Busan, und sagte: »König und Herr! Da sind zu uns fremde Schiffer gekommen und haben wundervolle Sachen mitgebracht. Erlaube mir, auf ihr Schiff zu gehen und mir auszusuchen,



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was mir gefällt. Auch für dich haben sie reiche Geschenke gebracht!«

Der König von Busan dachte lange nach, runzelte die Stirn und kratzte sich hinterm Ohr.

»Gut«, sagte er, »meine Tochter Prinzessin Helena, du Wunderschöne! Geht, meine Heerführer, und laßt mein königliches Schiff mit hundert Kanonen ausrüsten, dann stellt ihr dort hundert Ritter auf und zu diesen noch tausend Mann aus meiner Leibwache mit Gewehren. Sie sollen die schöne Prinzessin Helena zum Schiff der fremden Kauffahrer bringen.«

Das königliche Schiff fuhr vom Ufer der Insel Busan weg. Viele Leibwachen und Ritter saßen auf ihm, und viele Kanonen waren aufgestellt. Als es zum Schiff der Brüder Simeonow kam, stieg die Prinzessin Helena über eine seidene Treppe hinauf und ging über einen Laufsteg aus Kristall mit ihren Wärterinnen in das Schiff. Der siebente Simeon führte sie umher, erzählte ihnen Märchen und zeigte ihnen die Waren - Prinzessin Helena schaute alles an und hörte eifrig zu. Indessen zögerte der vierte Simeon nicht länger, packte das Schiff an seinem schwarzen Schnabel, und schon waren sie verschwunden: Das Schiff war von der Oberfläche des Meeres hinab in die Tiefe getaucht, dorthin, wo stille, unzugängliche Abgründe sind.

Jetzt fingen die Schiffsleute von Busan ein fürchterliches Geschrei an. Die königliche Leibwache stand da und ließ die Ohren hängen, sie waren wie betrunken, die Ritter aber klapperten nur mit den Augenlidern. Ihr Schiff fuhr zum Ufer zurück, sie gingen zum König und erzählten ihm von dem unerwarteten, unfaßbaren Unglück.

Da tobte und heulte der König von Busan: »Du, meine Tochter, Prinzessin Helena, du Wunderschöne! Gott hat mich für meinen Hochmut bestraft: Ich habe für dich keinen ebenbürtigen Bräutigam gefunden, und nun hast du dich mit dem Abgrund des Meeres vermählt und mich in meinen alten Tagen vereinsamt zurückgelassen.«

Dann aber fuhr er auf die Leibwache und auf seine Ritter los: »Ihr Trottel, wo habt ihr euere Augen gehabt! Allen sollen die Köpfe herunter! Werft sie in eiserne Fesseln und denkt darüber nach, wie



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man sie hinrichten soll, daß Kinder und Enkel noch daran denken!«

Während der König von Busan noch zürnte und grollte, schwamm das Schiff der sieben Simeonows unter dem Meer dahin. Sobald die Insel Busan außer Sicht war, zog es der vierte Simeon aufs Meer empor. Wie eine weißgeflügelte Möwe tauchte es auf.

Auf einmal wurde die Prinzessin Helena nachdenklich: »Ach!«sagte sie zu ihren Wärterinnen, »wir haben alles betrachtet und angeschaut, und es ist schon viel Zeit vergangen -hoffentlich ist mein liebes Väterchen indessen nicht böse und zornig geworden.«

Sie ging auf das Deck des Schiffes. Sie sah sich um -überall spiegelglattes Meer, keine Insel Busan, von dem Busanschen Schiff nichts zu sehen und nichts zu hören!

Die schöne Prinzessin Helena seufzte tief auf, schlug mit den Händen gegen ihre weiße Brust, verwandelte sich in einen weißen Schwan und flog davon in die Lüfte. Aber der fünfte Simeon besann sich keinen Augenblick. Er ergriff sein Gewehr und schoß den weißen Schwan herunter, der sechste Simeon ließ ihn aber nicht ins Meer fallen, sondern brachte ihn aufs Schiff. Kaum wollte er ihn freilassen, da wurde aus dem Schwan ein silbernes Fischlein, das rasch untertauchen wollte. Aber Simeon ließ es nicht dazu kommen. Er packte das Fischlein, aber das Fischlein war schon kein Fischlein mehr, sondern ein schwarzes Mäuslein rannte jetzt auf dem Schiff umher. Aber Simeon ließ sich nicht verblüffen: Das Mäuslein konnte in kein Loch schlüpfen, er sprang schneller als eine Katze dahinter her, fing es - und dann war die Prinzessin Helena wieder da wie früher, ein schönes Mädchen mit weißem, rundem Gesicht, so schön, daß man es sich nicht vorstellen kann, selbst wenn man drei Tage lang nachdenkt.

Eines Tages, am frühen Morgen, saß König Archidei Agejewitsch nachdenklich da, schaute durch das kristallene Fenster und wandte den Blick nicht vom Meer. Er konnte nicht mehr schlafen, sein feuriges Herz war traurig, die königlichen Gastmähler behagten ihm nicht mehr, keine Süßigkeiten schmeckten ihm mehr, der starke Met konnte ihn nicht mehr berauschen. Seine Gedanken waren nur noch bei der Prinzessin Helena, der Wunderschönen. Der König schaute aufs weite Meer hinaus: Was ist dort? Kommt eine weiße Möwe geflogen



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oder bläht der Wind ein Segel? Nein! Keine Möwe ist es, sondern das Schiff der Simeonows fliegt mit vollen Segeln daher, feuert aus Kanonen, und im Takeiwerk spielen sie mit den Bogen Musik. Am Ufer wurde die Signalkanone abgefeuert, vom Schiff ließen sie den schweren Anker fallen, legten den kristallenen Laufsteg ans Ufer-und aus dem Schiff trat Prinzessin Helena, schön wie die niemals untergehende Sonne.

Der König Archidei geriet in Entzücken: »Lauft alle, die ihr in der Nähe seid«, sagte er, »ihr Tafeldecker, Tassenreicher, Hofleute und Speisenträger - schießt aus den Kanonen und schlagt die Pauken, läutet die Glocken und geht der Prinzessin Helena, der Wunderschönen, entgegen!«

Der ganze königliche Hof geriet in Aufregung, alle liefen geschäftig hin und her, breiteten feingewebte Teppiche aus, öffneten die großen Tore und gingen der Prinzessin Helena entgegen. Der König selber schritt auf sie zu, nahm sie bei der weißen Hand und führte sie in seinen Palast.

»Sei wie zu Hause«, sagte er, »Prinzessin Helena, du Wunderschöne! Durch dich ist ein großes Glück über mich gekommen, ich habe nicht zu hoffen gewagt, eine solche Schönheit zu sehen. Aber ich werde mit deinen Eltern keinen Krieg führen: Wenn du es befiehlst, wird man dich mit meinem Schiff wieder in deine Heimat bringen. Wenn du aber in meinem Reich bleiben willst, so sei Königin über mein Reich und über mich selber, den König Archidei!«

Am Ufer wurde die Signalkanone abgefeuert, und vom Schiff ließen sie den schweren Anker fallen. Da sah die Prinzessin Helena den König so an, daß es ihm wurde, als ob die Sonne tanze, der Mond Lieder sänge und die Sterne die Prisadka drehen .

Die Prinzessin Helena aber schrieb einen Brief, mit dem die Brüder Simeonow zum König von Busan fahren sollten. Sie schrieb: »König und Herr, liebes Väterchen! Ich habe für mich einen Bräutigam nach meinem Herzen und nach meinen Wünschen gefunden und bitte um deinen väterlichen Segen. Mein Bräutigam aber, der König Archidei, schickt Bojaren als Gesandte zu dir und bittet dich, zur Hochzeit zu kommen.«



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In dem Augenblick, da das Schiff zur Insel Busan abfuhr, wurden gerade die Ritter und Leibwächter, welche die Prinzessin hätten bewachen sollen und nicht bewacht hatten, in den Zolihafen geführt. Der König hatte befohlen, allen, vom ersten bis zum letzten, die Köpfe abzuschlagen.

»Halt, tu ihnen nichts!« schrie der siebente Simeon vom Schiff aus. »Hier ist ein Brief von Prinzessin Helena.« Der König von Busan war hoch erfreut, las den Brief der Prinzessin und ließ die Dummköpfe nicht hinrichten.

»Ich sehe«, sagte er, »daß alles damals so geschehen mußte, daß meine Tochter dem König Archidei vom Schicksal zubestimmt und für ihn geschmückt war.« Er bewirtete die königlichen Gesandten und die Simeonows und sandte mit ihnen seinen väterlichen Segen. Als die Simeonows zum König Archidei zurückgekommen waren, freuten sich er und die Prinzessin Helena so sehr, daß er alle sieben kommen ließ und zu ihnen sagte: »Ich danke euch, ihr meine Bauern, Feldpflüger und Arbeiter! Nehmt von mir Gold und Silber, soviel ihr wollt, und verlangt, was euer Herz begehrt - alles will ich euch aus meiner mächtigen Hand geben! Wollt ihr Bojaren werden — ich mache euch zu den größten Bojaren! Wollt ihr Wojewoden werden, ich werde jedem eine Stadt geben!«

Da verneigte sich der älteste Simeon vor dem König und sagte: »König Archidei! Wir sind einfache Leute, und unser Tun ist bäuerlich. Wo sollen wir da bei dir Bojaren und Wojewoden sein! Deine Schätze brauchen wir nicht, wir haben das väterliche Feld, davon werden wir Brot zum Leben und Geld fürs Nötige haben. Laß uns gehen und belohne uns mit deinem milden Wort. Wenn du aber schon so gnädig bist, so gib uns einen weißen Schutz- und Freibrief, daß deine Büttel sich nicht mehr auf unserem Feld herumtummeln und deine Richter nicht über uns richten, sondern nur du selber, König Archidei, mit deinem königlichen Urteil, wenn wir schuldig werden. Verzeihe auch dem siebenten Simeon wegen seines Handwerks - er ist ja nicht der erste und nicht der letzte!«

»Euer Wunsch sei erfüllt!« sagte der König. »Ich gebe euch meinen weißen Schutz- und Freibrief. Richter und Büttel dürfen eure Felder nicht betreten, und über eure Schuld richte ich selber, der König Archidei, mit meinem Urteil.«



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Drauf ließ der König Archidei jedem Simeon ein Glas grünen Weines reichen, er selber aber begann die Hochzeit zu rüsten und ließ ein Gastmahl zubereiten.

Und welch ein Gastmahl hat es da gegeben.


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