Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


NACHWORT


Von den europäischen Volksmärchen

In seinen »Maximen und Reflexionen«, die von vielen als eine Art denkerische Entsprechung zur dichterischen Symbolgestaltung angesehen werden, prägte Goethe fürs Märchen die sinnvolle Ausdeutung »Märchen: das uns unmögliche Begebenheiten unter möglichen oder unmöglichen Bedingungen als möglich darstellt.«Er betonte ausdrücklich, daß er dies als Gegensatz zum Roman verstanden haben möchte: »—der uns mögliche Begebenheiten unter unmöglichen oder beinahe unmöglichen Bedingungen als wirklich darstellt«. Das ist eine höchst beachtenswerte Definition. Aufschlußreich besonders auch für Goethe selber, und man tut gut, auch von dieser Sicht her sich einmal seinen großen Roman »Die Wahlverwandtschaften«mitsamt aller dort eingewobenen Symbolbezüglichkeit neben die von ihm selber gern und mit Fleiß geschriebenen Märchen zu rücken -besonders jenes, das sich ebenso bewußt wie scheinbar nur absichtslos einfach »Das Märchen« nennt. Für Märchen hat schon der Knabe Goethe sich oft bis zu heller Begeisterung erwärmen können. Die Mutter konnte ihn durch Märchenerzählen immer wieder erfreuen. Sie selber hat der Freundin Bettina darüber berichtet und ist dann zuweilen ganz beseligt und wie verzaubert gewesen. Hören wir ihr ruhig einmal zu. Es beglückt, derart zu vernehmen, wie Märchen und Märchenerzählen das kindliche Gemüt so wundersam anzurühren vermögen, aber ein geistig waches Kind auch schon zum eigenen Fabulieren anzuregen fähig sind. Frau Aja berichtete - und Bettina hat getreulich notiert:

»Ich konnte nicht ermüden, zu erzählen, so wie er nicht ermüdete zuzuhören. Da saß ich, und da verschlang er mich bald mit seinen großen schwarzen Augen, und wenn das Schicksal irgendeines Lieblings nicht recht nach seinem Sinn ging, da sah ich, wie die Zornader an der Stirn



Bd-06-274_Anhang Flip arpa

schwoll und wie er die Tränen verbiß. Manchmal griff er ein und sagte, noch eh ich meine Wendung genommen hatte: Nicht wahr, Mutter, die Prinzessin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn er auch den Riesen totschlägt. Wenn ich neuen Halt machte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, daß er bis dahin alles zurechtgerückt hatte, und so ward mir denn meine Einbildungskraft, wo sie nicht mehr zureichte, häufig durch die seine ersetzt; wenn ich dann am nächsten Abend die Schicksalsfäden nach seiner Angabe weiter lenkte und sagte: Du hast's erraten, so ist's gekommen, da war er Feuer und Flamme, und man konnte sein Herzchen unter der Halskrause schlagen sehen. Der Großmutter, die im Hinterhause wohnte und deren Liebling er war, vertraute er nun allemal seine Ansichten, wie es mit der Erzählung wohl noch werde, und von dieser erfuhr ich, wie ich seinen Wünschen gemäß weiter im Text kommen solle; und so war ein geheimes diplomatisches Treiben zwischen uns, das keiner an den andern verriet. So hatte ich die Satisfaktion, zum Genuß und Erstaunen der Zuhörenden, meine Märchen vorzutragen, und der Wolfgang, ohne je sich als den Urheber aller merkwürdigen Ereignisse zu bekennen, sah mit glühenden Augen der Erfüllung seiner kühn angelegten Pläne entgegen und begrüßte das Ausmalen derselben mit enthusiastischem Beifall.«

Für die Vielfalt des schöpferisch befruchtenden Austauschs, die alles Märchenerzählen zwischen Mutter und Kind lebendig in Gang bringt, ist das wohl eines der schönsten Beispiele, die wir aus deutscher Geistesgeschichte kennen. Es bekräftigt zugleich auch die Meinung, daß zum rechten Märchenerzählen zumindest in Europa die Frau gehört, die Mutter und die Großmutter. Außer jener Frau Viehmännin, der die Brüder Grimm einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Märchensammlung zu danken haben, und der berühmten Apothekerstochter in Kassel, die Wilhelm Grimm später zu seiner Gattin machte, wären in den deutschen Ländern, aber auch in Italien, Frankreich und anderswo noch eine Anzahl solcher begnadeten Frauen zu nennen. Im von altersher hervorragend märchenkundigen Irland hat ein heutiger deutscher Weltreisender eine Frau dieser Art noch um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kennen- und schätzengelernt. In seinem wunderschönen und gemütstiefen Buch »Wo ich die Erde am schönsten fand« erzählt A. E. Johann: »Aller>modernstes<und Aller>ältestes<wohnen bei uns in Europa, aus dem eigenen Boden gewachsen, dicht beieinander in



Bd-06-275_Anhang Flip arpa

wahrhaft atemberaubender Vielfalt und tausendfacher Abstufung. Es ist erst wenige Jahre her, da saß ich am Herdfeuer der Anna Nicaluain, der Märchenerzählerin in der Grafschaft Donegal im Nordwesten Irlands, und hörte sie Geschichten erzählen aus den Tagen der Vorzeit, den Tagen, in denen Gut und Böse noch fraglos gut und böse war, in denen die Menschen ihr Schicksal trugen und offenen Auges damit untergingen, wenn es ihnen so bestimmt war.« Er schließt seine Betrachtungen über den Zauber des westlichen Teils der Insel, dort, wo der englische Einfluß noch am schwächsten ist, mit dem ergreifenden Ausruf: »Welche Menschen, wenn man nur genau hinsieht! Und eigentlich Menschen, die der technischen Zivilisation, der Ehrfurcht vor Motoren und Apparaten noch nicht verfallen sind. Dort gilt der Mensch nicht nach dem, was er hat, sondern nach dem, was er ist. Das allein ist wahrhaft menschlich.«Das gleiche wußte auch der große irische Dichter und Dramatiker Yeats zu erzählen, der oftmals heimlich aufgebrochen ist, um abgelegen alten irischen Märchenerzählerinnen an deren Herdfeuern zu lauschen, wo er sich auch die gespenstigen Stoffe zu vielen seiner Bühnen- und Zauberstücke zu holen pflegte. Hie und da werden wohl auch im deutschen Sprachbereich Männer als Träger der im Volke von Mund zu Mund laufenden Tradition erwähnt, und gesprochen wurde einmal davon, daß ein Volkskundler noch um die Jahrhundertwende mehr als hundert Märchen wörtlich aus dem Munde eines Straßenkehrers aus Odenburg im österreichischen Burgenland aufzeichnete, der ansonsten des Lesens und Schreibens völlig unkundig war. Es hat auch in Siebenbürgen berühmte Märchenerzähler von Beruf gegeben, die - Männer wie Frauen -gleich Spielleuten gegen Entlohnung tätig waren. Noch aus dem späteren 19. Jahrhundert weiß aus Pommern der dortige Märchensammler Ulrich Jahn, wie Männer dieser Art den Brauch bekundeten, ihre Erzählung just an Stellen, wo sie besonders spannend wurden, mit der nachdrücklichen Bitte zu unterbrechen, ihnen einen kräftigen Trunk zu kredenzen; und in Ostpreußen haben auf Dörfern herumziehende Märchenerzählerinnen wohl auch vorkommende Verse - statt sie zu sprechen - in zuweilen altertümlich anmutenden Melodien mehr gesummt als gesungen. Doch sind das meist Ausnahmen gewesen. Und wenn heutzutage die vor allem durch den Rundfunk bekanntgewordene Elsa Sophia von Kamphoevener erzählt, daß sie als junges Mädchen in der Türkei gelebt hat, dort Karawanen und Märchenerzähler begleitete und von diesen nicht nur den eigentlichen



Bd-06-276_Anhang Flip arpa

Inhalt ihrer Märchen kennenlernte, sondern die dahintersteckende Tradition intuitiv erfaßt hat, so ist dergleichen in seiner genialischen Perfektion schon reiner Orient. Auch was sie davon erzählt, wie sie zu Anfang gelegentlich einspringen durfte für ermüdete Erzähler und zuletzt von einem in feierlicher Zeremonie in dessen Sippe aufgenommen worden ist, kann dafür als Beweis gelten: »Die das Märchen erzählen, sind Männer, nicht Frauen und Mütter, Männer aus der Zunft der vollberechtigten Märchenerzähler, denn nicht jeder, der Märchen weiß, darf sie auch erzählen, ihre Wiedergabe ist eine beinahe kultische Handlung, die keinem Unberufenen anvertraut wird.«

Während bei den europäischen Völkern das Märchenerzählen als eine von den Ahnen und Großmüttern sich zu den Müttern forterbende Familientradition lebendig war und zuweilen noch ist, wird diese hohe Kunst im Orient von den Zünften nach strengen Zunftgesetzen gehandhabt, wie sie in Europa das Mittelalter gekannt hat. »Es sind einzelne Sippen, in denen sich die Kunst und das Handwerk, d.h. die Technik des Erzählens, forterben. Jede Sippe hat ihren bestimmten Märchenkreis, der ihr allein gehört, den nur sie erzählen darf. Wer der Zunft angehört, unterwirft sich feierlich ihren Gesetzen. Dazu gehört auch das Versprechen, kein Märchen aufzuzeichnen. Märchenerzählen ist die Kunst der Analphabeten, die Kunst derjenigen, die die Dinge lebendig in sich tragen und es verabscheuen, sie in tote Buchstaben zu bannen. Was man im Kopf und im Herzen trägt, ist persönlicher Besitz und lebt; was man aufzeichnet, ist starr und unlebendig.« Derart haben im alten Orient und in Ägypten an den Königshofen Könige und Prinzen Märchen erzählt. Esther hat dem König der Perser, Schehezerade dem arabischen Sultan ihre Märchen mündlich vorgetragen.

Unrichtig wäre es zu behaupten, daß uns heutigen Europäern die Frau die alleinige Hüterin des Märchens sei. Aber im europäischen Märchen ist wohl von jeher die Großmutter zur Weitergabe von stärkerer Bedeutung gewesen als der Großvater. Was wir vorhin von Goethes Mutter und Großmutter durch den Mund der Freundin Bettina sagen ließen, gilt in leichter Abwandlung für viele deutsche Familien.

Herder ist es gewesen, der in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« mit Nachdruck gesprochen hat von der Süße der Mutterliebe, »mit der die Natur dies Geschlecht ausstattete —fast unabhängig ist sie von kalter Vernunft und weit entfernt von eigennütziger Lohnbegierde. Nicht weil es liebenswürdig ist, liebt die



Bd-06-277_Anhang Flip arpa

Mutter ihr Kind, sondern weil es ein lebendiger Teil ihres Selbst, das Kind ihres Herzens, der Abdruck ihrer Natur ist. Darum regen sich ihre Eingeweide über seinem Jammer: ihr Herz klopft stärker bei seinem Glück: ihr Blut fließt sanfter, wenn die Mutterbrust, die es trinkt, es gleichsam noch an sie knüpft. Durch alle unverdorbenen Nationen der Erde geht dieses Muttergefühl; kein Klima, das sonst alles ändert, konnte dies ändern. Die Keime zum Gefühl alles Großen und Edlen liegen nicht nur allenthalben da, sondern sie sind auch überall ausgebildet, je nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die Eigenheit des Volks erlaubte.« Und er fährt fort, indem er von der Religion sagt, daß sie die älteste und heiligste Tradition der Erde sei, zu demonstrieren, daß »die Familien das ewige Werk der Natur sind —die fortgehende Haushaltung, in der sie den Samen der Humanität dem Menschengeschlecht einpflanzt und selbst erzieht. Sprachen wechseln mit jedem Volk in jedem Klima; in allen Sprachen aber ist ein und dieselbe merkmalsuchende Menschenvernunft erkennbar. Religion endlich, so verschieden ihre Hülle sei; auch unter dem ärmsten, rohsten Volk am Rande der Erde finden sich ihre Spuren. Woher kam nun Religion den Völkern? Hat jeder Elende sich seinen Gottesdienst etwa wie eine natürliche Theologie erfunden? Die Mühseligen erfinden nichts; sie folgen in allem der Tradition ihrer Väter. Auch gab ihnen von außen zu dieser Erfindung nichts Anlaß; denn wenn sie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Tieren oder der Natur ablernten: welchem Tier, welchem Naturgegenstande sahen sie Religion ab? Von welchem derselben hätten sie Gottesdienst gelernt? Tradition ist also hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Kultur, so auch ihrer Religion und heiligen Gebräuche. Sogleich folgt hieraus, daß sich die religiöse Tradition keines andern Mittels bedienen konnte, als dessen sich die Vernunft und Sprache selbst bediente: der Symbole. Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt werden will, muß jede Einrichtung ein sichtbares Zeichen haben, wenn sie für andre und für die Nachwelt sein soll: wie konnte das Unsichtbare sichtbar oder eine verlebte Geschichte den Nachkommen aufbehalten werden als durch Worte und Zeichen? Daher ist auch bei den rohesten Völkern die Sprache der Religion immer die älteste, dunkelste Sprache.« Auf diesem Wege geschieht's, daß Herder wie in aller Mythologie so auch in den Sagen und Märchen gewissermaßen Reste uralten Volksglaubens zu sehen meint: Kräfte und Triebe, »wo man träumt, weil



Bd-06-278_Anhang Flip arpa

man doch nicht weiß, und glaubt, weil man doch nicht sieht - und mit der ganzen unzerteilten und ungebildeten Seele wirket . . .« Ihm als erstem unter den Deutschen waren also Märchen kein bloßes Gerede und Geflunker; er erkannte in ihnen eine dem einfachen Volk eigene Ausdrucksform seines Empfindens, Fühlens und Denkens.

Wie Herder das fühlte, hat Novalis es poetisch gestaltet. Das Märchen von »Hyazinth und Rosenblüt« dürfte das gelungenste und zugleich kindhafteste Stück Poesie sein, das er uns schenkte. Es führt alles Wissen, jegliche Gelehrsamkeit, alle mühselige Grübelei zurück zur kindlichen Einfalt, die eine höhere Weisheit ist. Lange ist Hyazinth suchend umhergewandert, bis er vor Müdigkeit schließlich einschläft und träumt. Der Traum nun entrückt ihn ins Allerheiligste, er hebt den Schleier auf, und seine Traumaugen erblicken Rosenblütchen, seine in Kinderjahren innig Geliebte. Alle Natur wird vom Märchen belebt. Nur die Menschen werden versteinert, die Vögel sprechen, das Veilchen unterhält sich mit der Erdbeere und diese wiederum mit den Tieren im Walde. Geheimnisvoll und von ferne klingt Musik auf, Rosenblütchen sinkt in Hyazinths Arme, und beide leben danach noch lange Zeit mit seinen frohen Eltern und Gespielen samt unzählig vielen Kindern und Enkeln zusammen, »denn damals bekamen die Menschen so viele Kinder, als sie haben wollten . . *



***
Novalis war der ungekrönte König der Romantiker, und vielen gilt heute noch sein »Heinrich von Ofterdingen« als ein heiliges Buch. Es wäre darüber auch an dieser Stelle wohl mancherlei zu sagen. Wir wollen ihn selbst sprechen lassen und ein Stück aus dem Anfang des ersten Teils dieses zauberhaften Romans abdrucken, jenen Abschnitt, da der junge Heinrich, soeben vom Schlafe erwacht, gerade mit dem Vater über die Wonne des Träumens gesprochen hat, dann die Mutter hinzutritt und den Vater fragt, ob er sich wohl noch erinnere, »daß du mir damals auch von einem Traum erzähltest, den du in Rom gehabt hattest und der dich zuerst auf den Gedanken gebracht, zu uns nach Augsburg zu kommen und um mich zu werben«. —

»Du erinnerst mich eben zur rechten Zeit«, sagte der Alte, »ich habe diesen seltsamen Traum ganz vergessen, der mich damals lange genug beschäftigte; aber eben er ist mir ein Beweis dessen, was ich von den Träumen gesagt habe. Es ist unmöglich, einen geordneteren und helleren zu haben; noch jetzt entsinne ich mich jedes Umstandes ganz genau;



Bd-06-279_Anhang Flip arpa

und doch, was hat er bedeutet? Daß ich von dir träumte und mich bald darauf von Sehnsucht ergriffen fühlte, dich zu besitzen, war ganz natürlich: denn ich kannte dich schon. Dein freundliches, holdes Wesen hatte mich gleich anfangs lebhaft gerührt, und nur die Lust nach der Fremde hielt damals meinen Wunsch nach deinem Besitz noch zurück. Um die Zeit des Traums war meine Neugier schon ziemlich gestillt, und nun konnte die Neigung leichter durchdringen.«

»Erzählt uns doch jenen seltsamen Traum!« sagte der Sohn. —»Ich war eines Abends«, fing der Vater an, »umhergestreift. Der Himmel war rein, und der Mond bekleidete die alten Säulen und Mauern mit seinem bleichen, schauerlichen Lichte. Meine Gesellen gingen den Mädchen nach, und mich trieb das Heimweh und die Liebe ins Freie. Endlich ward ich durstig und ging ins erste beste Landhaus hinein, um einen Trunk Wein oder Milch zu fordern. Ein alter Mann kam heraus, der mich wohl für einen verdächtigen Besuch halten mochte. Ich trug ihm mein Anliegen vor; und als erfuhr, daß ich ein Ausländer und ein Deutscher sei, lud er mich freundlich in die Stube und brachte eine Flasche Wein. Er hieß mich niedersetzen und fragte mich nach meinem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher und Altertümer. Wir gerieten in ein weitläufiges Gespräch; er erzählte mir viel von alten Zeiten, von Malern, Bildhauern und Dichtern. Noch nie hatte ich davon reden hören. Es war mir, als sei ich in einer neuen Welt an Land gestiegen. Er wies mir Siegelsteine und andre alte Kunstarbeiten; dann las er mir mit lebendigem Feuer herrliche Gedichte vor, und so verging die Zeit wie ein Augenblick. Noch jetzt heitert mein Herz sich auf, wenn ich mich des bunten Gewühls der wunderlichen Gedanken und Empfindungen erinnere, die mich in dieser Nacht erfüllten. In den heidnischen Zeiten war er wie zu Hause und sehnte sich mit unglaublicher Inbrunst in dies graue Altertum zurück. Endlich wies er mir eine Kammer an, wo ich den Rest der Nacht zubringen könnte, weil es schon zu spät sei, um noch zurückzukehren. Ich schlief bald, und da dünkte mich's, ich sei in meiner Vaterstadt und wanderte aus dem Tore. Es war, als müßte ich irgendwohin gehn, um etwas zu bestellen, doch wußte ich nicht, wohin, und was ich verrichten solle. Ich ging nach dem Harz mit überaus schnellen Schritten, und wohl war mir, als sei es zur Hochzeit. Ich hielt mich nicht auf dem Wege, sondern immer feldein, durch Tal und Wald, und bald kam ich an einen hohen Berg. Als ich oben war, sah ich die Goldne Aue vor mir und überschaute Thüringen weit und breit,



Bd-06-280_Anhang Flip arpa

also daß kein Berg in der Nähe umher mir die Aussicht wehrte. Gegenüber lag der Harz mit seinen dunklen Bergen, und ich sah unzählige Schlösser, Klöster und Ortschaften. Wie mir nun da recht wohl innerlich ward, fiel mir der alte Mann ein, bei dem ich schlief, und es gedeuchte mir, als sei das vor geraumer Zeit geschehn, daß ich bei ihm gewesen sei. Bald gewahrte ich eine Stiege, die in den Berg hinein ging, und ich machte mich hinunter. Nach langer Zeit kam ich in eine große Höhle. Da saß ein Greis in einem langen Kleide vor einem eisernen Tische und schaute unverwandt nach einem wunderschönen Mädchen, die in Marmor gehauen vor ihm stand. Sein Bart war durch den eisernen Tisch gewachsen und bedeckte seine Füße. Er sah ernst und freundlich aus und gemahnte mich wie ein alter Kopf, den ich den Abend bei dem Manne gesehn hatte. Ein glänzendes Licht war in der Höhle verbreitet. Wie ich so stand und den Greis ansah, klopfte mir plötzlich mein Wirt auf die Schulter, nahm mich bei der Hand und führte mich durch lange Gänge mit sich fort. Nach einer Weile sah ich von weitem eine Dämmerung, als wollte das Tageslicht hereinbrechen. Ich eilte darauf zu und befand mich bald auf einem grünen Plane; aber es schien mir alles ganz anders als in Thüringen. Ungeheure Bäume mit großen glänzenden Blättern verbreiteten weit umher Schatten. Die Luft war sehr heiß und doch nicht drückend. Überall Quellen und Blumen, und unter allen Blumen gefiel mir eine ganz besonders, und es kam mir vor, als neigten sich die andern gegen sie.«

»Ach, liebster Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte«, rief der Sohn mit heftiger Bewegung.

»Das entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe.«

»War sie nicht blau?«

»Es kann sein«, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs seltsame Heftigkeit Achtung zu geben. »So viel weiß ich nur noch, daß mir ganz unaussprechlich zumute war und ich mich lange nicht nach meinem Begleiter umsah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerksam betrachtete und mir mit inniger Freude zulächelte. Auf welche Art ich von diesem Ort wegkam, erinnere ich mich nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter stand bei mir und sagte: >Du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bei dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in acht, was ich dir sage: wenn du am Tage Johannis



Bd-06-281_Anhang Flip arpa

gegen Abend wieder hierher kommst und Gott herzlich um das Verständnis dieses Traumes bittest, so wird dir das höchste irdische Los zuteil werden; dann gib nur acht auf ein blaues Blümchen, was du hier oben finden wirst, brich es ab und überlaß dich dann demütig der himmlischen Führung.< Ich war darauf im Traum unter den herrlichsten Gestalten und Menschen, und unendliche Zeiten gaukelten mit mannigfachen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik. Darauf ward alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, verschämten Blick vor mir; sie hielt ein glänzendes Kind auf den Armen und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward und sich endlich mit blendend weißen Flügeln über uns erhob, uns beide in seinen Arm nahm und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinnere ich mich nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abschied von meinem gastfreien Wirt, der mich bat, ihn oft wieder zu besuchen, was ich ihm zusagte, und auch Wort gehalten haben würde, wenn ich nicht bald darauf Rom verlassen hätte und ungestüm nach Augsburg gereist wäre.«

Lassen wir es an dieser Stelle genug sein mit der vorbereitenden Erzählung des Vaters. Der Roman will in seiner Gänze und mit Bedacht - will so recht von einer andachtsvoll geöffneten jungen Seele gelesen werden -nach dem ersten Teil, zu dem ja dieses Kapitel nur etwas wie ein herausgegriffenes Stück einer Kostprobe sein konnte -nicht mehr — auch der weit schwierigere und streckenweise bloß in Stichworten aufgezeichnete zweite Teil mitsamt allen eingefügten Gedichten und Versen, den aufwühlenden Gesprächen -Teil 1 »Die Erwartung« und Teil II »Die Erfüllung« —bis hin zu dem Gespräch zwischen dem Pilgrim und dem jungen Mädchen:

»Sie trat unter den Baum, sah mit einem unaussprechlichen Lächeln hinauf und führte den Pilger fort. >Wer hat dir von mir gesagt?<frug der Pilgrim. >Unsre Mutter.< —>Wer ist deine Mutter?< — >Die Mutter Gottes.< —>Seit wann bist du hier?< —>Seitdem ich aus dem Grabe gekommen bin.< —>Warst du schon einmal gestorben?< —>Wie könnt ich denn leben?< — >Lebst du hier ganz allein?< — >Ein alter Mann ist zu Hause, doch kenn ich noch viele, die gelebt haben.< — >Hast du Lust,



Bd-06-282_Anhang Flip arpa

bei mir zu bleiben?< —>Ich habe dich ja lieb.< —>Woher kennst du mich?< —>O! von alten Zeiten; auch erzählte mir meine ehemalige Mutter zeither immer von dir.< — >Hast du noch eine Mutter?< — >Ja, aber es ist eigentlich dieselbe.< —>Wie heißt sie?< —>Maria.< —>Wer war dein Vater?< —>Der Graf von Hohenzollern.< — >Den kenn ich auch.< —>Wohl mußt du ihn kennen, denn er ist auch dein Vater.< —>Ich habe ja auch meinen Vater in Eisenach.< —>Du hast mehr Eltern.< —>Wo gehn wir denn hin?< — >Immer nach Hause.«

So geht es weiter und weiter, scheint wie klar, hell und durchleuchtet — und wird zunehmend seltsamer. Von Eltern und Kindern ist die Rede, von Werden und Erziehung, Kinder werden mit Blumen verglichen. Es wird von einem unendlichen Leben gesprochen, der Herrlichkeit des Weltenendes und der goldenen Zukunft aller Dinge, der allmächtigen Liebe, die noch nicht zündet, keine verzehrende Flamme ist, eher schon einem zerrinnenden Duft ähnelt. Vom Geheimnisvollen der Wolken wird gesprochen, — »sie ziehn und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten auf und davon nehmen, und wenn ihre Bildung lieblich und bunt wie ein ausgehauchter Wunsch unseres Innern ist, so ist auch ihre Klarheit, das herrliche Licht, was dann auf Erden herrscht, wie die Vorbedeutung einer unbekannten, unsäglichen Herrlichkeit«,. . . aber es gibt auch düstere, ernste und entsetzliche Wolken, sie drohen mit allerlei Schrecken - und wenn dann verderbliche Strahlen herunterzukken, dann überfällt uns der Eindruck, allen Schrecken der Hölle und den Gewalten böser Geister überliefert zu sein. Von da an führt die Belehrung noch weiter übers Gewissen, das einem jeden eingewoben ist und in seinem innersten Menschsein alle Sinne zur Ausbildung »unseres gegenwärtigen Weltsinns« zusammenzuführen bestrebt ist.

Vieles und sehr Bedeutsames schließt sich an. Novalis starb und hat den »Ofterdingen«äußerlich unvollendet gelassen. Seine Absicht ist es gewesen, darin das eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen, deren Sinn und Gehalt das ist, das alle Dinge belebt. Mit Hilfe gründlicher Durchforschung der hinterlassenen Papiere hat Tieck einen »Bericht über die Forsetzung« des Märchenromans entworfen, dem nach ursprünglicher Planung sechs weitere Romane hatten angefügt werden sollen. Tieck nennt es einen unersetzlichen Verlust, daß der Roman nicht beendigt werden konnte, der immer erneut »aus dem Gewöhnlichsten in das Wundervollste überschweift, bis schließlich die Wunder



Bd-06-283_Anhang Flip arpa

verschwinden und sich unsichtbare und sichtbare Welt in ewiger Verknüpfung zusammenfinden.« Tieck zitiert auch jene Verse, die ihren Platz im »Ofterdingen«finden sollten und in denen leicht und anmutig sich der innere Geist des Schaffens dieses Friedrich von Hardenberg ausgedrückt hat, der sich selber den Märchennamen Novalis verliehen:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die ewgen Weltgeschichten,
dann fliegt vor einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.

Mit der Suche nach der »blauen Blume« hat's begonnen, in Sage und Geschichte scheint es sich immer und immer wieder zu verlieren, indianische Pflanzen werden besungen, indische Mythologie zu neuer Verklärung geführt; Tod und Leben in ein erhöhtes Einssein verschlungen. Eine innerste Durchdringung von Glauben, Phantasie und Poesie erschließt den Eintritt zur innersten Welt. Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen zusammen wie eine Familie, handeln und sprechen wie ein Geschlecht. Vollständig sichtbar wird die Welt der Märchen - und die wirkliche Welt verdichtet sich zum Märchen.

Dies alles deutet Tieck an und endet mit den Sätzen: »Die Ausarbeitung dieser großen Aufgabe würde ein bleibendes Denkmal einer neuen Poesie gewesen sein. Ich habe in dieser Anzeige lieber trocken und kurz sein wollen als in die Gefahr geraten, von meiner Phantasie etwas hinzuzusetzen. «

Wir dürfen uns im Rahmen dieser Betrachtung in Herkunft und Sinndeutung europäischer Märchenüberlieferung beim Versuch, die unvergleichliche Bedeutung dieses Novalis herauszustellen, im Anschluß an



Bd-06-284_Anhang Flip arpa

den Märchenroman des »Ofterdingen«darauf beschränken, zusätzlich einige jener höchst aufschlußreichen Bemerkungen anzuführen, die er im Rahmen seiner »Fragmente«dem Problem Märchen insgesamt noch widmete. Sie gehören zum Kostbarsten, was die romantische Schule zu seiner Erörterung beisteuerte; und es finden sich Sätze darunter, von denen die heutige Märchenforschung noch zehrt:

»Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie; alles Poetische muß märchenhaft sein. Der Dichter betet den Zufall an.

Im Märchen glaub ich am besten meine Gemütsstimmungen ausdrücken zu können.

Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traumbild, ohne Zusammenhang. Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten, zum Beispiel eine musikalische Phantasie, die harmonischen Folgen einer Äolsharfe, die Natur selbst.

Wird eine Geschichte ins Märchen gebracht, so ist dies schon eine fremde Einmischung. Eine Reihe artiger, unterhaltender Versuche, ein abwechselndes Gespräch, eine Redoute sind Märchen. Ein höheres Märchen wird es, wenn, ohne den Geist des Märchens zu verscheuchen, irgendein Verstand (Zusammenhang, Bedeutung usw.) hineingebracht wird.

Bedeutender Zug in vielen Märchen, daß, wenn ein Unmögliches möglich wird, zugleich ein andres Unmögliches unerwartet möglich wird; daß, wenn der Mensch sich selbst überwindet, er auch die Natur zugleich überwindet und ein Wunder vorgeht, das ihm das entgegengesetzte Angenehme gewährt, in dem Augenblick, als ihm das entgegengesetzte Unangenehme angenehm ward. Die Zauberbedingungen, zum Beispiel die Verwandlung des Bären in einen Prinzen, in dem Augenblicke, als der Bär geliebt wurde usw. Auch bei dem Märchen der beiden Genien. Vielleicht geschähe eine ähnliche Verwandlung, wenn der Mensch das Übel in der Welt liebgewönne: in dem Augenblick, als ein Mensch die Krankheit oder den Schmerz zu lieben anfinge, läge die reizendste Wollust in seinen Armen, die höchste positive Lust durchdränge ihn. Könnte Krankheit



Bd-06-285_Anhang Flip arpa

nicht ein Mittel höherer Synthesis sein? Je fürchterlicher der Schmerz, desto höher die darin verborgene Lust. (Harmonie.) Jede Krankheit ist vielleicht ein notwendiger Anfang der innigen Verbindung zweier Wesen, der notwendige Anfang der Liebe. Enthusiasmus für Krankheiten und Schmerzen. Tod, eine nähere Verbindung liebender Wesen.

Nichts ist mehr gegen den Geist des Märchens als ein moralisches Fatum, ein gesetzlicher Zusammenhang. Im Märchen ist echte Naturanarchie. Abstrakte Welt, Traumwelt, Folgerung von der Abstraktion usw. auf den Zustand nach dem Tode.

Sonderbar, daß eine absolute, wunderbare Synthesis oft die Achse des Märchens oder das Ziel desselben ist.

In einem echten Märchen muß alles wunderbar, geheimnisvoll und unzusammenhängend sein, alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein -die Zeit der allgemeinen Anarchie, der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturzustand der Natur - die Zeit vor der Welt (Staat). Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt, wie der Naturzustand ein sonderbares Bild des ewigen Reichs ist. Die Welt des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit (Geschichte) und eben darum ihr so durchaus ähnlich wie das Chaos der vollendeten Schöpfung.

In der künftigen Welt ist alles wie in der ehemaligen Welt - und doch alles ganz anders. Die künftige Welt ist das vernünftige Chaos -das Chaos, das Chaos, das sich selbst durchdrang, in sich und außer sich ist, Chaos 2 oder x Das echte Märchen muß zugleich prophetische Darstellung, idealische Darstellung, absolut notwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft . .

Mit der Zeit muß die Geschichte Märchen werden -sie wird wieder, wie sie anfing.

Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die



Bd-06-286_Anhang Flip arpa

überall und nirgends ist. Die höhern Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken.

Goethes >Märchen< ist eine erzählte Oper.«

Das scheint zuweilen den Wahnsinn zu streifen - und klingt an anderen Stellen wie beseelte Mathematik. Der abschließende Satz, der Goethes von lauter Symboldenken durchwobenes »Märchen« eine erzählte, epische Oper nennt, verlangt, um richtig verstanden zu werden, den ergänzenden Hinweis auf des Dichters andere Interpretation: »Vollkommene Oper ist eine freie Vereinigung aller, die höchste Stufe des Dramas -Epos ist wohl nur ein unvollkommenes Drama. Epos ist poetisch erzähltes Drama.«Um diese Gedanken weiterzuführen, ließe sich auch sagen, daß es notwendig und sicher überaus aufschlußreich wäre, das ganze Leben des Novalis selbst in seiner innigen Durchdringung von Realität und Traum, von Leben und Tod rein als Märchen, als Kunstmärchen und zugleich tatsächlich gelebtes Märchen zu deuten. Wir brechen ab und setzen an den Abschluß dieser Betrachtung jene Worte seines Freundes Ludwig Tieck, der von ihm schrieb, kurz nachdem Novalis - noch nicht neunundzwanzig Jahre alt - sein irdisches Dasein vollendet hatte: »Viele seiner großen Gedanken werden noch in Zukunft begeistern, und edle Gemüter und tiefe Denker werden von den Funken seines Geistes erleuchtet und entzündet werden . . . Ohne Eitelkeit, gelehrten Hochmut, entfremdet jeder Affektation und Heuchelei, war er ein echter, wahrer Mensch, die reinste und lieblichste Verkörperung eines hohen unsterblichen Geistes.«

Ist er selber in Person ein Märchen gewesen? Zumindest dürfte er auf manchen seiner Zeitgenossen wie die Figur eines Märchens gewirkt haben. Und wie eine solche ist er in die Nachwelt eingegangen. Stärker als durch jeden anderen -Tieck selber, Arnim, Brentano -auch in sehr anderer Weise Goethe -gewinnt, wer immer sich mit ihm und seinen Schriften näher beschäftigt, den berückenden Eindruck, Lüfte und Düfte unmittelbarster Märchenwelt zu atmen.

Woher kommen Märchen überhaupt? Wie sind sie entstanden? Was wissen wir von ihrer Überlieferung und was ist deren Bedeutung? Zu derartigen Fragen regt Novalis an, doch wird's gut und notwendig sein, sich in diesen Zusammenhängen einem Manne und beflissenen



Bd-06-287_Anhang Flip arpa

Sammler und Forscher -Wilhelm Grimm, dem auf geschlosseneren der beiden Marburger Brüder, zuzuwenden.

Bei ihm vernehmen wir (und hier nun wird eindeutig das traditionelle Volksmärchen abgehoben von der Gattung des erdichteten, des Kunstmärchens):

»Unsere Volksmärchen erscheinen allerorten als Überlieferungen und als solche in mehr als einer Hinsicht merkwürdig. Erstlich ist es unwidersprechlich, daß sie schon seit Jahrhunderten auf diese Weise unter uns fortgelebt, zwar mannigfach im Äußern sich umwandelnd, aber doch bei ihrem eigentlichen Inhalte beharrend. Wollte man annehmen, daß sie von irgendeinem Punkte in Deutschland anfänglich ausgegangen wären, so steht ihre Verbreitung durch so viel ganz voneinander getrennte Gegenden und Landschaften und die fast jedesmal eigentümliche und unabhängige Bildung entgegen; sie müßten an jedem Orte wieder neu umgedichtet worden sein. Eben darum ist auch eine Mitteilung durch Schrift, die ohnehin bei dem Volk kaum vorkommt, nicht denkbar. Aber nicht bloß in den verschiedensten Gegenden, wo Deutsch gesprochen wird, sondern auch bei den stammverwandten Nordländern und Engländern finden wir sie wieder; noch weiter bei den welschen und selbst bei den slawischen Völkern in verschiedenen, nähern und entferntern Graden der Verwandtschaft. Besonders auffallend ist die Übereinstimmung mit den serbischen Märchen, denn es wird wohl niemand darauf verfallen, daß die Erzählungen in einem einsamen hessischen Dorfe durch Serbier könnten dahin verpflanzt sein, so wenig als auf das Gegenteil. Endlich finden sich sowohl in einzelnen Zügen und Wendungen als im Zusammenhang des Ganzen Übereinstimmungen mit morgenländischen, persischen und indischen Märchen. Die Verwandtschaft also, welche in der Sprache aller dieser Völker durchbricht, offenbart sich gerade so in ihrer überlieferten Poesie, welche ja auch nur eine höhere und freiere Sprache des Menschen ist. Nicht anders als dort deutet dieses Verhältnis auf eine der Trennungen der Völker vorangegangene gemeinsame Zeit; sucht man aber nach diesem Ursprunge hin, so weicht er immer wieder in die Ferne zurück und bleibt wie etwas Unerforschliches und darum Geheimnisreiches in der Dunkelheit zurück.

Was den Inhalt selbst betrifft, so zeigt er bei näherer Betrachtung nicht ein bloßes Gewebe phantastischer Willkür, welche nach der Lust oder



Bd-06-288_Anhang Flip arpa

dem Bedürfnis des Augenblicks die Fäden bunt ineinander schlägt, sondern es läßt sich darin ein Grund, eine Bedeutung, ein Kern gar wohl erkennen. Es sind hier Gedanken über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter Glaube und Glaubenslehre in das epische Element, das sich mit der Geschichte eines Volks entwickelt, getaucht und leiblich gestaltet. Doch Absicht und Bewußtsein haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Überlieferung ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußert, das von ihr einmal Empfangene aber halb Unverständliche nach der Weise der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen. Je mehr das Epische Oberhand gewinnt, desto mehr wird das Bedeutende verhüllt. Die beständige Umwandlung hat natürlich viel Neues beigemischt, auf der andern Seite mußte der zugrunde liegende alte Glaube, eben weil er fremd und unverständlich ward, allmählich verschwinden, gleichsam abdorren. Der poetische Trieb bildete daraus etwas sinnlich Verständliches und Ansprechendes, aus welchem aber die Bedeutung nur hier und da dunkel, fast wider Willen hervorleuchtete, oder um es biblisch auszudrücken: das Sonnenauge des Geistes wurde auf den farbigen Pfauenspiegel der Dichtung verteilt. Dennoch läßt sich schon im voraus vermuten, daß, was zurückgedrängt wurde, nicht ganz verloren ging, und ist es hier leichter, etwas mit Wahrscheinlichkeit zu vermuten, als mit Gewißheit darzutun, so zeigt doch die nähere Betrachtung noch kenntliche Spuren der frühesten Zeit. Freilich auch nur einzelne, da das zwischengewachsene epische Grün längst den Zusammenhang verdeckt oder zerstört hat.

Schon die Belebung der ganzen Natur kann man als eine fortdauernde Überlieferung aus jener Zeit betrachten. Uns ist diese Ansicht nicht befremdend, da wir wissen, daß das Heidentum überall davon ausgegangen; für das Volk würde sie es gewiß sein, wenn sie ihm erst sollte gegeben werden. Der Sonne, dem Mond, den Sternen wohnt vor allem eine geistige Natur bei, und wenn sie zu den Bedrängten reden, ihnen Geschenke geben, die sie erretten, so erscheinen sie als angebetete, göttliche Wesen, wie sie es in den alten Zeiten der Deutschen wirklich waren. Auch die Bäume und Quellen, deren Verehrung sich lange fort erhielt, sind hier beseelt. Der Machandelbaum, d.h. der Leben verleihende, verjüngende Baum (juniperus) ist sichtbar ein guter Geist, seine Früchte erfüllen den Wunsch der Mutter nach einem Kinde; die gesammelten Knochen des Gemordeten werden unter seinen Ästen, die sich



Bd-06-289_Anhang Flip arpa

gleich den Armen eines Menschen bewegen und sie umfassen, wieder belebt, und die von ihm aufgenommene Seele steigt aus den leuchtenden, aber nicht brennenden Flammen der Zweige in der Gestalt eines Vögleins hervor. Es ist nur anders ausgedrückt, wenn das in den Fluß geworfene Kind oder die weiße Braut gleichfalls in dem Bild eines Vogels sich wieder erhebt; der Fluß ist da ein belebter Geist. Anderwärts fangen die Zweige an sich zu erweichen und umfassen mit ihren Armen die in Trauer an dem Stamm Ruhende. Auch dem Grabe der Mutter entspringt ein Bäumchen, zu dem sich Aschenbrödel in der Not wendet und das Geschenke herabwirft. Oder aus dem vergrabenen Eingeweide (dem Herzen) eines geliebten Tiers wächst ein Baum mit goldenen Äpfeln, der nur dem, wem er mit Recht gehört, gehorcht und folgt. Die Quelle aber, die glänzend über die Steine springt (wie heiliges Wasser in der Edda von den Bergen herabrinnt), ruft den Kindern zu, nicht aus ihr zu trinken, weil sie sonst verwandelt würden. — Weiter reicht schon die höhere Natur, die den Tieren beigelegt wird. Das Pferd Fallada spricht (wie Mimers Haupt) nach dem Tode noch zu seiner Gebieterin. Die Raben weissagen, sie wissen, gleich Odins Raben Huginn und Muninn (d. h. die mit Verstand und Gedächtnis begabten), was in der Welt geschieht. Oberhaupt aber werden häufig die Vögel als Geister betrachtet. Die Tauben kommen und lesen dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche, hacken aber den bösen Schwestern das Aug' aus; ein Vöglein wirft dem Vater eine goldene Kette um den Hals, der gottlosen Stiefmutter einen Mühlstein auf den Kopf. Wer das Herz, die Leber eines Vogels ißt, erhält übernatürliche Kräfte. —Eine der ältesten Spuren der heidnisch-symbolischen Vermischung des Tierischen und Menschlichen sind die Schwanenjungfrauen, welche hier ganz in der Gestalt und Art vorkommen, wie sie von dem alteddischen Wölundslied und den Nibelungen dargestellt werden.

Mit dieser Ansicht von einer allbelebten Natur hängt auch das Übergehen in eine andere Gestalt zusammen, und die hier verwandelten Steine, Bäume, Pflanzen sind eigentlich geistig belebte. So schwört auch in der Edda dem Baldur die ganze Natur, nicht bloß Vögel und Tiere, sondern auch Feuer, Wasser, Eisen, Erz, Steine und Bäume Sicherheit vor aller Gefahr, und hernach beweinen sie seinen Tod. Selbst die Zauberei, deren Macht sich hier so oft wirksam zeigt, beruht auf diesem Glauben, von einem allen Dingen inwohnenden Geist, über welchen man Herrschaft erlangen und ausüben kann.



Bd-06-290_Anhang Flip arpa

Der Gegensatz des Guten und Bösen ist häufig durch Schwarz und Weiß, Licht und Finsternis ausgedrückt. Die guten, hilfebringenden Geister sind fast immer weiße Vögel und werden sie genannt: die reinen, gallenlosen Tauben; die bösen aber und unheilverkündenden sind schwarze Raben. Es sind die schwarzen und weißen Alfen der nordischen Mythologie, welche die höchsten Güter ebenso unterscheiden mochte, da Heindal der Weltbestrahler der weiße Ase ausdrücklich heißt und Balder lichtstrahlend ist. Aber auch bei Menschen wird auf diese Weise der Gegensatz bezeichnet. Das fromme Mädchen wird weiß wie der Tag, das gottlose schwarz wie die Sünde (Nacht). So kennt die Edda Söhne des Tags und die Tochter der Nacht, und der eddische Name Dagr, welcher an unserm Dagobert, Tagglänzend, noch verstärkt erscheint, mag auf gleicher Idee beruhen. In jenem Schlosse ist alles schwarz und die drei schlafenden (zum Tod erstarrten) Königstöchter haben durch die Hoffnung zur Erlösung, denn der Zauber ist eine schwarze Kunst, nur erst ein wenig Weiß (Leben) im Antlitz. Eine andere kehrt stufenweise zu der Farbe des Lichts zurück, am ersten Tage werden die Füße, am andern der Leib bis zu den Händen, am dritten endlich auch das Gesicht wieder rein und weiß, und dann erst ist die finstere Macht ganz bezwungen. Der Königsohn, der bei Tag schläft, nur in der Nacht wacht, und den, wenn er nicht unglücklich werden soll, kein Lichtstrahl berühren darf, ist gleichfalls ein schwarzer Alfe; auch diese flohen das Licht und wurden, von der Sonne getroffen, zu Stein. Daher die Sonne: der Jammer, die Klage der Alfen heißt. Auch das Märchen von der Gänsemagd und der schwarzen und weißen Braut gehört hierher; es ist eigentlich die Mythe von der wahren und falschen Berta. Schon dieser Name sagt die Glänzende aus, sie kämmt darum ihre goldstrahlenden Haare, weil sie, wie jene Königstochter, die ohne Kleidung sich bloß in den Mantel ihrer goldenen Haare hüllt, eine strahlende Sonne, eine leuchtende Lichtelfin oder was dasselbe: eine weiße Schwanenjungfrau ist. Eine solche scheint auch ursprünglich Schneeweißchen gewesen zu sein, das selbst im Tode noch weiß und schön bleibt und von den guten (weißen) Zwergen verehrt und gehütet wird. Dabei darf man wohl an die zwei Welten der nordischen Mythologie, die eine des Lichts und der Seligkeit (Muspelheim) und die andere der Nacht und Finsternis (Nifelheim) erinnern.

Das Gute wird von dem Herrn belohnt, das Böse bestraft; er kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen findet



Bd-06-291_Anhang Flip arpa

er verdorben, diesen fromm und nach seinen Gesetzen lebend. Er verteilt darnach seine Gaben, die jenem zum Verderben, diesem zum Heil ausschlagen. Oder, indem er wandelt, begegnet er einer guten und einer bösen Schwester, jener gewährt er die himmlische Schönheit, diese straft er mit Häßlichkeit. Eigentümlich ist der Gegensatz ausgedrückt, wenn der Teufel als ein Gegengewaltiger sein eigenes Getier sich erschafft, seine Geißen aber alle fruchtbaren Bäume benagen, die edlen Reben schädigen und die zarten Pflanzen verderben, so daß sie der Herr von seinen Wölfen muß zerreißen lassen. Er ist der Schwarze, der nordische Surtur, der gegen die lichtstrahlenden milden Götter streitet.

Oberhaupt die Weise, wie Gott, der Tod und der Teufel leiblich auftreten, hat nicht selten einen ganz heidnischen Anstrich. Gott zieht umher, wie Odin, in Menschengestalt und wird scheinbar getäuscht, ja der Spielhans fängt zuletzt, wie ein Jöte oder Titan, Krieg gegen den Himmel an und will sich mit Gewalt den Zugang eröffnen. Auch die Fahrt in die Hölle (die Unterwelt, die nordische Hei) wird von dem, der in einer Glückshaut geboren ist, unternommen, und ihm gelingt es, die drei goldenen Haare des Teufels (den geraubten Hort) heraufzuholen. Dieser hat hier und in einem andern Märchen, wo er von drei Soldaten, denen er Rätsel vorlegt, ganz das Wesen eines naturstarken, in Felsenhöhlen wohnenden Jöten, den das kleine aber edlere Geschlecht, von seiner eigenen Tochter, Frau oder Mutter unterstützt, überlistet; nicht anders als wie Thor den Kessel des Hymer (Weltbecher, aus welchem die Götter trinken wollen) holt. Die Strafe des Bösen: in eine Tonne unter Nattern geworfen zu werden, erinnert nicht bloß an die Schlangenhöhlen der Sagen, sondern noch bestimmter an Nästrond, den Aufenthalt der Gottlosen; denn er ist nach der Edda mit Schlangen gedeckt, deren Köpfe einwärts gekehrt, Ströme von Gift herabspeien. So auch ist über Lokes, des bösen Geistes, Antlitz eine Schlange befestigt, damit ihr Gift auf ihn herabtröpfle.

Heidnisch in seinem Ursprunge ist der Gedanke von einem auf Erden vorhandenen, alle Seligkeit in sich fassenden Schatz, welchen zu erwerben Glücklichen und vom Schicksal Begünstigten möglich ist; denn wer zu der Quelle aller irdischen Herrlichkeit dringt, den läßt das Heidentum des höchsten Lebens Meister und Herr sein. Dies ist die Idee der in verschiedener Gestalt, als Hut, Tuch, Tisch usw. vorkommenden Wünscheldinge, welche jeden Gedanken befriedigen, Unsichtbarkeit



Bd-06-292_Anhang Flip arpa

verleihen, keines Raumes achten, kurz alle irdischen Schranken übersteigen. In dem Hort der Nibelungen liegt daher die Wünschelrute, der Zauberstab, bedeutungsvoll verschlossen und zeigt, daß Kampf um den Besitz des höchsten Guts der eigentliche Inhalt der alten Sage ist. Im Titurell Strophe 4751 steht die merkwürdige Stelle: »wande sich der Gral gelichtet dem paradies mit siner wunschelrouten.« (Es verdient angemerkt zu werden, daß Valhall - der selige Aufenthalt der im Kampf Gebliebenen in der Atlaquida Str. 2.14 —bloß die herrliche, die Wunschhalle heißt; Wunsch hier, wie überhaupt bei den Wünscheldingen, in dem alten Sinne als Inbegriff alles Wünschenswerten genommen. Daselbst wird auch der in den wallenden Rhein zu versenkende Hort val bau gar genannt, zunächst herrliche, ausgewählte Ringe; weil aber der, welcher die Wahl hat, seine Wünsche befriedigen kann, auch Wunschringe). —Sonst kommt die Sache in der Edda noch unter anderem Namen vor: Gamban-trinn Wünschelrute und Gamban-suml Wunschtafel. Die weiße, d.h. die glänzende, auf dem Gold ruhende Schlange (Fafner), womit die Unke, die eine Krone trägt und die kostbarsten Schätze gesammelt hat, übereinstimmt, ist gleichfalls ein Symbol jenes Horts; darum erwirbt, wer von ihr ißt, d.h. ihres Wesens teilhaftig wird, die höhere Einsicht in die Natur der Dinge, versteht die Sprache der Vögel und hat das Glück an sich gebannt. Ferner das Herz des auf Goldeiern brütenden, selbst goldgefiederten Vogels ist wieder nichts anderes als jenes Schlangenherz, und wenn dem, der es genossen, das Gold im Schlaf unter dem Haupt wächst, so ist das ein bezeichnendes Bild von der unbewußt in ihm wirkenden Kraft. Hierher gehört auch die unter den Wurzeln eines Eichbaums sitzende, also in der Erde verborgene Goldgans, die dem, welchem es gelingt, sie hervorzuheben, Glück und Segen verschafft, was episch lebendig dadurch ausgedrückt wird, daß ein jedes sie nur berührende Ding, wie an einem Magnet, fest an ihr hängen bleibt. — Ein anderes Bild ist der Baum, an welchem die Äpfel des Lebens wachsen, in der nordischen Mythologie so gut als in der griechischen bekannt; ohne sie veraltert und welkt alles Leben und sie vermögen das halb erstorbene wieder zu erfrischen und zu verjüngen. Dasselbe bedeutet die Quelle, an welcher das Wasser des Lebens geschöpft wird, nach ihm sehnt sich der kranke König, weil es ihn allein heilen kann; es schließt Wunden zu und gibt den Menschen, welche Zauberei in Steine verwandelte, ihre Gestalt zurück.

Verschiedentlich wird die Geschichte von einem König erzählt, der drei



Bd-06-293_Anhang Flip arpa

Söhne hinterläßt und nicht weiß, welchem er Reich und Krone nach seinem Tode überlassen soll. Er macht daher eine Aufgabe, es sei nun etwas Schweres zu vollbringen, etwas Seltenes und Kostbares zu holen oder eine große Kunst zu erlernen; wer sie löst, der soll der Erbe sein. Sie ziehen aus und jeder versucht sein Glück. Daß gewöhnlich der Jüngste, anscheinend der am geringsten Begabte, den Sieg davonträgt, ist in einer sittlichen Idee begründet, über die nachher noch etwas wird angemerkt werden. Herodot erzählt ein ganz ähnliches Märchen der Skythen über ihre Abkunft, welches, da auf die Verwandtschaft des Germanischen mit dem Skythischen überhaupt Rücksicht zu nehmen ist, mit jenen zusammengehalten zu werden verdient. Targitaus, vom höchsten Gott erzeugt, sei der erste Mensch in Skythien gewesen und habe drei Söhne hinterlassen. Während diese geherrscht, seien einmal goldene Werkzeuge vom Himmel gefallen, nämlich: ein Pflug, ein Joch, eine zweischneidige Streitaxt und eine Schale. Als der Älteste der drei Brüder sie aufheben wollte, sei das Gold glühend gewesen, darauf der zweite gekommen, aber auch diesen habe es gebrannt. Nachdem nun beide von der Glut abgewiesen worden, sei der Jüngste hinzugetreten, der das Gold ausgelöscht gefunden und daher die Werkzeuge habe heimtragen können. Worauf die beiden andern diesem allein das Reich überlassen. —Die flache Schale ist wohl ein Bild des Landes selbst, Pflug und Joch bezeichnet den ackerbauenden, das Schwert den Stand des Kriegers; es sind also die Symbole der Herrschaft über dieses Reich, welche der Himmel einem der drei Brüder zuweisen wollte. Auch in der Voluspá schneiden ja die Asen selbst bei der Welteinrichtung Gold, bilden Zangen und verfertigen Werkzeuge. Das Glühen der Gerätschaften deutet auf einen germanischen Glauben, welcher der Probe des glühenden Eisens zugrund liegt, denn dieses kann nur von dem, der recht hat, dem ganz Schuldlosen, ohne Gefahr angerührt werden. —Die drei Söhne aber sind in den Märchen nichts anders als die Trimurti, in welche sich der höchste Gott bei der Bildung der endlichen Welt zerteilt, dem einen von den dreien wird aber die Oberherrschaft wieder verliehen, damit die Idee des alleinigen Gottes nicht verschwinde. Jener skythische Targitaus ist kein anderer als der Mannus des Tacitus, der Sohn des Gottes Thuisko, nach dessen drei Söhnen Deutschland dreifach benannt oder eingeteilt wurde; in der nordischen Mythologie aber der zuerst erschaffene Bure, dessen drei Söhne, Odin, Vile und Ve (Har, Jafnhar und Thridi oder nach der Voluspá Odin, Häner und



Bd-06-294_Anhang Flip arpa

Loder) die Welt ordnen und bevölkern. Odin hat hernach die Oberherrschaft erlangt.

Der goldene, der gläserne, d. h. der glänzende Berg, wohin der Zugang so schwer und erst mit Beihilfe der Sonne, des Mondes und der Sterne oder anderer übernatürlicher Kräfte zu finden ist, welchen unten angefesselte wilde Ungeheuer bewachten und wo die Wunschdinge bewahrt werden, scheint ein Götterberg alter Mythen zu sein. Es ist derselbe, auf welchem die zwölf Riesen (Götter) den Nibelungenhort hüten, oder auch das nordische Flammenschloß der Brunhilde, deren Jsenburg im deutschen Gedicht nichts anders als Eis-Glasburg aussagt. Im Norden finden wir Asgard als Mitte der Welt mit goldenen Schildern gedeckt, und die Art, wie im Marienkind der Himmel mit seinen zwölf Türen und der dreizehnten verbotenen beschrieben wird, als ein prachtvolles Goldhaus, erinnert noch bestimmter an das goldglänzende Gladsheim mit seinen zwölf Sitzen für die Asen und dem Thron für Odin. Ferner ist Gimli zu vergleichen, heller als die Sonne, nach dem Weltende als die Wohnung der Guten noch fortbestehend; auch das Goldhaus Sindri auf dem Idagebirge und jenes, welches nach der deutschen Sage dem heidnischen Friesenherzog Radbot gezeigt ward. Endlich scheint der nordische Gläsisvöllr, welcher als vorodinisches Paradies betrachtet wird und worin der Acker der Unsterblichkeit lag, hierher zu gehören. Heilige-Himmels-Berge kommen dem Namen nach so gut wie vor uns als in den altnordischen Dichtungen bei, wenngleich manchmal nur in der bloß sinnlichen Bedeutung von hohen. (In Schottland sieht man noch jetzt auf den Spitzen hoher Berge Ruinen von wirklichen Glasburgen -vitrified forts -, deren Mauern nämlich mit Glas künstlich überzogen waren. Sie sind vom höchsten Alter. Im Wigalois Mauern wie Glas glänzend und ein Haus von hellen Kristallen gebaut.)

Die Frau Hohe oder Hulda hat auch noch, aber schwerlich in andern Ländern Deutschlands als in Hessen, Thüringen und Franken, den Namen aus der Vorzeit behalten. Sie ist eine gnädige und freundliche, aber auch furchtbare und entsetzliche Göttin; sie wohnt in den Tiefen und auf den Höhen, in den Seen und auf den Bergen, teilt Unglück oder Segen und Fruchtbarkeit aus, je nachdem sie urteilt, daß es die Menschen verdient haben. Sie umspannt die ganze Erde, und wann sie ihr Bett macht, daß die Federn fliegen, dann schneit es bei den Menschen. Ähnlich träufelt Tau und Regen herab und befruchtet das Land, wenn



Bd-06-295_Anhang Flip arpa

die Wolkenpferde der Walküren sich schütteln. Sie läßt sich die Haare kämmen (strählen), das heißt: sie teilt die Sonnenstrahlen über die Erde aus, denn auch die nordische Erdgöttin Sif hatte ein herrliches, von den Zwergen gewirktes Goldhaar. Um Weihnachten, wann die Sonne wieder steigt, zieht sie durch die Welt, belohnt und straft, sie führt besondere Aufsicht über die Spinnerinnen, welche, wie sich gleich zeigen wird, die das Schicksal spinnenden Elfenjungfrauen sind. Oberhaupt ist sie die große Mutter vom Berge, eine Erdgöttin, wie es die auf Rügen verehrte Hertha und die Ceres der Griechen war.

Altheidnischen Glauben enthält auch das Märchen von den drei spinnenden Weibern; diese nämlich spinnen den goldenen Faden des Schicksals, gleich den Nornen, Walküren und Parzen. (Auch die Edda —im ersten Helgelied Str. 3 —bedient sich des Ausdrucks: Schicksalsfäden -aurlaug thättir - und goldene Fäden -gullin simar -die Nornen befestigen sie unter dem Mondsaal, d.h. am Himmel.) In ihnen sind leicht die halbüberirdischen Schwanenjungfrauen, als welche auch die Walküren geschildert werden, zu erkennen: sie haben noch den Platschfuß oder den breiten Daumen und die Schnabellippen. Rastlos spinnen sie Tag und Nacht, ohne Ende quillt der Faden hervor, aber auch die Edda sagt von den Walküren, daß sie ohne Ruhe gewesen, immer (nach ihrer Arbeit, das Schicksal zu treiben, weben, orlog drygia) sich gesehnt, und in dem Wölundslied wird gerade erzählt, wie sie am Seestrand sich niedersenken, das Federgewand ablegen und köstlichen Flachs spinnen. Das ist nämlich der epische, sinnliche, aber bedeutungslos erscheinende Ausdruck für den alten tiefsinnigen: das Schicksal spinnen, weben. Auch die goldspinnenden Königstöchter in den Märchen sind nichts anders als Glück und Reichtum spinnende, schaffende Schwanenjungfrauen. Und da die Spindel, das Rad kreist, so fällt mit diesem Bild ein anderes, gleichfalls uraltes, in dem eddischen Mühlenlied schon ausgebildetes zusammen, von einem Mühlenrad des Schicksals, welches alles, was der Wunsch verlangt (daher auch ein Wünschelrad), mahlt: Gold, Frieden und Krieg. Und so werden wir auf die noch fortdauernde Idee eines das Entgegengesetzte herumtreibenden Glücksrades (wie es im Wigalois der König besitzt) geführt. Fast immer sind die Goldspinnenden auch Hirtinnen, sie hüten Gänse, Schwäne, d. h. die Geister, was wiederum nur ein anderer Ausdruck für das Lenken, Bewachen des Schicksals ist.

Gleichfalls der Däumling ist eine aus der Vorzeit übrige Götteridee. Er



Bd-06-296_Anhang Flip arpa

ist der die Heimat Schützende, seine Geschwister aus der Not Rettende, immer wohl Leitende und ohne Zweifel mit den Kabiren und Penaten verwandt, die ja auch in kleiner, zwerghafter Gestalt gedacht wurden. In eine Reihe mit ihm gehören die Wichte!-, Haulenmänner, Kobolde und Zwerge. Sie sind gleichfalls die Alfen der nordischen Mythologie und ebenso beides: gut und wohlwollend oder bös und schadenfroh. Sie bewohnen nicht bloß die Oberwelt, sie heißen auch die Unterirdischen und durchdringen die verborgene und heimliche Erde, wo die herrlichsten Häuser für sie bereitstehen; sie sind der in die feinsten Adern der Welt verteilte treibende Lebensgeist.

Oberhaupt aber das die Naturkräfte in dem Gegensatz ihrer wilden und stillen Wirkungen darstellende Riesen- und Zwergwesen lebt hier noch in den Formen und Bildern fort, in welchen es die alten ursprünglich deutschen Gedichte darstellen, das Übermächtige und doch Ungeschlachte jener ist in ähnlichen naiven, höchst bezeichnenden Zügen dargestellt, so wie die Schlauheit, List und wiederum das Zutätige und Bereitwillige der Kleinen aus Elberichs Reich, welche durch ihre wunderbaren und geheimen Kräfte immer auch das Geistermäßige ihrer Natur erkennen lassen. Legen wir diese einzelnen Körner zusammen, so scheint von dem alten Glauben noch durchzublicken: Belebung der ganzen Natur, Pantheismus, ein Fatum, das gute und böse Prinzip, die Trimurti, große höhere Götter mit ihrem Götterberg, sowie Verehrung kleinerer besonderer Gottheiten.

Die epische Mannigfaltigkeit dieser Märchen ist dagegen groß, jedes einzelne hat seinen besonderen Inhalt. Dennoch läßt sich das Ganze in gewisse Maßen einteilen und darnach übersehen.

Erstlich wird der Kampf des Guten und Bösen, von dessen eigentümlichem Ausdruck vorhin die Rede war, in vielfachen Verschlingungen und Wendungen dargestellt; häufig in den kindlichen Verhältnissen der Geschwister. Der Bruder ist in die Gewalt böser Mächte gefallen, die Schwester hört es und sucht ihn nun, durch Wälder und Einöden wandernd, scheut keine Gefahr, vollbringt die schwersten Aufgaben und erlöst ihn endlich, denn das Gute und Reine taucht doch am Ende als das allein Wahre und Bestehende hervor und besiegt das Böse. Und in wieviel schönen Zügen ist dabei das Menschliche eingeflochten! Nicht immer gelingt es, den Zauber ganz aufzuheben, die Warnungen der wohlwollenden Geister werden vergessen und die Arbeit muß von neuem angefangen werden.



Bd-06-297_Anhang Flip arpa

Die reinen Geister, indem sie das Gute befördern, begleiten sichtbar den Menschen auf seinen Wegen. Daher überhaupt Mythen und Sagen von jenen höheren Menschen, mit denen die Götter selbst Umgang gepflogen, und daran schließen sich die Märchen von jenen besonders begabten, mit ungewöhnlichen Vorzügen ausgestatteten. Jener kommt schon in einer Glückshaut auf die Welt, ihm schlägt alles Widerwärtige zum Vorteil aus, er geht selbst in die Hölle, dem Teufel seine Geheimnisse abzulocken. Den beiden Brüdern wächst das Gold im Schlaf unter dem Kopfkissen, kein Schuß versagt, die Tiere kommen herbeigelaufen, um ihnen zu dienen, und Zauberei vermag nichts gegen sie. Schneewittchen, Aschenputtel und das mit seinem Liebsten Roland entfliehende Mädchen stehen unter einem besonderen Schutze.

In seiner Idee immer dasselbe, wird ein Märchen vier- bis fünfmal, jedesmal unter andern Verhältnissen und Umständen, erzählt, so daß es äußerlich als ein anderes kann betrachtet werden. Die gute und unschuldige, gewöhnlich die jüngste Tochter wird von dem Vater in der Not einem Ungeheuer zugesagt oder sie gibt sich selbst in seine Gewalt. Geduldig trägt sie ihr Schicksal, manchmal wird sie gestört von menschlichen Schwachheiten und muß diese schwer abbüßen, doch endlich empfindet sie Liebe zu ihm, und in dem Augenblick wirft es auch die häßliche Gestalt eines Igels, eines Löwen, eines Frosches ab und erscheint in gereinigter, jugendlicher Schönheit. Diese Sage, welche auch bei den Indiern einheimisch ist und mit der römischen von Amor und Psyche, der altfranzösischen von Parthenopex und Meliure sichtbar zusammenhängt, deutet die Bannung in das Irdische und die Erlösung durch Liebe an. Stufenweise arbeitet sich das Reine hervor, wird die Entwicklung gestört, so stürzt Elend und Schwere der Welt herein, und nur von der Berührung der Seelen, vor der Erkenntnis in Liebe fällt das Irdische ab.

Es ist schon vorhin bemerkt, daß diese Poesie es ihrer innern Lebendigkeit überläßt, die gute Lehre zu geben; an sich ist es nicht ihr Zweck, am wenigsten ist sie ausgedacht, um irgendeine gefundene moralische Wahrheit auseinanderzusetzen. Dagegen sind einige Märchen deutlich auf eine Lehre gerichtet, doch nur, indem sie mit dem bestehenden Volksglauben zusammenhängt und daraus die Sage sich gebildet, nicht aber soll sie durch den ersonnenen Gang einer Geschichte, wobei zuletzt eine Erklärung nötig wird, herausgekünstelt werden. Dahin das Märchen von dem Mütterchen, welches über Gottes Fügungen trauert



Bd-06-298_Anhang Flip arpa

und in einem nächtlichen Bilde die traurigen Schicksale schaut, die von ihr abgewendet worden; das Märchen von dem Kind, das der gestohlene Heller nicht im Grabe ruhen läßt, das die Hand aus dem Grabe streckt; von der Brautschau, den Schlickerlingen, wodurch Fleiß und Häuslichkeit empfohlen werden; von dem Großvater und Enkel; dem undankbaren Sohn; von der Sonne, die allem Heimlichen zusieht und es an den Tag bringt. Mehrere sind ganz christlichen Inhalts und unterscheiden sich durch Reichtum und Mannigfaltigkeit von den einförmigen Legenden. Vor allem ist das Marienkind zu nennen; erst lebt es mit den Engeln in reiner Unschuld, dann, durch die Neugierde zur Sünde verleitet, wird es aus dem Himmel verstoßen. Nun muß es den Schmerz der Erde erfahren, solang es in der Sünde beharrt, aber in dem Augenblick, wo sich das Herz zu Gott bekehrt, zeigt er sich auch wieder gnädig und alle Not hört auf. In dem Märchen von dem Mädchen ohne Hände ist es so schön ausgedrückt, daß vor der Reinheit alle List des Bösen zuschanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen läßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt und zu ihm betet, durch einen reinen Tau die Augen wieder. In dem Märchen von der Nelke speisen Gottes Tiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Königin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie die himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anrührt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gott immerfort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem äußern Mißverständnis zur Seligkeit führe.

Siegfried erscheint öfter am kenntlichsten in dem jungen Riesen an jener eigentümlichen Mischung eines tapfern und reinen Herzens und einer gutmütigen und scherzhaften Laune, in welcher ihn das Nibelungenlied darstellt. Siegfried handelt unbewußt, aber in sicherm Gefühl von der Herrlichkeit seiner Natur und Lebenskraft. Was den Zusammenhang mit der Fabel betrifft, so wäre er zu eng angegeben, wenn man voraussetzte, anfänglich sei völlige Übereinstimmung gewesen und nur durch Ausfüllung der Lücken mit Hilfe der Einbildungskraft das Abweichende entstanden; dagegen, wollte man behaupten, die Übereinstimmung, wie sie sich findet, sei bloß zufällig oder hätte ihren Grund in dem auf gleiche oder verwandte Gedanken von selbst zurückkehrendem Geist, so wäre dies noch unrichtiger. Sie ist zu merkwürdig und geht in zu viele einzelne Züge, als daß an einen solchen



Bd-06-299_Anhang Flip arpa

Zufall könnte gedacht werden. Freilich ist die deutsche Sage im ganzen und großen aus dem Wesen des deutschen Geistes entsprungen, und es ist ihre Aufgabe, ihn darzustellen; aber eben in dem Ineinandergreifen des Notwendigen der Überlieferung und des Freien der poetischbildenden Kraft besteht ihr Leben, und eine solche Mischung müssen wir auch hier annehmen. Daß sich noch ein Zusammenklang mit der nordischen Sage, am deutlichsten in Beziehung auf Aslaug, erhalten, der in andern Denkmälern nicht mehr vernommen wird, ist umso wichtiger, als es zeigt, daß das Ganze nur in dem Bewußtsein des Volks vollständig vorhanden war und dasjenige, was in den einzelnen Gedichten hervortrat und ausgebildet wurde, immer nur als Bruchstück, wenn auch organisches, darf betrachtet werden. Bei dem Volk hat noch fortgedauert, was in den durch die Schrift auf uns gekommenen Dichtungen so gut wie spurlos untergegangen ist, als jene gleichfalls hierhergehörigen Lieder von Saurle und Hamder, deren Dasein doch ausdrückliche Zeugnisse beweisen. Auch hierin gleicht die Sage der Sprache, die eben so nur in dem Bewußtsein des ganzen Volkes vollständig lebt.

Die Tiermärchen öffnen eine andere Welt. Das heimliche Treiben der Tiere in den Wäldern, Triften und Feldern hat etwas sehr Bedeutendes. Es herrscht unter ihnen eine bestimmte Ordnung, in dem Bau ihrer Wohnung, in dem Ausflug, der Heimkehr, dem Füttern der Jungen, der Vorsorge für den Winter; ihr Gedächtnis scheint groß, sie machen sich einander verständlich, und ihre Sprache ist wohl nicht mannigfaltig, aber mächtig und eindringlich. Sie vereinigen sich in Scharen, ziehen aus, haben Anführer und bekriegen einander. Dabei ist nichts natürlicher, als ihnen ein sittlich geordnetes, menschliches Leben und Weben zuzuschreiben, das sie nur unsern Blicken zu verbergen scheinen. Das Auge der Dichtung aber sieht alles Geheime und Verborgene, sie offenbart diesen innern Haushalt der Tiere, und da sie ihnen zugleich die menschliche Sprache beilegt, wodurch sie allein schon vieler menschlicher Gedanken teilhaftig werden, so sind sie uns noch näher gerückt. Außerdem entsteht durch die beständige Vermischung des Tierischen und Menschlichen ein besonderer Reiz: man denkt, es wären wirklich Menschen, die Gefallen daran hätten, sich einmal in dieser Gestalt zu belustigen. Natürlich, daß bei dieser Vereinigung Sagen herüber und hinüber gegangen sind; manchmal wird das ganz Unbelebte mit hineingezogen, selbst Strohhalm, Kohle und Bohne machen eine Reise zusammen.



Bd-06-300_Anhang Flip arpa

Das Böse in List und Verschlagenheit ist der Fuchs; in Gewalt und Plumpheit ist es der Wolf. Die schwachen Tiere, zumeist die Vögel, sind die Gutgesinnten, welchen von jenen nachgestellt wird. Auch stehen sich beide wieder entgegen, wie anderwärts Zwerge und Riesen: so ist in dem Märchen von dem Bär und Zaunkönig der Sieg der Kleinen über die Großen und Unbeholfenen beschrieben, und der Wolf, der das Rotkäppchen und die jungen Ziegen berückt, stellt den Menschenfresser vor, der endlich doch durch seine Plumpheit überwältigt wird. Wo die Menschen mit den Tieren zusammenkommen, sind jene gewöhnlich hart und ungerecht, werden aber dafür bestraft, wie z. B. in dem Märchen von dem Hund und Sperling.

Die Eigentümlichkeiten eines ganzen Volkes pflegt die Poesie um einzelne zu versammeln, so daß, was in der Menge zerstückt, schwach oder unbestimmt sich zeigt, gesteigert zu einem Ganzen vereinigt wird; man könnte sagen, sie ließ uns nur vollständige und in Farben ausgemalte Exemplare sehen. Stellt ein solcher Charakter zwar das Gemeinsame dar, so tritt er zugleich als eine scharf gezeichnete, für sich in ihrer Besonderheit lebende Gestalt auf; vorzüglich erscheinen im Komischen, weil es so viel Eckiges und Hervorspringendes hat, gleich feststehende Masken. Oberhaupt aber, je mehr solche Charaktere auf die Natur eines Volks, seine Tugenden und Schwächen sich gründen, desto bleibender und unvergänglicher werden sie auch sein und nach allen äußerlichen Veränderungen jedesmal frisch sich herausbilden. Welches Epos hätte nicht als Helden einen Achill oder Ulysses, im Humor und Scherz seinen Lalenbürger und Eulenspiegel. Es sind die natürlichen Formen und Grenzen der Poesie, innerhalb welcher sie sich mit aller Freiheit und Mannigfaltigkeit bewegen kann. Von Siegfrieds eigentümlichem, die deutsche Natur vorzugsweise bezeichendem Charakter war vorhin die Rede; dieser hat aber schon einen gewissen Anklang von einem andern, der hier oft vorkommt und der Dummling genannt wird. In der Jugend zurückgesetzt, zu allen Dingen, wozu Witz und Gefügsamkeit gehören, ungeschickt, muß er gemeine Arbeiten verrichten (wie Siegfried das Schmiedehandwerk treibt) und Spott erdulden; er ist das Aschenkind, das am Herde oder unter der Treppe seine Schlafstätte hat; aber es leuchtet dabei eine innere Freudigkeit und eine höhere Kraft durch; schön wird er im Parcifal der Dummeklare genannt. Kommt es dann zur lebendigen Tat, so erhebt er sich schnell, wie eine lange keimende, endlich vom Sonnenlicht berührte Pflanze,



Bd-06-301_Anhang Flip arpa

und dann vermag er allein unter vielen das Ziel zu erreichen. Er ist hier unter verschiedenen Verhältnissen dargestellt, gewöhnlich der Jüngste von dreien Brüdern, stehen ihm die beiden andern in Stolz und Hochmut entgegen; wenn sie zusammen ausgeschickt werden, um eine Aufgabe zu lösen, wonach der Vorzug unter ihnen bestimmt werden soll, verlachen ihn jene und sehen ihn mit Verachtung an. Der Dummling aber zieht in kindlichem Vertrauen aus, und wenn er sich ganz verlassen glaubt, hilft eine höhere Macht und gibt ihm den Sieg über die andern. Unterliegt er der Mißgunst und wird ermordet, so verkündigt doch lange nachher der weißgebleichte, hervorgespülte Knochen die Untat, damit sie nicht unbestraft bleibe.

Der Dummling ist der Verachtete, Geringe, der Kleine, und nur von Riesen auf gesäugt, wird er stark; so nähert er sich dem Däumling. Dieser ist bei seiner Geburt nur so groß als ein Daumen und wächst auch nicht weiter. Bei ihm ist alles in Klugheit ausgeschlagen, er ist aller List und Behendigkeit voll, so daß er sich aus jedem Unfall, in den ihn seine kleine Gestalt so oft bringt, jedesmal zu helfen, selbst noch Vorteil für sich zu ziehen weiß. Jedermann äfft er und zeigt eine Lust an gutmütiger Neckerei, überhaupt die Natur der Zwerge; auch mögen alte Sagen von diesen hier noch fortdauern. Manchmal ist er als ein kluges Schneiderlein dargestellt, das mit seinem feinen und schnellen Verstand die Riesen schreckt, die Ungeheuer tötet und die Königstochter erwirbt, er allein kann die vorgelegten Rätsel lösen.

Das Bäuerlein, das ein hölzernes Kalb auf die Weide schickt, aber hernach durch allerlei listige Streiche sich Reichtum zu verschaffen weiß, steht zwischen dem Däumling und dem Lalenbürger. Dieser kommt aber hier in verschiedenen Abstufungen vor, am deutlichsten in den Narrheiten des Catherlieschen und der klugen Else, die Albernheit wird unter dem Anschein eines breiten Verstandes und mit eigenem Wohlgefallen manchmal mit einem leisen Bewußtsein betrieben; dann gehören die sieben Schwaben hierher, die alle an einem Spieß auf Abenteuer ausziehen, einen Hasen als ein Ungeheuer aufjagen und von einem Frosch ums Leben gebracht werden. Eigene Mischungen sind, wo die Dummheit zum Vorteil ausschlägt, wie beim Doktor Allwissend und bei der Hochzeit des gescheiten Hans, oder umgekehrt die Weisheit immer übel angewendet wird, wie bei dem Jungen, der auf Reisen gehen wollte.

Ein vierter Charakter ist der Bruder Lustig. Er bekümmert sich um



Bd-06-302_Anhang Flip arpa

nichts, als ein fröhliches Leben, weiß nicht, was gut und was bös ist, und ihm wird darum nichts zugerechnet: Als der Herr kommt, bei ihm zu herbergen, ist er bereit, das Letzte mit ihm zu teilen, doch vertut er gleich im Spiel den Groschen, wofür er einen Trunk zu der Speise holen soll. Dem Apostel Petrus, der in der Gestalt eines Armen um ein Almosen ihn anspricht, gibt er seinen letzten Heller, und als dieser im Glauben, einen Frommen gefunden zu haben, mit ihm zieht, betrügt er ihn alsbald um das Herz des gebratenen Lämmchens und ist ärgerlich, daß der mächtige Apostel nicht mehr Geld zusammenbringt. Als Bärenhäuter dient er dem Teufel, wird aber aus der Hölle wieder fortgeschickt. Den Tod hat er lange zum Narren, endlich muß er ihm folgen, aber nun will ihn weder der Himmel noch die Hölle einlassen, bis er durch einen guten Einfall in jenen sich Eingang verschafft. Gewissermaßen macht der Schneider, welcher, als er aus Gnaden in den Himmel aufgenommen worden, dort Richter über die Sünden sein will und wieder ausgestoßen wird, das Gegenstück zu ihm. In der Legende ist der heilige Christoph, der sich einen Herrn sucht, dem Teufel dient und mit Verachtung ihn verläßt, weil er vor dem Christkind erschrickt, nach diesen Sagen gebildet.

Endlich der Aufschneider; in ihm gibt sich die reine und, weil sie unverhohlen ist, schuldlose Lust an der Lüge kund. Die menschliche Einbildungskraft hat das natürliche Verlangen, einmal die Arme, soweit sie kann, auszustrecken und ungestört das große Messer, das alle Schranken zerschneidet, zu handhaben. In diesem Sinne ist das Märchen von dem aus dem Himmel geholten Dreschflegel gedacht; nur ein Schritt weiter ist dann das Zusammenstellen des völligen Widerspruchs und Vereinigung des Entgegengesetzen, wie im Märchen vom Schlaraffenland. Doch mögen auch in jenen wunderbaren Künsten der sechs Diener alte Riesensagen fortdauern, die nur, nachdem aller Glaube daran sich verloren hatte, in einer solchen humoristischen Weise noch dargestellt werden konnten. Wenigstens wird das Riesenwesen, ihre Sprünge, ihr Schießen und Kugelwerfen, die sprengende Kraft ihrer Augen, ihr ungeheures Essen und Verschlingen in den alten Sagen und Liedern ganz ähnlich und in allem Ernst beschrieben.«

Überaus wichtig erscheint uns, was Wilhelm Grimm von den Überlieferungen der Märchen zu sagen weiß und wie er in diesen Zusammenhängen an heidnische Welt und sich auf christliche Elemente stützendes Gedankengut anknüpft. An anderer Stelle -dort, wo er sich über Herkünfte



Bd-06-303_Anhang Flip arpa

und Überlieferungen einzelner nordischer Märchen verbreitet, finden wir bei demselben Grimm die folgenden Sätze:

»Es ist in diesen Märchen eine Zauberwelt aufgetan, die auch bei uns steht, in heimlichen Wäldern, unterirdischen Höhlen, im tiefen Meer —und den Kindern noch gezeigt wird. Häufig kommt es vor, daß eine Mutter, unwissend oder aus Not, ihr Kind verkauft hat an ein Ungeheuer, wie hier die Königin an einen wilden Nachtraben, das es wegträgt oder dessen Zauber dadurch gelöst wird. Oder auch, daß der Bruder die verlorene Schwester aufsucht und im Meeresgrund findet, wo sie ein wilder Zauberer in seinem Wasserschloß hält, der das Menschenfleisch wittert, und vor dessen Wut ihn die Schwester schützt, bis sie endlich erlöst werden. Hier muß man zuletzt mit dem armen Rosmer, der seine Frau selbst auf dem Rücken unwissend aus dem Meer trägt und, wie er sie unten nicht mehr findet, vor Leid ein Stein wird, Mitleid haben. Diese Märchen verdienen eine bessere Aufmerksamkeit, als man ihnen bisher geschenkt, nicht nur ihrer Dichtung wegen, die eine eigene Lieblichkeit hat und die einem jeden, der sie in der Kindheit angehört, eine goldene Lehre und eine heitere Erinnerung daran durchs ganze Leben mit auf den Weg gibt; sondern auch, weil sie zu unsrer Nationalpoesie gehören, indem sich nachweisen läßt, daß sie schon mehrere Jahrhunderte durch unter dem Volk gelebt haben.«

Und weiter sagt Wilhelm Grimm an anderer Stelle von den Märchen ganz allgemein:

»Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, trägt seine Notwendigkeit in sich und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben betaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein kleines zusammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem ersten Morgenrot schimmernd. Innerlich geht durch diese Dichtungen dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wund bar und selig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben bläulich-weißen, makellosen, glänzenden Augen (in die sich die kleinen Kinder selbst so gern greifen), die nicht mehr wachsen können, während die anderen Glieder noch zart, schwach und zum Dienst der Erde ungeschickt sind. So einfach sind die meisten Situationen, daß viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle wahrhaftigen doch immer wieder neu und ergreifend.«



Bd-06-304_Anhang Flip arpa

Etymologisch kommt das uns geläufige Wort »Märchen« vom mittelhochdeutschen Wort maere her, was ursächlich »Kunde« bedeutet und zumindest seit den Brüdern Grimm eine voller reichlich fließender Phantasiebefähigung ausgeschmückte Erzählung, in deren Ablauf sämtliche Naturgesetze aufgehoben sind und das Wunder regiert. Für die darin auftretenden Personen oder Helden existiert keinerlei historische Gegebenheit, sie besitzen nichts von einer faßbaren Individualität. Ihre Namen sind so alltäglich wie möglich. Häufig wird einfach von »einem« Fischer geredet, von »einer« alten Frau und dann wieder von »einem« König. Wunderbare Dinge erleben sie alle und erreichen durchs überraschende Eingreifen sonderbarer, erstaunlicher und oft mit Zauberkräften ausgestatteter Helfer ihre vielfach sehr hochgesteckten Ziele. Die ganze Natur erscheint beseelt, Erscheinungen des Tierreichs sprechen mit den Menschen wie mit ihresgleichen, und auch die Menschen von sich aus verkehren mit Tieren, Pflanzen und den unterschiedlichsten Dingen und Gegenständen auf der gleichen Ebene. Im Märchen lebt und schwebt der Mensch -losgelöst von allem vernunftgefesselten und logischen Denken in einem Raum von unbegrenzten Möglichkeiten, die alle sich jeweils von der Situation her auftauchenden Wünschen bereitwillig öffnen. Es ist der unvergleichbare eigene Reiz dieser Märchenwelt, daß alles darin sich auf eine ausgleichende und zum Schluß hin zunehmend versöhnende Gerechtigkeit hin entwickelt . . . »und lebten froh und zufrieden« —weiter und weiter. Dergleichen glückliche und beglückende Entwicklungen heben das Märchen immer wieder und mit aller zuversichtlichen Gewißheit ab von Sagen, Fabeln und auch von jeder Legende, sowie allem realen Geschehen. Seit damit begonnen wurde, Märchen in der Art von Gruppen und Gattungen einzuteilen, wird allerorten zwischen Tiermärchen, Zauber- und Wundermärchen, solchen von Zwergen und Riesen, von Ungetümen, von Teufeln und Gespenstern, listigen und dummen und oftmals auch furchtbar gefährlichen, unterschieden. Lügenmärchen und Schwänke sind eine Gruppe für sich. Ihren Ursprung haben sie wohl alle im unlösbaren Geheimnis eines erfindens-, erlebens- und erzählensbefähigten Erzählers, als der sich allermeist das uralte Volksbewußtsein selber erweist. Man nennt sie mit gutem Recht auch Allgemeingut des Volkes oder ganzer Völkergruppen. Es hat Märchenforschung längst schon vor der Tätigkeit der Grimms gegeben. Wir wissen heute mit aller Sicherheit, daß das Motiv zum Zauberschlaf schon aus Urzeiten der Menschheit



Bd-06-305_Anhang Flip arpa

einverwoben gewesen ist. Ein gewisser Glaube daran läßt sich nahezu über die ganze Erde hin nachweisen. Bei den Deutschen verknüpft er sich in seinen späten Variationen beispielsweise mit der Sigurd-Brunhilde-Sage. Den meisten ist er durchs Märchen vom Dornröschen bekannt geworden. Daß einige Jahre und ganze Zeiträume durch Schlaf und Verzauberung, Fluch oder Heilsspruch überwunden und ausgelöscht werden, davon berichtet z. B. jenes bekannte Gedicht vom Mönch zu Heisterbach. Es gibt Ähnliches und Verwandtes überraschend und verblüffend nicht nur bei den Siebenschläfern. Auch die Japaner kennen das berückende, mitunter auch qualvolle Motiv. Heutzutage wird zu seiner Erklärung -wie zur Deutung anderer Märchenmotive oft die Psychoanalyse herangezogen und in diesen und ähnlichen Zusammenhängen auf C. G. Jungs Traumuntersuchungen und die Lehre vom »kollektiven Unterbewußtsein« hingewiesen. Es scheint uns hier nicht der rechte Ort, darauf einzugehen. Doch wollen wir es nicht unterlassen, zumindest andeutend auf ähnliche und verwandte Überbleibsel und Reste von sogenannten primitiv-magischen Vorstellungen aufmerksam zu machen. Innerhalb eines derartigen Denkens wird u.a. wohl auch im Leben selber eine überaus geheimnisvolle Kraft gesehen und eine solche Kraft dann wiederum bestimmten einzelnen Körperteilen zugedacht. Blut ist seit jeher »ein besonderer Saft«. Es besitzt im Märchen »Die Gänsemagd«übernatürliche Kräfte. In »Schneewittchen« eignen solche der Lunge und Leber. Vergleichbar Ähnliches erscheint beim »Teufel mit den drei goldenen Haaren«. Geheimnisvolle Sympathiekräfte lassen sich im »Märchen von der Unke« oder bei den »Goldkindern« nachweisen. Eindringliche Nachforschungen auf dem Gebiet des dereinstigen »Volksglaubens« können noch mancherlei zutage bringen. Das uralte und ewig wiederkehrende »Es war einmal . . bleibt ein nie versiegender Bronnen.

Während der Zeiten vor den Brüdern Grimm und zu deren Lebzeiten war die allgemein verbreitete Anschauung hinsichtlich Ursprung und Herkunft der Märchen nicht nur innerhalb der deutschen Forschung die, daß sich in ihnen Reste unserer uralten Götter- und Heldensage erhalten hätten. Es wurde gesagt: Was in den höheren Ständen abgestorben und verlorengegangen sei, habe sich unterm einfachen und gemeinen Volk von einem Geschlecht zum anderen fortgeerbt. Die spätere Forschung hat alle derartigen Vorstellungen abgelegt. Als um 1860 der in Göttingen lebende Sanskritforscher Theodor Benfey das



Bd-06-306_Anhang Flip arpa

uralte indische Fabel- und Märchenbuch »Pantschatantra«ins Deutsche übersetzte, fand die in seinen Erläuterungen aufgestellte Meinung, das geheimnisumwobene alte Indien sei die ursprüngliche Heimat der Märchen, bereitwilligen Glauben. Es hat damit die nachstehend angedeutete sehr eigene Bewandtnis: Der ursprüngliche Text der Sammlung ist nicht mehr vorhanden. Es bestehen von altersher mehrere unterschiedliche Fassungen, doch ist man im Grunde seit längerer Zeit sich völlig einig in der Vermutung, daß es sich dabei um Niederschriften alter buddhistischer Priester handelt, die es darauf anlegten, leicht faßbare Beispiele für die fünf Grundhaltungen eines klugen und wegweisenden vorbildlichen Verhaltens im Sinne der Lehre und des Vorlebens Buddhas ins Volk und alle erreichbare Welt zu bringen. In weit über zweihundert Textfassungen läßt sich die Sammlung in vierundsechzig Sprachen asiatischer, afrikanischer und europäischer Völker nachweisen. Darüber hinaus sind noch viele Übersetzungen - u.a. auch ins Malaiische und in hinterindische Idiome bekanntgeworden. Schon im ii. und 12. Jahrhundert ist das Ganze ins Arabische und von daher ins Griechische und Lateinische übertragen worden. Übers Hebräische ist es schließlich ins Deutsche und weiter in andere europäische Sprachen gekommen. Benfey entwickelte daraus jene viele zunächst überzeugende, später sehr bald schon heftig umstrittene »Wandertheorie«, derzufolge sich die Märchen von Indien her, wo sie alle eine einmalige Entstehung gefunden hätten, nach allen Richtungen hin verbreitet haben sollen. Diese orientalistische Forschung hat Märchen auch in Ägypten und Babylonien, die ethnologische hat solche bei den Naturvölkern sämtlicher Kontinente aufgespürt.

Sehr im Gegensatz zu Benfey sind E. B. Taylor, ein Engländer, der Schotte Andrew Lang sowie der in Leipzig amtierende W. Wundt dafür eingetreten, daß von einer mehrfachen Entstehung der Märchen nicht abgekommen werden dürfe. Ihre Forschungen führten zur Einsicht, daß sich auch bei den räumlich entferntesten Völkern sehr ähnliche und oft völlig gleiche Vorstellungen über menschliche, tierische und auch pflanzliche Wesenszüge, über Tote, Geister und magische Kräfte gebildet haben, die einzig und allein aus der unantastbaren Gleichartigkeit der menschlichen Psyche sich erklären lassen. Heute ist man sich unter Fachleuten wohl durchweg einig, daß ein einfaches Märchenmotiv recht wohl an sehr unterschiedlichen Orten entstehen kann. Wo jedoch gleiche Motivketten miteinander übereinstimmen, handelt es sich um



Bd-06-307_Anhang Flip arpa

Wanderungen - und solche haben zu allen Zeiten stattgefunden. Märchen sind mit Kaufleuten, mit Schiffern, mit Geistlichen und mit Kriegern und Soldaten gewandert -über ausgedehnte und weite Räume und durch lange und gewaltige Zeitspannen. Das älteste bis auf unsere Tage gekommene altägyptische Märchen stammt aus der Frühzeit des Mittleren Reichs und ist ein ausgesprochenes Reisemärchen. Von den Märchen der Naturvölker und solchen aus Babylonien und Assyrien, aus dem alten Arabien und der griechischen und römischen Antike soll hier nicht gesprochen werden. Wir beschäftigen uns hier vornehmlich mit den Märchen der europäischen Völker und Länder unter Voranstellung der deutschen.

Die in Europa verbreiteten Märchen sind aller Vermutung nach schon seit dem neunten und zehnten Jahrhundert beeinflußt worden von keltischen Überlieferungen, also vom Norden. Einströmungen der Antike haben im südlichen und südöstlichen Europa nachgewirkt. Später sind semitische Einflüsse und solche aus Byzanz spürbar, indische tauchen seit der Zeit der Kreuzzüge auf. Nach dem dreizehnten Jahrhundert gewinnt das weitgespannte Bereich von »Tausendundeine Nacht« zunehmend Raum.

Im deutschen Märchen haben die ältesten Märchenüberlieferungen rein mythische Bedeutung. Während des zehnten Jahrhunderts ist das Vodringen von keltischen Schwank- und Lügenmärchen spürbar. In den Märchen wiederkehrende Reime und Verse sind uraltes Erbgut - Anlehnungen an Zaubersprüche gehören dazu. Im elften und zwölften Jahrhundert fangen Erscheinungen aus der Ritterzeit an, von der Märchenwelt Besitz zu ergreifen. Bürgerliche Elemente treten während der dann folgenden Zeit auf, und im 17. und 18. Jahrhundert wird französische Beeinflussung deutlich sichtbar.

Der sieghafte und strahlende Vorstoß der orientalischen Märchenwelt in ganz Europa ist eingeleitet worden durch den Franzosen Antoine Galland. Das geschah im Jahre 1704 mit der Einführung von Tausendundeine Nacht, dem prachtvollen und schwerlich zu übertreffenden Zauber- und Wunderwerk der Scheherezade. Um diese Zeit leuchteten noch, wenn auch allmählich umdustert, Glanz, Prunk und Ruhm des Sonnenkönigs Ludwig im nirgendwo auch nur annähernd erreichten Versailles. Im Zauber- und Feenreich des Roi de Soleil war ein Märchenreich entstanden, residierte ein wahrer Märchenfürst. In der



Bd-06-308_Anhang Flip arpa

Atmosphäre dieses majestätischen Hofes und einer diesen umschwärmenden Gesellschaft erzählte Charles Perrault seine »Contes de ma mere l'oye«; nicht den Kindern hat er seine Märchen erzählt, wie das nachher für ihr Volk die Brüder Grimm mit ihren »Kinder- und Hausmärchen« getan haben -Perrault war ausgesprochen ein Mann der höfischen Gesellschaft. Er erzählte seine unterm Volk erlauschten Märchen als Causerien und zur Unterhaltung im Salon den Erwachsenen. Über ihn berichtete der bekannte französische Literat und Chronist Andre Bay: »Perrault kam es vor allem darauf an, die schönen Räume auszuschmücken, die dazu bestimmt waren, die Hoffeste nach den Moden fremder Nationen zu gestalten, das heißt, auf griechische und türkische Art, nach dem Geschmack der Perser und des Großmoguls oder der Chinesen, was zweifellos ganz abgesehen von der Einzigartigkeit den besonderen Vorteil bot, den Abgesandten anderer Länder zu beweisen, in welch hohem Maße Frankreich gleichsam ein Abbild der Welt sei.« Die Zeitlosigkeit der phantasievollen Märchenwelt erschien Perrault gerade gut genug, die künstlerischen und gesellschaftlichen Unternehmungen des ancien regime damit auszufüllen und in triumphierendem Glanze zu übersteigern. Inmitten der festlichen Überzukkerung des Schlosses von Versailles entfaltete sich zugleich eine Versailler Periode der Märchenforschung. Das Märchen vom Aschenbrödel wurde auf diese Weise zur Grundlage eines Galafestes in den mit Kerzenschein überstrahlten Sälen des Sonnenkönigs. Mit Hilfe der attraktiven Möglichkeiten, die sich von seiten der Feenmärchen derart glanzvoll anboten, wandelte sich das Märchen damals in Frankreich zunehmend zum eitlen und brillierenden Gesprächsstoff vornehmer Salons-und die empfindsamen Damen und Herren des Rokoko retteten sich vorm düstern Herannahen eines der Aufklärung folgenden Volksaufstandes und der heranstürmenden Revolution in die träumerisch tändelnde Märchenwelt. Es war, als brächen erneut die Zeiten der Troubadours herein. Der Sturm auf die Bastille und der Blutdurst der Guillotine bewirkten ein schauerliches Erwachen und eine vollkommen anders laufende Entwicklung.

Aller bengalisch flackernde Schein der Tage Perraults wurde schließlich abgelöst von der Waldinnigkeit der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen im deutschen Bereich. Ein genaues Vergleichen der Varianten weit über die europäischen Völker verbreiteter bekannter Märchen wie Aschenbrödel, Schneewittchen, Rotkäppchen, Dornröschen und anderer



Bd-06-309_Anhang Flip arpa

in den französischen, irischen, deutschen und sonstigen Wortlauten führt zur Entdeckung mannigfacher kulturhistorischer Unterschiede - und läßt zugleich immer wieder die Wurzeln gemeinsamer Herkünfte aufspüren. In eben dieser Richtung hat neuerdings unsere europäische Märchenforschung ein ausgedehntes neues Betätigungsgebiet gefunden.

Während Friedrich von der Leyen seit gut fünfzig Jahren in seiner umfangreichen Sammlung der »Märchen der Weltliteratur« kaum noch überschaubare Schätze aus aller Welt zusammenträgt, unternimmt unsere Buchreihe in sehr viel bescheidener gehaltener Form den Versuch, einen systematisch geordneten Überblick der Märchen der europäischen Völker zusammenzustellen.

Ermöglichen wird sich überm Lesen und Vergleichen der zwölf Bände ein anregendes Schweifen zwischen den unterschiedlichen und einander ergänzenden Volksseelen und Kulturbereichen, ein Fliegen von Wiese zu Wiese, von Bergen über Täler, Ströme und Flüsse zu nördlichen und südlichen Meeren -wie Schmetterlinge, Bienen und Vögel von Blüte zu Blüte, von Busch und Baum zu Baum und Busch flattern, fliegen, sich laben und nähren mal hier und mal dort nach freiem Gelüste am reich und bunt besetzten Tisch der Pflanzenwelt dieser so herrlichen Erde, die tatsächlich ein Stern ist - und unser altes, täglich von neuem sein Jungsein beweisendes Europa darin eins der strahlendsten Diademe.

Die Märchensammlung der Brüder Grimm fand während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts ein mannigfach widertönendes Echo von Irland bis zum Balkan, von den Ostseeländern bis nach Andalusien und Portugal. Mit nachfolgenden Generationen sind neue Forscher herangewachsen. Auf J. Bolte und G. Polivka und deren erweiterte Ausdehnung der Grimmschen Forschungen folgten französische, englische, skandinavische Unternehmungen. Seit dem Jahre 1907 erscheinen in Helsinki in regelmäßig publizierten Zusammenstellungen die »Folklore Fellows Communications«(FFC). Ein weitgespanntes Verzeichnis der Märchentypen hat Antti Aarne 1928 zusammengestellt. J. Bolte brachte ein Handbuch »Name und Merkmale des Märchens« bereits im Jahre 1920 heraus und begann anschließend mit einem alphabetisch geordneten Handwörterbuch des deutschen Märchens in Gemeinschaft mit Lutz Mackensen. Folkloristische Handbücher gibt es außerdem in



Bd-06-310_Anhang Flip arpa

deutschen, englischen, französischen und amerikanischen Ausgaben. Ober das europäische Volksmärchen schrieb der Schweizer Max Lüthi das bisher maßgeblichste Buch. Es erschien 1947 in Bern.

Inneres Heimweh nach abgelebten Zeiten und eine heimliche Sehnsucht nach in näherer Zukunft dämmernden Morgenroten klingt zwischen 1850 und 1870 in einer kühnen pädagogischen Vision des französischen Kulturhistorikers Hippolyte Taine auf, der Goethes Geisteswelt nahe verbunden gewesen ist. Die nachstehenden Sätze daraus verdienen es, gerade in deutschen Vorstellungen festgehalten zu werden:

»Erzählt dem Kinde nur Märchen! In der Sonne laßt es herumlaufen und im Garten! Es soll die Pflanzen anschauen und die Tiere und die schönen Wolken. Zerstört nicht durch Zwang die ursprüngliche Schönheit seines Körpers und seiner Seele! Das neue Blut, das in diesen jungen Adern kreist und diese frische Haut straff spannt, das rosige Fleisch, in dem noch die Muttermilch zu leben scheint, diese fragenden großen Augen, dieser neugierige und bewegliche Verstand, diese geschmeidige unaufhörliche Lebendigkeit, all diese Freude am Leben und Lernen, diese Hingabe seiner selbst, —das ist der ursprüngliche Mensch, der nahe an seiner Quelle steht, der noch mit den untergeordneten Wesen verwandt ist, einfach und glücklich, wie das Wasser, das fließt und um die Felsen plätschert, in süßestem Murmeln rauscht und unter den liebkosenden Strahlen der Sonne sich hindehnt.«Angesichts der Tatsache, daß die breit und umfassend vorgenommene Registrierung aller Märchenvarianten schon im letzten Jahrzehnt des letztvergangenen Jahrhunderts annähernd 400 höchst unterschiedliche Abarten und Versionen des Rotkäppchenmärchens ans Licht brachte, hat neuere Erforschung dazu geführt, daß dafür nach einer usprünglichen Form gesucht wurde. Das einfache Nebeneinander allein dieses Märchens in seinen so unterschiedlichen deutschen und französischen Fassungen führt sehr rasch zur Einsicht, daß für ein solches von falschen Voraussetzungen ausgehendes Fragen nie eine Antwort zu finden ist. Den wahren Märchenverstand bekunden jene, deren ,Empfinden, Aufnahmebereitschaft und Phantasie weit genug gespannt sind, sich an der Vielfalt und Fülle all der mannigfachen kleinen, rotbekappten Mädchengestalten zu freuen, die, von ihren Müttern gesandt, für sich allein durch den dunklen Wald gehen, um die kranke Großmutter aufzusuchen und dieser ein kräftigendes Getränk und duftenden, wohlschmekkenden



Bd-06-311_Anhang Flip arpa

Kuchen zu bringen. Gefahren, deren es in der Welt nie ermangelt, lauern ihnen bei jedem einzelnen Schritt auf, den sie wagen. Ganz naturhaft sind diese im Wolfstier verkörpert; und höchst unterschiedlich geht natürlich das Abenteuer aus. Wen so etwas auch nur im geringsten verwundert, der soll sich auf Märchen gar nicht erst einlassen. Eine vorjahren gegründete »Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker« mit Schwestergesellschaften in Frankreich, Belgien, England, Spanien, sowie der Schweiz und der Türkei hatte im Sommer 1963 eine Zusammenkunft an der Pariser Sorbonne. Unter dem Präsidium des französischen Germanisten Maurice Boucher, der sich in diese Funktion mit dem deutschen Professor Schulte-Kernminghausen teilte, haben da für mehrere Tage Märchenfreunde aus vielen europäischen Ländern mit Gelehrten, Studentinnen und Studenten einander Märchen erzählt, sich über Märchenprobleme unterhalten und untereinander die Beglückung erfahren, daß Märchen gerade nach dem Ende der beiden großen Kriege, die weite Teile unseres geschundenen Kontinents weithin zerfleischten, dafür empfängliche Erwachsene noch immer in mit Entzücken und geradeso ergriffene, wie voller Andacht lauschende, gar nicht genug bekommende Märchenkinder verwandeln können. Der Schweizer Leza Ufer (Professor in St. Gallen) hielt bei dieser Gelegenheit einen seither oft diskutierten Vortrag, in dessen Mittelpunkt aufhellende Vergleiche zwischen deutscher und französischer Märchenwelt standen. Der Vortragende rühmte am französischen Märchen dessen farbigeren Wortschatz, seine Leichtigkeit und die fröhlich spielende Heiterkeit. Vom deutschen Märchen meinte er, daß es vordringlich von Gemütsbewegungen lebe, die es geradezu lieben, mit Schwarzweißschilderungen aufzuwarten. Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, in Frankreich würden mehr Märchen gelesen als östlich vom Rhein, stellte aber auch in aller Schlichtheit fest, daß im ganzen westlichen Europa die weithin gerühmte einander erzählende Dorfgemeinde seit langem schon nur noch in der Einbildung existiert und heutzutage auch auf der entlegensten rötoromanischen Alp jeder Hüterjunge seinen Lautsprecher erschallen und dröhnen läßt. Mit einer die festliche Tagung abschließenden Festrede wurde das Sammelwerk der Brüder Grimm gewürdigt, die zu ihrer Zeit einen vollkommen neuen Märchenstil geprägt haben, der für ganz Europa das Gesicht der Volksmärchen bestimmte und formte.



Bd-06-312_Anhang Flip arpa

Worin sich diese Märchen der Völker Europas im einzelnen trotz aller sie verbindenden Gemeinsamkeiten voneinander unterscheiden und vielfältig auch ergänzen, wird in speziellen Abhandlungen in den Einleitungen zu den Einzelbänden dieser Buchreihe noch aufgezeigt werden. Was Friedrich von der Leyen, der verehrenswerte Senior der heutigen deutschen, europäischen und die Weite der ganzen Welt umspannenden Märchensammlung, in seinem zweibändigen Werk »Die Welt der Märchen« betonte, gilt heute »und immer wieder« für alle Märchen: »Schließlich ist das Märchen ein ängstlich behüteter heiliger Besitz der Primitiven und seit Jahrtausenden das große Glück der Kinder. Diese führt es immer noch in die Elemente und in die Verklärung unseres Seins zurück. Es zeigt ihnen eine im Glanz des Wunderbaren erstrahlende und doch ihre Welt. Möge dies gesegnete Vorspiel nie aus unserer allzu ernsten und allzu schweren Wirklichkeit verschwinden!«

Karl Rauch


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt