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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


5. Die Entstehung der Schafe und die Gliederung des Jahres

Die erste Mutter der Menschen mahlte einmal auf ihrer Handmühle das Mehl, mischte es mit Wasser, und um die Stunde T'hä (oder thzä) formte sie den Teig in Gestalt eines weiblichen Schafes. (Die Stunde tha ist etwa 9 oder 1/2 10 Uhr morgens.) Die erste Mutter der Menschheit hatte an den Händen Ruß von den Töpfen gehabt. Deshalb wurde der Kopf der Tiere schwarz und der Leib, Hals und Beine weiß. Das Schaf aus Mehlteig legte sie darauf in den Speit, der neben dem Mahlstein lag und von dem Korn weggeblasen war. Es war Gerstenspelt (agorschelt themtháin). Der Speit blieb sogleich an dem Teigtier hängen und wurde zur Wolle.

Am andern Tage machte die erste Mutter der Welt aus Wasser und Mehl Teig und formte den Teig in Gestalt eines Widders. Sie machte ihm Hörner. Die Hörner waren nicht nach oben gerichtet, damit die Menschen sich nicht daran stechen. Sie machte die Hörner deshalb gekrümmt und die Ohren wie eine Schnecke, eines rechts und eines links. Als sie den Teigwidder in den Speit legen wollte, klang aus dem Speit: "bäh, bäh, bäh." Das kleine Schaf, das sie gestern gemacht hatte, war lebendig geworden und schrie aus dem Speit. Die erste Mutter der Welt sagte: "Was ist das? Das erste Schaf, das ich aus Kuchenteig gemacht, schreit wie ich schreie (d. h. gibt Laute von sich), ich werde ihm zu essen geben, von dem was ich esse." Darauf legte die erste Mutter der Welt den schwarzen Widder neben das junge Schaf in den Speit und gab dem jungen Schaf von ihrem Kuskus zu essen.

Am dritten Tage machte die erste Mutter der Welt wieder ein Schaf aus Teig, das wurde ganz weiß. Am vierten Tage machte die Mutter der Welt wieder einen Widder, der war auch ganz weiß. Am fünften Tage lagen im Speit vier lebendige Schafe, von denen ein weibliches einen schwarzen Kopf hatte und sonst weiß war. Das andere weibliche Schaf war ganz weiß. Die anderen beiden Schafe waren Widder, und einer von diesen war schwarz und einer weiß. Als die erste Mutter der Welt diese vier Schafe gemacht hatte, sagte sie zum ersten Vater der Welt: "Dies ist jetzt genug." Darauf machte sie keine Schafe mehr.

Die erste Mutter der Welt behielt die vier Schafe in ihrem Hause und fütterte sie. Die vier Schafe wuchsen und blökten. Die anderen Leute, die in der Nachbarschaft wohnten, hörten das Blöken der Schafe. Sie kamen und sagten: .%Was ist das, was ihr da im Hause



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habt? Was schreit so ?" Die erste Mutter der Welt sagte: "Es ist nichts. Es hat nichts auf sich. Es ist nichts, was ihr nicht auch habt. Das Brot schreit bei mir." Die erste Mutter der Welt gab den vier Schafen aber viel Kuskus und andere Speise, so daß sie schnell wuchsen und groß wurden.

Als die vier Schafe nun groß waren, liefen sie einmal zur Tür. Sie drängten die Tür ein wenig auf und sahen heraus. Sie sahen im Freien das Gras. Sie sprangen heraus und begannen das Gras zu fressen. Sie aßen alles Gras umher und weideten hier und dort. Die Nachbarn sahen die Schafe, kamen zur ersten Mutter der Welt und sagten: "Wir haben Rinder, Stiere und Kühe. Die kennen wir. Was sind aber dies dort für Tiere? Wie hast du diese Schafe gemacht ?" Die erste Mutter der Welt wollte nicht sagen, wie sie die Schafe gemacht hatte; sie sagte: "Diese Tiere sind mir nachts zugelaufen. Wir haben sie freundlich aufgenommen. Da sind sie bei uns geblieben. Sie sind bei mir geblieben. Diese Tiere sind geworden wie die Menschen, wie ihr und ich."

Die Nachbarn gingen. Sie gingen zur Ameise und fragten sie: "Was sind das für Tiere? Wie sind diese Tiere geworden? Wer hat sie gemacht? Zu was sind diese Tiere gut ?" Die Ameise sagte: "Diese Tiere heißen Schafe. Die Schafe sollen von den Menschen sorgfältig gepflegt werden. Sie sind gut zum Essen. Ihre Haare aber sind die Wolle, aus der die Frauen die Burnusse weben können. Sie sind auch für die Feste. Ohne die Schafe könnt ihr die großen Feste nicht feiern. Diese Feste sind genau unterschieden nach den Monaten des Jahres. Das Jahr hat zwölf Monate. Jeder Monat hat dreißig Tage. Jeder Tag hat eine Tageszeit und eine Nachtzeit. In diesen Zeiträumen liegen die Feste."

Die Menschen fragten: "Welche Feste sind zu feiern ?" Die Ameise sagte: "Das eine Fest ist das Lääid thamthiend (im Juli). Dazu schlachtet große Tiere (Rinder) und vier oder sechs Schafe im Dorfe. Jeder Mann, der eine Frau hat, stecke seine Debus (Schlagkeule) in die Erde, und neben jeder Schlagkeule lege man gleiches Essen bei der Verteilung hin. So sind alle gleich bedacht. Das zweite Fest ist Lääid thamkoran(d) (im Oktober). Zu diesem Feste soll jeder verheiratete Mann ein Schaf schlachten und soll seinen Kindern auflegen, daß alle gesund und stark werden. Von dem geschlachteten Schaf soll aber eine Schulter und der Kräutermagen (äkälschiu), ein Ohr (thamthurd) und ein Auge in der Sonne getrocknet, in Salz gelegt und einen Monat und zehn Tage lang aufbewahrt werden für



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das dritte Fest. Das dritte Fest ist das Thaschurt, das wird einen Monat und zehn Tage nach dem vorigen veranstaltet, und dann werden die Teile des Schafes gegessen, die aufbewahrt wurden. Dieses ist das Fest des Zitterns und Schreckens. Wer in den ersten drei Tagen dieser Zeit Holz hackt, auf dem Felde arbeitet oder sonst etwas tut, wird in ein Zittern verfallen und dann sterben. Die Frauen müssen für dieses Fest alle Nahrungsmittel vorher bereiten. Das vierte Fest ist das Mulud, das ist wieder drei Monate später (also Februar). Jedes Dorf soll Stiere kaufen und schlachten. Die Männer sollen ihre Debus in die Erde stecken und für ihre Familien den Anteil hinnehmen, der ihnen zukommt. In der Nacht vor dem großen Essen sollen aber alle heiligen Plätze mit Fackeln abgeleuchtet werden. Das sind die Feste, und jetzt, wo ihr die Schafe habt, könnt ihr sie begehen. Darum pflegt die Schafe gut."

Die Leute fragten die Ameise weiter: "Wie sind aber die Schafe gemacht? Wie sollen wir Schafe erhalten, um die Feste feiern zu können?" Die Ameise sagte: "Geht hin und sprecht mit der ersten Mutter der Welt. Merkt euch aber, daß, wenn ihr etwas kaufen wollt, ihr immer mit dem zahlen sollt, woraus das, was ihr kaufen wollt, bereitet ist. Geht also hin und sprecht mit der ersten Mutter der Welt."

Die Leute gingen wieder zu der ersten Mutter der Welt und sagten zu ihr: "Sage uns, wie die Schafe gemacht werden, wir wollen dir das dafür geben, woraus du sie bereitet hast." Die erste Mutter der Welt sagte: "Mahlt Gerstenmehl auf euern Mühlen, macht Kuchenteig und formt euch Schafe. Legt die Teigschafe in den Speit. So hab' ich meine Schafe gemacht. Vielleicht könnt ihr das auch machen."

Die Leute gingen hin und versuchten es. Denn die erste Mutter der Menschheit war eine Stud (eine Zauberin, Plur.: stuten oder stuta). Sie war damals die einzige, und nie wieder nach ihr konnten die Zauberinnen das, was die erste Mutter der Welt vermocht hatte.

Inzwischen sprangen die Widder auf die Schafe und die Schafe wurden trächtig. Jedes Schaf warf jedes Jahr zwei Lämmer. Die Schafe vermehrten sich schnell. Die Leute sahen es und kamen zur ersten Mutter der Welt und sagten: "Du hast die Schafe aus Gerstenmehl gemacht. Die Ameise hat gesagt, daß wir jedes Ding mit dem bezahlen sollten, aus dem es gemacht ist. Wenn es dir recht ist, geben wir dir Gerste für die Schafe." So kauften alle Menschen von der ersten Mutter der Menschheit Schafe gegen Gerste. Alle Menschen



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kauften in Zukunft, was die anderen Besseres machten, gegen das, woraus es bereitet war. Denn Geld gab es noch nicht.

So kamen die Schafe zu den Menschen und die Menschen konnten ihre Feste feiern.

Der erste Widder, den die erste Mutter der Welt gebildet hatte, ist nicht wie andere Tiere gestorben. Er lief eines Tages hoch in das Gebirge; so hoch, daß er mit seinem Kopfe gegen die aufsteigende Sonne stieß. Die Sonne haftete an ihm und so wandert er von da an mit ihr.

Es gab früher auch ein Bild des Widders, das war oberhalb von Häithar. Davor war ein Mensch zu sehen, der wie die andern Menschen nach der rechten Zeit für Saat und Ernte fragte. Dieses Bild ist aber nur noch in wenigen Stücken zu sehen; denn als der große Frost über die Erde kam, zerstörte er nicht nur die Mutter der Welt, sondern auch Felsen. Und in jedem Jahre zerstört die Kälte ein wenig von dem Bilde des ersten Widders.


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