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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON GHÂNIM IBN AIJÛB, DEM VERSTÖRTEN SKLAVEN DER LIEBE

Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß in alter Zeit und längst entschwundener Vergangenheit in Damaskus ein Kaufmann lebte, ein reicher Mann. Der hatte einen Sohn, dem Monde gleich in der Nacht seiner Fülle, und dazu von lieblicher Rede; dieser hieß Ghânim ibn Aijûb, genannt der verstörte Sklave der Liebe. Und der hatte eine Schwester, die hieß Fitna, ein Mädchen, einzig an Schönheit und Lieblichkeit. Und als ihr Vater starb, hinterließ er ihnen großen Reichtum. — —« Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 39. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kaufmann seinen beiden Kindern großen Reichtum hinterließ und unter anderm hundert Kamellasten von Seidenstoffen, Brokaten und Moschusblasen'; und auf jedem Ballen stand geschrieben: ,Dies ist bestimmt für Baghdad'; denn es war seine Absicht gewesen, die Reise nach Baghdad anzutreten, als ihn Allah der Erhabene zu sich rief. Nach einer Weile nahm sein Sohn diese Lasten und machte sich auf den Weg nach Baghdad. Das war inder Zeit des Kalifen Harûn er-Raschîd. Vor seiner Abreise bot er seiner Mutter und seinen Verwandten und den Leuten der Stadt Lebewohl und



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zog mit einer Schar von Kaufleuten davon im Vertrauen auf Allah den Erhabenen. Und Allah gewährte ihm eine glückliche Reise, so daß er sicher in Baghdad ankam. Dort mietete er sich ein schönes Wohnhaus, das er mit Teppichen und Kissen und Vorhängen ausstattete; und darin brachte er jene Ballen unter und in den Ställen seine Maultiere und Kamele, und dann ruhte er eine Weile. Alsbald erschienen die Kaufleute und die Vornehmen von Baghdad, um ihn zu begrüßen; darauf nahm er ein Bündel mit zehn Stücken kostbarer Stoffe, auf denen die Preise geschrieben standen, und ritt damit in den Basar der Kaufleute, wo sie ihn willkommen hießen und ihn begrüßten und ihm alle Ehre erwiesen; und sie ließen ihn absteigen von seinem Tier und gaben ihm einen Platz im Laden des Markt vorstehers, dem er das Bündel übergab. Der öffnete es, zog die Stoffe hervor und verkaufte sie mit einem Nutzen von zwei Dinaren auf jeden Dinar des Einkaufs preises. Darüber freute Ghânim sich und verkaufte seine seidenen Stoffe einen nach dem andern, und tat so ein volles Jahr lang. Am ersten Tage des folgenden Jahres ging er wie gewöhnlich zu der Kauf halle, die im Basar war, und er fand das Tor geschlossen; und als er nach dem Grunde fragte, sagte man ihm: ,Einer der Kaufleute ist gestorben, und all die anderen folgen seiner Bahre. Willst du dir nicht den Lohn der guten Tat verdienen und mit ihnen gehen?' Er erwiderte: ,Gern', und dann fragte er nach der Stätte, an der das Begräbnis stattfand, und man sagte ihm Bescheid. Nun vollzog er die religiöse Waschung und begab sich mit den anderen Kaufleuten in die Gebetshalle, wo sie über dem Toten beteten; darauf schritten alle die Kaufleute vor der Bahre her bis zum Totenacker, und Ghânim blieb in seiner Höflichkeit bei ihnen. Sie zogen mit der Leiche aus Baghdad hinaus bis vor die Tore der Stadt und schritten zwischen den Gräbern



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dahin, bis sie die Grabstätte erreichten; dort sahen sie, daß die Verwandten des Verstorbenen über der Gruft ein Zelt errichtet und es mit Lampen und Wachskerzen versehen hatten. Dann versenkten sie die Leiche; die Vorleser aber setzten sich und lasen aus dem Koran über jenem Grabe. Da setzten sich auch die Kaufleute nieder und Ghânim ibn Aijûb mit ihnen; denn die Höflichkeit beherrschte sein ganzes Wesen, und er sprach bei sich: ,Ich kann sie nicht gut verlassen, sondern ich muß mit ihnen zurückgehen.' Und sie blieben und lauschten der Koranvorlesung bis zum Abend. Da brachte man ihnen Speisen und Süßigkeiten, und sie aßen, bis sie gesättigt waren; und sie wuschen sich die Hände und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Aber Ghânims Geist war beschäftigt mit Gedanken an sein Haus und seine Waren, denn er war in Sorge wegen der Räuber und er sagte zu sich selber: ,Ich bin ein Fremdling und gelte als reich; wenn ich die Nacht fern von meiner Wohnung verbringe, so stehlen die Räuber von dort das Geld aus dem Kasten und die Warenlasten.' Als er nun seine Sorge um sein Geld und Gut nicht länger beherrschen konnte, stand er auf und verließ die Versammlung, nachdem er um Erlaubnis gebeten hatte, einem dringenden Geschäfte nachzugehen; dann ging er weiter, indem er den Spuren des Weges folgte, bis er zum Stadttor kam. Doch es war um Mitternacht, und er fand das Stadttor geschlossen und sah keinen Menschen kommen oder gehen, noch hörte er einen anderen Laut als das Bellen der Hunde und das Geschrei der Schakale. Da rief er betroffen: ,Es gibt keine Majestät und es gibt keine Macht außer bei Allah! Ich war besorgt um meinen Besitz und kehrte nur seinetwillen zurück; jetzt aber finde ich das Tor geschlossen, und ich bin in Furcht um mein Leben.' Darauf machte er kehrt und schaute nach einem Ort aus, an dem er bis zum Morgen schlafen könnte;



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und er fand ein Heiligengrab: vier Mauern schlossen es ein, drin war ein Palmbaum, und es hatte ein Tor aus hartem Stein. Und da das Tor offen stand, ging er hinein; dort wollte er schlafen, aber der Schlaf kam nicht zu ihm, denn ihn bedrückte die Angst und das Gefühl der Verlassenheit inmitten der Gräber. So stand er auf, öffnete das Tor und blickte hinaus, und siehe, in der Richtung des Stadttores in der Ferne schimmerte ein Licht; er ging ein wenig darauf zu und erkannte, daß dies Licht auf dem Wege war, der zu dem Grabe führte, bei dem er sich befand. Nun fürchtete Ghânim für sein Leben, schloß eilig das Tor, stieg in die Krone des Palmbaums hinauf und verbarg sich im Laube. Das Licht aber kam immer näher, bis es dicht bei dem Grabe war. Da blickte er das Licht genau an und entdeckte drei Sklaven, von denen zwei eine Kiste trugen, während der dritte eine Laterne und eine Axt in der Hand hielt. Als sie bei dem Grabe waren, sagte einer von denen, die die Kiste trugen: ,Was ist dir, Sawâb?' Und der andere fragte: ,Was ist dir, Kaf Der erste wiederum: ,Als wir gegen Abend hier waren, haben wir da das Tor nicht offen gelassen?' Der andere: ,Ja, was du sagst, ist richtig.' Der erste: ,Jetzt ist es aber fest verschlossen!' Da rief der dritte, der Buchait hieß, das war der, der die Axt und das Licht trug: ,Wie dumm seid ihr! Wißt ihr nicht, daß die Besitzer der Gärten öfters von Baghdad aus hierher kommen? Wenn dann der Abend sie überrascht, so treten sie hier ein und schließen das Tor, aus Furcht, Schwarze wie wir könnten sie fangen und braten und verzehren.' ,Du hast recht', erwiderten die beiden andern, ,aber bei Allah, wir sind nicht dümmer als du!' ,Ihr werdet mir nicht eher glauben', sprach Buchait, ,als bis wir hier eintreten und jemanden finden; ich glaube, als er das Licht erblickte und dann uns sah, da hat er sich aus Furcht vor uns auf die Palme dort geflüchtet.' Als



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aber Ghânim die Worte des Sklaven hörte, sprach er bei sich selber: ,Verfluchter Sklave! Möge Allah dich nicht behüten, auch nicht um all dieser Schlauheit und Gerissenheit willen! Es gibt keine Majestät und es gibt keine Macht außer bei Allah, dem Erhabenen und Allmächtigen! Was kann mich nun vor diesen Mohren retten?' Darauf sagten die beiden, die die Kiste trugen, zu dem mit der Axt: ,Steig über die Mauer und öffne das Tor für uns, Buchait, denn wir sind es müde, die Kiste auf dem Nacken zu tragen; und wenn du uns das Tor geöffnet hast, so soll dir einer von denen gehören, die wir drinnen fangen, und wir wollen ihn dir so vortrefflich braten, daß kein Tröpfchen von seinem Fett verloren geht.' Buchait aber sagte: ,Ich fürchte etwas, was mir mein schwacher Verstand eingibt: wir wollen doch lieber die Kiste über das Tor werfen, da sie unser Schatz ist.' ,Wenn wir sie hinüberwerfen, so wird sie zerbrechen', erwiderten sie; doch er antwortete: ,Ich fürchte, es sind Räuber dort drinnen, die Leute ermorden und ihnen ihre Habe rauben; denn wenn es Abend wird, so verstecken sie sich in solchen Orten und teilen ihre Beute.' ,O du Dummkopf', riefen die beiden, ,könnendie denn hier hineinkommen?' Dann setzten sie die Kiste nieder, kletterten über die Mauer und öffneten das Tor, während der dritte Sklave, das heißt Buchait, mit der Axt, der Laterne und einem Korbe voll Mörtel draußen stand. Dann verschlossen sie das Tor wieder und setzten sich hin; und einer von ihnen sprach: ,Brüder, wir sind müde vom Marsch und vom Tragen der Kiste und vom Öffnen und Schließen des Tores; jetzt ist es Mitternacht, und wir haben nicht mehr die Kraft, das Grab zu öffnen und die Kiste zu vergraben; also laßt uns hier zwei bis drei Stunden ruhen und dann aufstehen und unsere Arbeit tun. Derweilen soll einer den anderen erzählen, wie er entmannt wurde, und alles, was ihm



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widerfahren ist, von Anfang bis zu Ende, so daß wir uns heute nacht in Ruhe die Zeit vertreiben.' Da begann als erster der Mann mit der Laterne, der da Buchait hieß: ,Ich will euch meine Geschichte erzählen.' ,Erzähle', erwiderten sie; und so erzählte er


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