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Kapitel 

Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Die Wahrheit und die Lüge

In einem Dorf lebten einmal zwei Bauern als Nachbarn nebeneinander. Beide hatten keine Angehörigen und waren arme Leute. Der eine war ein Betrüger und stahl, wo er nur konnte. Der andere aber liebte die Wahrheit und suchte seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen.

Eines Tages stritten sie, wie man auf der Welt besser leben könne: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?



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Der eine sagte: »Mit der Wahrheit kannst du verhungern! Mit der Wahrheit lebst du nicht lange!«

Der andere aber meinte: »Wie soll man wohl ohne die Wahrheit leben können?«

Lange stritten sie hin und her, keiner gab nach. Da beschlossen sie, in die Welt hinauszuziehen, um zu erfahren, wie die Menschen lebten. Jeden, der ihnen begegnete, wollten sie fragen, wie man leben solle: mit der Wahrheit oder mit der Lüge.

Zuerst trafen sie einen Bauern, der gerade beim Pflügen war. »Helf dir Gott, lieber Mann«, sagten sie. »Kannst du unseren Streit schlichten? Sag uns, wie lebt man besser auf dieser Welt: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?«

»Nein, Brüder«, sagte der Bauer. »Mit der Wahrheit kann man in alle Ewigkeit nicht leben, aber mit der Lüge lebt man leichter als alle anderen.«

»Siehst du, daß ich recht habe?« sagte der Lügner zu seinem Begleiter. Als sie ein Stückchen weitergewandert waren, begegnete ihnen ein Kaufmann auf einem mit Waren beladenen Wagen, der von zwei gut genährten Pferden gezogen wurde.

Unsere Bauern traten zu dem Wagen hin, grüßten und sagten zum Kaufmann: »Zürne nicht, würdiger Herr, wir kommen mit einer Bitte zu dir. Kannst du unseren Streit schlichten? Sag uns, wie lebt man besser auf dieser Welt: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?«

»Ach, Freundchen! Mit der Wahrheit ist schwer zu leben. Mit der Wahrheit wirst du immer ohne Nutzen dastehen. Schau, man betrügt uns, also müssen wir auch betrügen.«

»Ich habe also doch recht!« sagte der Lügner.

Bald trafen sie einen herrschaftlichen Verwalter. Sie gingen auf ihn zu und sagten: »Sei uns gnädig! Entscheide unseren Streit. Wie lebt man besser auf der Welt: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?«

»Was seid ihr für Kerle«, sagte der Verwalter, »daß ihr mich mit solchem Geschwätz belästigt! Was bekommt man heuzutage schon für die Wahrheit? Gerade soviel wie der Rabe für einen Knochen.«

»Aha, gelt, ich habe recht!« sagte der Lügner zu dem Wahrheitsliebenden.

Aber dieser blieb fest bei seiner Meinung: »Ich will das nicht glauben.



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Man muß fromm leben, wie Gott es befiehlt. Ich will auf keinen Fall als Lügner leben!«

Da sagte der andere zu ihm: »Gut, willst du es versuchen? Wandern wir weiter, und wir wollen sehen, wer von uns beiden eher satt wird: du mit deiner Wahrheit oder ich mit dem Lügen.«

»Gehen wir«, sagte der Wahre, »Gott wird mich nicht verlassen, wenn ich die Wahrheit rede.«

Sie zogen weiter. Dem Lügner floß alles wie von selber zu. Überall wurde er gut aufgenommen. Er bekam Speise und Trank und sogar noch etwas mit auf den Weg. Der Wahre aber konnte arbeiten, wo er wollte, er kriegte überall nur Wasser und Brot. Wenn er keine Arbeit fand, mußte er hungern. Der Lügner verhöhnte ihn

Eines Tages konnte es der Wahre vor lauter Hunger nicht mehr aushalten. Da bat er seinen Kameraden: »Gib mir ein Stückchen Brot!«

»Komm her, ich werde dir ein Auge ausschlagen«, sagte der Lügner.

»Dann gebe ich dir etwas zum Essen.«

»Was kann ich tun? Schlag zu, wenn du kein Gewissen hast.« Da schlug ihm der Lügner ein Auge aus, gab ihm aber nur so viel Brot, daß er nicht ganz satt wurde. Der Wahre ertrug alle Qualen, ging aber nicht von seiner Meinung ab. Er bekannte sich zur Wahrheit und gab dem Kameraden nicht nach.

Nach einiger Zeit mußte der Ärmste wieder Hunger leiden. So sehr er sich auch bemühte, er konnte weder Arbeit noch Brot auftreiben. Da warf er sich dem Lügner wieder zu Füßen und flehte ihn in Christi Namen an, er möge ihm wenigstens ein Stückchen Brot geben. Jetzt verhöhnte ihn der Lügner abermals und lachte ihn aus: »Gut«, sagte er, »ich will dich füttern, aber komm her, ich schlage dir auch das zweite Auge aus.«

»Habe Mitleid mit mir! Ich werde ja dann blind!«

»Was macht es aus, wenn du blind bist? Dafür lebst du mit der Wahrheit - du Wahrheitsfreund -, ich aber lebe mit der Lüge!« »Ich kann es nicht ändern! Gut, schlage mir auch das zweite Auge aus, wenn du die Sünde nicht fürchtest.«

Der Lügner schlug ihm auch das zweite Auge aus, gab ihm einen Bissen Brot und jagte den Unglücklichen auf die Straße.

Der Ärmste aß sein Stückchen Brot und schleppte sich dann tastend



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seines Weges dahin. Bald hatte er sich verirrt und wußte nicht mehr, wohin er sich wenden sollte.

Da hörte er auf einmal an seinem Ohr eine Stimme: »Geh nach rechts. Du wirst zu einer murmelnden Quelle kommen, dort trinke von dem Wasser und wasche dir damit die Augen, dann wirst du wieder sehen. Steige auf die Eiche, die über der Quelle wächst und bleibe dort die ganze Nacht bis zum Morgen sitzen. Merke dir aber genau, was du dort sehen und hören wirst.«

Was die Stimme gesprochen hatte, geschah nun. Der Wahre kam zu der rauschenden Quelle, wusch seine Augen und trank von dem Wasser, da konnte er wieder sehen. Unmittelbar neben der Quelle stand eine uralte, breitästige Eiche. Rund um diesen Baum war aber weder ein Gräschen noch ein Blatt; der Boden war völlig glatt und festgestampft. Der Wahre stieg auf den Baum, versteckte sich in den dichtbelaubten Ästen und erwartete die Nacht.

Kaum war es dunkel geworden, da kamen von allen Seiten her Teufel geflogen. Alle versammelten sich an der Quelle unter der Eiche wie die Rebhühner im Winter in einer Ackerfurche. Sie erzählten einander, wo sie überall gewesen seien und was sie getan hätten.

Der Wahre hörte, wie einer von den Teufeln erzählte: »Ich war bei der Prinzessin in der nahen Stadt. Schon seit zehn Jahren quäle ich sie mit einer schweren Krankheit. Kein Mensch kann sie von mir befreien. Nur der kann ihr helfen, der von einem reichen Kaufmann in der Stadt das Heiligenbild bekommt, das bei ihm in einem schwarzen Kästchen über der Tür hängt.«

Kaum graute der Morgen, da kroch der Wahre von der Eiche herunter und ging schleunigst in die nahe Stadt. Dort irrte er lange umher, bis er endlich das Haus des reichen Kaufmanns gefunden hatte, der das Heiligenbild besaß.

Er verdingte sich dem Kaufmann als Arbeiter und sagte: »Ich will von dir keinen Lohn. Statt des Lohnes sollst du mir aber das Heiligenbild geben, das in einem schwarzen Kästchen über deiner Türe hängt.«

Der Kaufmann war damit einverstanden und nahm den Wahren als Arbeiter bei sich auf. Ein volles Jahr diente er dem Kaufmann, so gut er konnte, und als das Jahr um war, ging er hin, um abzurechnen, und verlangte das Heiligenbild.



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»Brüderchen«, sagte der Kaufmann, »ich bin mit deiner Arbeit zufrieden, aber um das Heiligenbild ist es mir leid. Nimm lieber Geld.«

»Ich brauche dein Geld nicht«, sagte der Wahre. »Gib mir das Heiligenbild, wie es ausgemacht war.«

»Nein, ich gebe es nicht her. Wenn du es haben willst, so arbeite noch ein weiteres Jahr bei mir.«

Da arbeitete der Wahre nochmals ein Jahr bei dem Kaufmann. Als aber der Tag der Abrechnung gekommen war, ging es ihm genau wie vorher: Der Kaufmann bestand darauf, daß der Wahre für das Heiligenbild noch ein Jahr arbeiten müsse. Also diente dieser auch noch ein drittes Jahr. Nun aber konnte sich der Kaufmann nicht mehr länger weigern. Er holte das Heiligenbild aus dem Kästchen über der Tür und überließ es dem Wahren. Dann gab er ihm noch Speise und Trank und auch noch Geld auf die Reise.

Der Wahre ging mit seinem Bild sogleich in die Stadt, in der die von dem Teufel mit so schwerer Krankheit geplagte Prinzessin lebte. Er bot dem König an, sie ohne jede Belohnung wieder gesund zu machen. Kaum hatte er mit dem Heiligenbild das Zimmer der Prinzessin betreten, da stand sie auch schon von ihrem Bett auf und war gesund.

Die königlichen Eltern waren darüber sehr erfreut. Sie boten ihm Land an und wollten ihm viel Geld geben, er aber nahm nichts an. Da sagte die Prinzessin: »Dieser Mann ist mein Wohltäter. Ich will ihm dankbar sein und ihn heiraten, wenn ihr einverstanden seid.«

König und Königin stimmten zu. Auch der Wahre sagte nicht nein und wurde noch am selben Abend mit der Prinzessin getraut.

Jetzt lebte er herrlich und in Freuden. Er ging in königlichen Gewändern, wohnte in königlichen Zimmern, fuhr mit königlichen Pferden, aß und trank vom königlichen Tisch das Allerbeste. . . Eines Tages erinnerte er sich an seine ferne arme Heimat und an sein dort wohnendes altes Mütterchen. Da sagte er zu seiner Frau: »Ich möchte mit dir in meine Heimat reisen und mein altes Mütterchen holen.«

»Gut«, antwortete die Prinzessin.

Sie setzten sich in einen Wagen und fuhren seiner Heimat zu. Unterwegs begegnete ihnen der Lügner.



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Da hielt der Wahre die Pferde an und sagte: »Grüß Gott, Bruder!« Aber dieser erkannte ihn nicht.

»Ich bin dein Nachbar gewesen, mit dem du gestritten hast, wer auf der Welt besser lebte: der Wahrheitsliebende oder der Lügner. Wie du siehst, habe ich Glück gehabt. Ich lebe mit der Wahrheit und in Freuden.«

Den Lügner packte gleich der schwarze Neid, und er wollte erfahren, wie der Wahre sein Glück gefunden habe. Der verheimlichte nichts und erzählte alles schön der Reihe nach: wie er sich an der Quelle die Augen ausgewaschen und aus ihr getrunken, wie er auf der Eiche die Teufel belauscht habe -alles, alles.

Der Lügner prägte sich das genau ein. Kaum hatte er sich von dem Wahren verabschiedet, da rannte er davon und suchte den Ort auf, wo der Wahre sein Glück gefunden hatte.

Bald stand er unter der Eiche an der Quelle! Auch er trank von dem Wasser und wusch sich die Augen damit. Dann kletterte er auf den Baum und erwartete voller Freude die Nacht.

Jetzt, dachte er, werde ich auf meinem Sitz von einem der Teufel auch solch ein Stücklein hören und mich dann noch besser einrichten als mein Nachbar.

Aber alles kam anders. Als es finster geworden war, kamen die Teufel geflogen und spürten sogleich, daß jemand auf der Eiche saß und ihren Reden zuhörte.

Da zogen sie den Lügner vom Baum herunter und zerrissen ihn in Stücke, so daß man keine Spur mehr von ihm finden konnte. Der Wahrheitsliebende aber nahm aus seiner Heimat die alte Mutter mit sich, brachte sie in den königlichen Palast und lebte dort mit ihr und seiner Frau sein ganzes Leben lang in der Wahrheit und in Freuden.


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