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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der böse Riese Werlioschka

Einst lebten ein alter Mann und seine Frau, die hatten zwei kleine Enkelinnen, Waisenkinder, so schön und so allerliebst, daß die Großeltern sich an Lobreden und Anerkennung gar nicht genugtun konnten. Eines Tages hatte der Großvater den Einfall, Erbsen zu säen. Er brachte die Saat in die Erde; sie keimte, die Erbsen wuchsen und fingen an zu blühen. Der Großvater sagte sich: »Jetzt bin ich mir sicher, daß wir diesen ganzen Winter gebackene Plinsen mit Erbsen essen können.«

Aber, als wollten sie sich über ihn lustig machen, stürzten sich Spatzen auf seine Pflanzungen. Dem Großvater ging der Spaß zu weit und er schickte die jüngste seiner Enkelinnen, sie möge die Spatzen verjagen. Das Kind setzte sich dicht zu den Erbsen, hob einen abgefallenen Zweig auf, schwenkte ihn hin und her und rief dazu laut: »Sachte, sachte, ihr Spatzen; freßt meinem Großvater nicht die Erbsen weg!«

Plötzlich aber hörte es ein Geräusch im Walde, ein derbes Knacken: das war Werlioschka, der heranrückte. Er war von riesiger Gestalt, besaß nur ein einziges Auge; seine Nase war krumm, sein Bart buschig und gut eine halbe Ehe lang, und er schnitt ganz schreckliche Grimassen. Dieses Geschöpf hatte eine höchst sonderbare Gewohnheit: sobald es von ferne einen Menschen gewahrte, konnte es nicht umhin, diesem irgendein Zeichen seiner besonderen Zuneigung zu geben, das heißt, daß es sich anschickte, ihm die Knochen einzuschlagen; Werlioschka schonte niemanden, weder die Alten noch die Jungen, nicht die Friedfertigen und nicht die Zänkischen. Als er die Kleine entdeckte, versetzte er ihr einen Schlag mit seinem



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Knüppel, daß sie auf der Stelle tot umfiel. Als der Großvater, der immer noch auf die Rückkehr seiner Enkelin wartete, sie nicht wiederkommen sah, schickte er ihr die älteste nach, sie zu holen. Werlioschka ließ sie das gleiche Schicksal erleiden. Nach einem abermaligen Warten verlor der Alte schließlich die Geduld und sprach zu seiner Frau:

»Warum verspäten sich die Kinder da hinten? Sicherlich nur, um mit jungen Leuten zu schwätzen, und indessen lassen sie die Spatzen die Erbsen aufpicken. Geh doch selber, Frau, und bringe sie wieder ins Haus!«

Sie stieg vom Ofen herunter, auf dem sie gesessen hatte, nahm aus einer Ecke ihren Stock, überquerte mit schleppendem Schritt die Schwelle und kam nicht wieder ins Haus zurück. Es ist leicht zu verstehen, daß — beim Anblick ihrer toten Enkelinnen und des Werlioschka neben ihnen - sie wohl erraten hatte, daß dieser Kerl der Mörder war. Von Schmerz und Kummer überwältigt, fuhr sie dem Werlioschka mit ihren Nägeln in die Haare. Auf ebendiesen Moment aber hatte Werlioschka nur gewartet .

Der alte Mann wartete immer noch, aber seine Frau kam nicht wieder und seine Enkelinnen auch nicht. Da erhob er sich vom Tisch und machte sich selbst auf den Weg. Als er dicht bei der Erbsenpflanzung angekommen war, sah er am Boden seine lieben Enkelinnen, die wie eingeschlafen schienen; von der Stirne der einen rieselte Blut; der weiße Hals der andern trug noch blaue Spuren der fünf Finger, die ihn erwürgt hatten. Seine Frau war dermaßen verstümmelt, daß es ihm unmöglich war, sie wiederzuerkennen.

Der alte Mann schluchzte lange Zeit, lag über die Toten gebeugt; er jammerte und wehklagte. Danach kehrte er ins Haus zurück, nahm seinen Eisenknüttel und machte sich auf den Weg, um Werlioschka zu suchen und mit ihm abzurechnen.

Während er immer so vorwärts schritt, gewahrte er auf seinem Weg einen kleinen Weiher, in dessen Mitte eine Ente mit ausgerissenem Schwanz schwamm. Als die Ente den Alten bemerkte, fing sie zu schnattern und zu schreien an:

»Ein gutes und glückliches Leben wünsche ich dir, alter Mann, hundert Jahre lang!«

»Guten Tag, Ente, warum hast du gewartet?«



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»Ich wußte wohl, daß du dem Werlioschka nicht verzeihen würdest, was er deiner Frau und deinen Enkelinnen angetan hat.«

»Kennst du Werlioschka denn?«

»Wie sollte man ihn nicht kennen? Ja, gewiß, ich kenne ihn, diesen einäugigen Lumpen. Eines Tages fing er damit an, hier am Ufer des Weihers einem armen Mann eine Tracht Prügel zu verabreichen; damals hatte ich die Gewohnheit, jedem Wort eine Art Kehrreim anzufügen: Ah! ah! ah! Werlioschka setzte seinen üblen Scherz mit dem armen Mann fort, und ich, ich ließ immer wieder die Melodie meines Ah! ah! ah! ertönen.

Nachdem er den Unglücklichen totgeschlagen hatte, kam er zu mir gelaufen und rief: >Ich werde dich lehren, andere zu warnen und zu verteidigen!<Und diese Worte begleitete er mit einem Hieb, den er mir gegen den Schwanz versetzte; ich bin gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen; einzig der Schwanz blieb ihm zwischen den Händen. Es ist wahr, mein Schwanz war nicht groß, aber trotzdem vermisse ich ihn. Von da ab bin ich vorsichtiger geworden, und auf alles, was sich unter meinen Augen abspielt, antworte ich mit dieser Billigung: >Ja, ja, ja!< statt wie früher zu schnattern: >Ah! ah! ah!<Und kennst du das Ergebnis dieser Veränderung meines Betragens? Ich lebe seither viel ruhiger und genieße eine größere Wertschätzung bei den Menschen. Ich höre sie immerzu sagen: >Seht doch diese Ente, wenn sie auch einen gespaltenen Schwanz hat, so ist sie doch darum nicht weniger klug und geschickt!<«

»Aber dann wirst du mir vielleicht auch die Stelle zeigen können, wo dieser Werlioschka wohnt?«

»Aber ja, ja, ja!«

Die Ente kam aus dem Wasser und watschelte, wobei sie sich auf ihren Füßen schaukelte, am Ufer entlang, hinter ihr der Großvater. Als sie ihren Marsch fortsetzten, begegneten sie einem Bindfaden, dieser wendete sich an den Alten und grüßte ihn:

»Guten Tag, alter Mann mit dem ernsten Kopf!«

»Guten Tag, Bindfaden.«

»Wie geht es dir? Wo willst du hin?«

»Ich begebe mich zum Zweikampf mit Werlioschka, um mich an ihm zu rächen. Er hat meine alte Frau erwürgt und meine beiden Enkelinnen dreist umgebracht; sie waren so zierlich und allerliebst!«



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»Ich habe deine Enkelinnen und deine Frau gekannt. Nimm mich mit; ich will dir helfen.«

Der Alte überlegte; vielleicht könnte der Bindfaden ihm helfen, Werlioschka zu binden. Er antwortete ihm: »Gut, folge mir, du kennst den Weg.«

Der Bindfaden kroch hinter ihnen her wie eine Schlange. Als sie so ihren Marsch fortsetzten, begegneten sie auf dem Wege einem hölzernen Klopfer, der den Alten ansprach:

»Guten Tag, alter Mann mit dem ernsten Kopf!«

»Guten Tag, Klopfer!«

»Wie geht es dir? Wo gehst du hin?«

»Es geht mir gut. Die Reise, die ich mache, geschieht, um mich an Werlioschka zu rächen. Denke doch: er hat meine Frau erwürgt und meine beiden Enkelinnen umgebracht, die die Schönheit selbst waren.«

»Nimm mich mit dir, damit ich dir helfe!«

Der Alte sagte sich:

>Wahrhaftig! Dieser Klopfer kann mir tatsächlich nützlich sein.<

Der Klopfer hob sich vom Boden, stützte sich auf seinen Griff, tat einen Sprung und wanderte los. Sie gingen immer weiter und trafen unterwegs auf eine Eichel, die mit ihrem feinen Stimmchen kreischte:

»Gruß, alter Mann mit dem ernsten Kopf. Wohin gehst du?«

»Ich will mich mit Werlioschka schlagen. Kennst du ihn? Hast du irgendeine Vorstellung von ihm?«

»Wer sollte ihn nicht kennen? Es ist Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Nimm mich mit dir, damit ich dir helfe. Zwar bin ich nicht viel wert, aber mein Saft wird wohl eines Tages gut sein, deinen Durst zu stillen.«

Der alte Mann überlegte:

>Na gut! Mag sie mitkommen, sie auch; je mehr wir sind, desto besser!<

So sagte er denn zu ihr:

»Ordne dich ein und schleppe dich hinter uns her!«

Aber die Eichel, weit entfernt davon, sich zu schleppen, überholt sie alle mit einem Satz. Endlich erreichten sie einen dichten, wohl hundert Jahre alten Wald. Mitten darin erhob sich ein Haus. Sie schauten



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durchs Fenster hinein: niemand war drin. Das Feuer im Kamin war am Erlöschen, eine Suppe mit Grützbrei stand auf dem Herd. Die Eichel sprang in die Suppe, der Klopfer stellte sich auf ein Brett, der Bindfaden streckte sich auf der Schwelle aus, der Alte setzte die Ente auf den Kamin und postierte sich selbst hinter die Tür.

Werlioschka kam zurück, warf das Holz, das er mitgebracht hatte, zu Boden und machte Feuer im Kamin. Die Eichel, die sich in der Suppe befand, fing an, ein Liedchen anzustimmen:

»Pi, pi, pi, es ist wer gekommen, Werlioschka zu schlagen!«

»Ruhig, Suppe!« brüllte Werlioschka mit donnernder Stimme,

»oder ich werfe dich gleich in den Eimer.«

Aber die Eichel, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken, setzte ihr Kreischen fort. Werlioschka geriet in Wut, packte den Topf und kippte mit einem Schwapps die Suppe in den Eimer; aber da hopste die Eichel jäh aus dem Eimer heraus, versetzte Werlioschka einen Nasenstüber und zerriß ihm das eine Auge, das ihm geblieben war.

Werlioschka wollte davonlaufen, aber es war ihm unmöglich zu entwischen: der Bindfaden knebelte ihn, und er fiel zu Boden. Der Klopfer kam mit einem Satz vom Brett herunter, der Alte trat hinter der Tür hervor, und alle machten sich eifrig daran, Werlioschka tüchtige Schläge zu verpassen, während die Ente -auf dem Kamin — die Schläge mit ihrem üblichen Kehrreim begleitete. Es nützte Werlioschka gar nichts, daß er stark und kräftig war. Er wurde gründlich zusammengedroschen. Und damit ist das Märchen aus.


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