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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Das Seehundsweibchen

Die Seehunde sind zuerst von Menschen gekommen, die sich selbst hinabgestürzt und in der See ertränkt haben. Einmal in jedem Jahre, und zwar in der Epiphaniasnacht, ist es ihnen vergönnt, aus dem Balg zu schlüpfen, und dann sind sie anderen Menschen gleich: sie vergnügen sich da mit Tanz und Spiel nach der Weise der Menschen auf dem Steingrund am Strande und in den Klippenhöhlen.

Einmal versteckte sich ein Bursche vom südlichen Hofe in Mikladal unter einem Stein am Strande; nach Sonnenuntergang sah er eine Menge von Seehunden herbeischwimmen; und wie die ans Land gekommen waren, fuhren sie aus ihren Bälgen, legten diese am Strande hin und glichen nun richtig andern Menschen. Der Bursche sah auch ein wunderschönes Mädchen aus dem Seehundsbalg schlüpfen, und es faßte ihn alsbald ein großes Verlangen nach ihr. Er holte sich heimlich ihr Fell, das sie abgelegt hatte. —Die Seehunde tanzten und vergnügten sich die ganze Nacht; aber als der Tag zu grauen begann, fuhr jeder wieder in seinen Balg. Nur das wunderschöne Mädchen konnte seine Haut nicht wiederfinden, weinte und jammerte, denn da war die Nacht vergangen und die Stunde des Sonnenaufgangs gekommen. Aber bevor sich die Sonne aus dem Meere erhob, bekam sie Witterung von ihrer Haut bei dem Burschen und mußte nun zu ihm hin. Sie bat ihn flehentlich und mit guten Worten um ihr Fell, aber er hörte nicht darauf, sondern ging die Schlucht aufwärts nach Hause, und sie mußte ihm und dem Fell, das er bei sich trug, folgen. Er nahm sie nun zu sich, und sie lebten gut miteinander wie andere Ehegatten. Aber er mußte auf der Hut sein, sie nicht zu dem Fell kommen zu lassen; er verbarg es daher in einer Truhe, versperrte diese gut und trug den Schlüssel immer am Leib. Eines Tages war er mit ausgerudert, und wie er da draußen auf dem Meere saß und



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einen Fisch aufzog, kam seine Hand zufällig an den Gürtel, wo der Schlüssel für gewöhnlich hing; da durchfuhr es ihn, denn er wurde erst jetzt gewahr, daß der Schlüssel vergessen war, und er rief in Sorge und Schmerz: »Heut werde ich verwitwet.« Alle zogen ein und setzten sich an die Ruder, um schleunigst heimzurudern. Zu Hause merkte er, daß seine Frau verschwunden war, aber die Kinder, die sie zusammen hatten, saßen ruhig daheim. Damit ihnen kein Schaden geschähe, während sie allein drinnen säßen, hatte sie das Feuer auf dem Herd gelöscht, auch Messer und alles Scharfe unter Schloß und Riegel gebracht. Dann war sie zum Strande hinabgesprungen, in die Haut gefahren und hatte sich in die See gestürzt. Sie hatte den Schlüssel gefunden, als der Mann ausgerudert war, schloß die Kiste auf, sah hier die Haut liegen und konnte sich nicht länger beherrschen. Gerade als sie in die See sprang, tauchte das Männchen, das früher mit ihr in Liebe zusammengelebt hatte, an ihrer Seite auf, und nun schwammen sie beide von dannen; —alle diese Jahre hatte es hier gelegen und auf sein Weibchen gewartet. Als die Kinder, die sie mit dem Manne hatte, zum Strand hinabkamen, sah man einen Seehund vor dem Lande liegen und auf sie schauen, und alle dachten, das möchte ihre Mutter sein.

So vergingen viele Jahre. Einmal geschah es, daß die Mikladalsmänner hinaus auf den Paarungsplatz wollten, um Seehunde zu schlagen, da kam die Nacht zuvor das Seehundweibchen im Traum zum Bauern auf dem südlichen Hofe und sagte ihm, sie sollten das Männchen, das vor der Höhle liege, nicht erschlagen, weil das ihr Gatte sei, und die zwei Jungen, die im Innersten der Grotte lägen, müßten sie schonen, weil das ihre Söhne seien, und sie sagte auch, wie sie gefärbt waren. Aber der Bauer schenkte dem Traume keine Beachtung und ging mit den Männern. Sie erschlugen alle Seehunde, und bei der Verteilung bekam der Bauer das ganze Männchen, die Vorder- und Hinterbeine der Jungen. Zum Nachtmahl hatten sie das Haupt, die Vorder- und Hinterbeine gekocht, und als es vorgesetzt wurde, hörte man ein Krachen und großes Getöse, und das Seehundweibchen kam als der häßlichste Troll in die Rauchstube, schnupperte in den Trog und rief zornig: »Hier liegt der Alte mit der aufgestülpten Nase, die Hand Hareks und der Fuß Fridriks - und das soll gerächt werden an allen Männern von Mikladal. Es sollen ihrer so viele abstürzen oder ertrinken, bis es genug sein werden, daß sie sich an den Händen halten und die ganze Insel Kallsöy umspannen können.«



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So ist es leider auch gekommen, aber die Menge der Toten ist noch immer nicht so groß geworden, daß sie schon genügen würden, um jene Insel zu umspannen.


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