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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Die Geschichte vom Königssohn Hlinur


1.

Es waren einmal Mann und Frau in einer ärmlichen Hütte und König und Königin in ihrem Reich. Diese hatten einen Sohn, der Hlinur hieß, die Tochter des Mannes hieß Helga. Sie wuchsen zusammen auf und spielten miteinander und gewannen sich lieb, aber als sie einander haben wollten, wurden sie getrennt.

Nun verging die Zeit, und nichts Erzählenswertes geschah. Eines Tages aber gingen der Königssohn und seine Gefolgsmannen auf die Jagd. Der Königssohn erblickte einen Hirsch und verfolgte ihn, aber da fiel



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ein dichter Nebel, so daß seine Gefolgsmannen ihn aus den Augen verloren. Sie suchten lange, aber schließlich begaben sie sich heim ins Königreich und berichteten dem König. Der König machte sich selbst auf die Suche mit seiner ganzen Gefolgschaft, und sie bliesen die Nebelhörner, aber nichts half. Der König war von Trauer ganz überwältigt und ließ die Botschaft ausgehen, daß derjenige, der Hlinur fände, das halbe Reich bekommen solle und ihn selbst zum Manne, falls es eine Frau wäre.

Nun wendet sich die Geschichte dem Königssohn Hlinur zu, wie er sich im Nebel verirrte. Er streifte lange im Wald umher, bis er an eine Grotte kam, und da war er todmüde und fast am Verhungern. Er ging in die Grotte hinein und sah, daß sie von Riesen bewohnt war. In Trögen befand sich Essen, und davon aß er. Dann legte er sich schlafen. Als er eine gute Weile geschlafen hatte, erwachte er von einem Donnern und Dröhnen draußen, als ob die Erde berste, und die Grotte bebte. Herein trat ein großes und mächtiges Riesenweib und sagte: »Willkommen, Königssohn Hlinur.« Sie bewirtete ihn und fragte, ob er sie zur Frau nehmen wolle. Das verneinte er. Da fragte sie, ob er bei ihr schlafen wolle, aber er lehnte ab. Da wies sie ihm ein anderes Bett an. Am Morgen, ehe sie zur Jagd aufbrach, rief sie drei Schwäne und sprach:

»Singt, meine Schwäne, singt,
daß Königssohn Hlinur einschlafe.«


***
Da schlief er ein und schlief den ganzen Tag. Als aber die Riesin von der Jagd heimkam, rief sie wieder die Schwäne und sprach:
»Singt, meine Schwäne, singt,
daß Königssohn Hlinur erwache.«


***
Da wurde er wach, und sie gab ihm zu essen und fragte ihn dasselbe wie zuvor, aber er sagte nein. Dennoch hatte er dort ein gutes Leben, und die Riesin ging mit ihm durch die ganze Grotte und zeigte ihm Gold und ihre Schätze, nur einen Raum nicht. Dorthin durfte er niemals kommen.

Nun wendet sich die Geschichte heim der Hütte zu, wo Helga sehr betrübt ist und mit ihren Eltern redet und sie um Reiseerlaubnis und um Mundvorrat und neue Schuhe bittet, um Hlinur zu suchen. Sie waren



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dagegen, aber trotz aller Einwände machte sie sich auf. Sie wandert lange bis spät in den Tag hinein, als sie an die Grotte kommt. Sie geht in den Fels hinein und findet Hlinur schlafend. Sie versucht mit allen Mitteln, ihn zu wecken, aber nichts half. Als es Abend wurde, bekam sie Angst, daß der Felsbewohner heimkommen würde, und sie fand als sicherstes Versteck, sich im Aschloch unter einem großen Topf zu verbergen. Kurz darauf hörte sie ein heftiges Donnern und Dröhnen, so daß die Grotte bebte, und pustend kam das Riesenweib hinein und warf seine Last ab und sagte mit mächtigem Schnaufen: »Pfui, puh, pfui, puh, Menschengeruch in meinem Fels.« Sie durchsuchte die ganze Grotte, aber fand nichts. Dann weckte sie Hlinur auf dieselbe Weise wie zuvor und fragte ihn dasselbe, aber er wich aus. Die Nacht verging, und am Morgen ließ das Weib Hlinur wieder in Schlaf fallen. Danach ging es fort, Helga aber kroch unter dem Topf hervor und weckte Hlinur auf dieselbe Weise, wie sie es die Riesin hatte tun hören, und dann gab es bald ein frohes Wiedersehen. Nun gab Helga Hlinur den Rat, der Riesin ein halbes Versprechen zu geben, sie zu heiraten, doch unter der Bedingung, daß er tagsüber wachbleiben und im Fels umhergehen könne. Am Abend kroch Helga wieder unter den Topf und versenkte Hlinur in Schlaf. Als das Weib heimkam, sagte Hlinur, daß er dies Leben leid geworden sei, und ließ durchblicken, daß er sie später zur Frau nehmen würde, wenn er tagsüber wachbleiben könne und die Schlüsselgewalt über den Felsen bekäme. Das bekam er, nur nicht über die Geheimkammer. Nun vergehen einige Tage, und Hlinur und Helga hatten es tagsüber gut miteinander, aber des Abends kroch Helga immer unter den Topf. Eines Abends versprach Hlinur der Riesin, daß er sie nun zur Frau nehmen würde, doch unter der Bedingung, daß er in die Geheimkammer hineinschauen dürfe. Die Riesin wurde froh darüber und führte ihn in die Kammer und zeigte ihm dort unter anderem ein Lebensei und sagte, daß sie nur sterbe, wenn ihr das Ei auf der Nase zerbräche. Da war auch ein Stein, der an einem Ende rot und am anderen blau war, und die Riesin sagte, daß er die Eigenschaft habe, einen Feuerregen hervorzurufen, wenn man auf das rote Ende schlüge, würde aber auf das blaue Ende geklopft, käme ein Steinregen. Außerdem war da ein Zaubertuch, auf dem man durch die Luft fliegen konnte; das Tuch war zweifarbig rot und blau (oder grün und blau), und je nachdem auf welche Farbe man sich setzte, flog es in die eine oder die andere Richtung. Nun kam der Hochzeitstag heran, und da



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machte sich die Riesin auf, um die Riesen zum Fest zu laden. Als Helga und Hlinur sahen, daß die Riesen sich der Grotte näherten, setzten sie sich mit dem Stein auf die Schwelle und schlugen zuerst auf das blaue Ende und dann auf das rote. Da brach ein Steinregen und ein Feuerregen los, und die Riesen brüllten, daß es hallte. Dann stürzte die Riesin mit rasender Schnelligkeit durch das Schauer, aber Hlinur hielt das Ei bereit und warf es ihr auf die Nase. Sie kam da um mit allen Riesen. Hlinur und Helga gingen in den Fels hinein und nahmen dort Gold und Schätze und legten sie auf das Tuch, setzten sich dann selbst darauf und flogen darauf heim. Als die Stadtbewohner dies Monstrum in der Luft erblickten, glaubten sie, daß das Ende der Welt gekommen sei, und sie verriegelten alle Stadttore. Hlinur und Helga ließen sich vor dem Schloßfenster auf dem Tuch herab, und als der König seinen Sohn Hlinur erblickte, wurde er froher, als sich sagen läßt, und es wurde ein großes Fest veranstaltet, und Hlinur bekam Helga zur Frau. Sie liebten sich innig und lange, und er übernahm sogleich das halbe Reich und das ganze nach dem Tod seines Vater.


II.

Es waren einmal Mann und Frau, die lebten in ihrer Hütte. In der Nähe war in einem Fels ein Riesenweib und in einem Hügel eine Elfenfrau, die ein Kind im ersten Jahr hatte. Die Eheleute in der Hütte besaßen ein Glas, in dem immer Milch war, wenn man es zum Trinken ansetzte. Das wußte die Elfenfrau, und eines Tages sprach sie die Alte darauf an, ob sie ihr nicht gegen eine Kuh, die sie besaß, das Glas überlassen wolle; ihr wäre das sehr angenehm wegen des Kindes. Die Alte meinte, für sie und ihren Mann käme das wohl auf dasselbe hinaus, und sie schließen den Handel. Die Elfenfrau schärfte der Alten ein, daß sie die Kuh nur melke, wenn ihr Mann zu Hause sei. Als abends der Mann heimkam, gab die Alte ihm reichlich Milch und berichtete ihm von dem Tausch, der zwischen ihr und der Elfenfrau abgeschlossen worden war, und von der Bestimmung, welche die Elfenfrau ihr mitgeteilt hatte. Der Mann war damit wohl zufrieden. Er brachte die Kuh in der Küchenecke unter und bat seine Frau, gut zu beachten, was die Elfe ihr auferlegt hatte.

Am nächsten Tag ging der Mann wie gewöhnlich in den Wald, um Holz



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zu hauen. Eine Zeitlang nachdem er fortgegangen war, hat die Alte ein so heftiges Verlangen nach Milch, daß sie die Kuh melkt und dann Feuer macht, um sie zu kochen. Doch kaum hat es zu rauchen begonnen, als das Riesenweib am Fenster erscheint und die Alte fragt, was sie da jetzt koche. Sie antwortete, daß sie Wasser heiß mache, um die Socken und Kleider ihres Mannes zu waschen. »Ich komme und sehe nach«, sagte das Riesenweib. Als die Riesin zur Küchentür hereinkommt, ruft die Alte: »Oh, stoß dich nicht an meiner Kuh!« Das Riesenweib fragt: »Ach, hast du eine Kuh? Die sollst du nicht länger mehr haben.«Jetzt stürzt die Riesin in die Küche hinein, und als die Alte das sieht, reißt sie den Topf vom Herd und setzt sich darauf, aber das Riesenweib stößt sie um, nimmt die Milch und trinkt; und als es sich zum Gehen wendet, bindet es die Kuh los und nimmt sie mit. Man kann sich denken, wie der Alten zu Mute war den Rest des Tages über; sie hatte Angst, daß ihr Mann unwirsch werden würde, wenn er hörte, was geschehen war. Als der Mann des Abends müde und durstig nach Hause kam, dünkte ihn die Heimkehr recht trocken, und er machte seiner Frau Vorwürfe, daß sie die Anweisungen der Elfe nicht besser befolgt habe, und befahl ihr, sie am nächsten Tag aufzusuchen und zuzusehen, etwas anderes für das Glas zu bekommen, im anderen Fall aber hätte sie es zurückzubringen.

Am nächsten Tag ging der Mann in den Wald, die Alte aber machte sich auf, die Elfenfrau aufzusuchen; sie versprach sich nicht viel davon, aber sagte sich doch, daß sie versuchen müsse, etwas herauszuschlagen. Sie gab der Alten nun ein Huhn, von dem sie sagte, daß es immer Eier legte, und schärfte ihr ein, sich nie ein Ei zu kochen, wenn ihr Mann nicht zu Hause sei, und das versprach sie.

Am Abend, als der Mann nach Hause kam, erhielt er bei seiner Frau reichlich Eier und war nun sehr zufreiden. Er brachte das Huhn in der Küche unter und ermahnte seine Frau, den Rat der Elfe nun gut zu befolgen.

Am nächsten Tag, als der Mann einige Zeit vorher fortgegangen ist in den Wald, hat die Alte ein solches Verlangen nach Eiern, daß sie nicht widerstehen kann und sich daran macht, sie zu kochen. Nach kurzer Zeit ist die Riesin schon am Fenster und fragt die Alte, was sie da jetzt koche. Sie antwortet genau wie zuvor, daß sie Wasser heiß mache, um die Socken und Kleider ihres Mannes zu waschen. »Ich komme und sehe nach«, sagt das Riesenweib.



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Als es zur Tür hereinkommt, ruft die Alte: »Oh, zerbrich mir nicht meinen Hühnerstall!« Die Riesin sagt: »Ach, hast du ein Huhn? Das sollst du nicht länger mehr haben.«Jetzt beeilt sich die Alte, den Eiertopf vom Herd zu reißen, und setzt sich darauf, aber das Riesenweib wirft sie um, ergreift die Eier und ißt sie auf. Als die Riesin geht, nimmt sie das Huhn mit.

Der Alten ist nun sehr elend zumute, und sie bereut jetzt, daß sie sich daran gemacht hat, die Eier zu kochen.

Als abends der Mann nach Hause kommt, erhält er keine Eier und fragt, was das auf sich habe, und da mußte ihm die Alte alles sagen, wie es war. Der Mann machte seiner Frau Vorwürfe, daß sie nicht halte, was sie versprochen habe, und nun habe sie die Strafe dafür, und dann befiehlt er ihr, zur Elfenfrau zu gehen und entweder das Glas wieder zurückzubringen oder etwas anderes an seiner Stelle. Am nächsten Tag geht der Mann in den Wald, und als die Alte mit der Hausarbeit fertig war, machte sie sich betrübt auf, um die Elfenfrau aufzusuchen. Die Elfe empfing sie freundlich, aber der Alten fiel es schwer, ihr Anliegen vorzubringen, denn ihr schien, was ja auch der Fall war, das Glas vielfach bezahlt zu sein. Schließlich fragte die Elfenfrau, was sie auf dem Herzen habe, und sie kam zögernd damit heraus, daß ihr Mann ihr befohlen habe, entweder das Glas wieder zurückzubringen oder etwas anderes an seiner Stelle.

Die Elfenfrau nahm das unwillig auf und sagte, das ginge nicht so weiter, daß sie das Glas wieder und wieder bezahle, aber wegen des Kindes möchte sie es auch nicht missen; außerdem sagte sie, daß sie ihr diesmal ein großes Stück Fleisch geben wolle, das nie ein Ende nähme, wenn immer ein bißchen davon übriggelassen würde. Die Alte dankt der Elfenfrau für die Gabe und macht sich froh auf den Heimweg.

Am Abend, als der Mann nach Hause kam und die Alte ihm von dem Stück Fleisch berichtet hatte, klärten sich seine Züge auf, und er schneidet nun ein Stück zum Kochen davon ab, den Rest aber hängt er in der Küche so hoch auf, daß seine Frau nicht heranreichen kann, und er sagte ihr, daß er selbst die Verfügung über das Fleisch haben wolle. Am nächsten Tag geht der Mann wie gewöhnlich in den Wald, von der Alten aber ist zu berichten, daß sie im Laufe des Tages Verlangen nach Fleisch bekommt, aber sie weiß gar nicht, wie sie darankommen soll; da kommt sie auf den Gedanken, die Vorratskiste in die Küche zu schleppen und zu versuchen, ob sie dann nicht groß genug wäre, an das



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Fleisch zu gelangen, aber sie konnte nur mit den Fingerspitzen daran rühren. Dann geht sie in die Wohnstube und holt ein Kästchen und stellt es oben auf die Kiste, und jetzt reicht sie gut heran und schneidet sich eine dicke Scheibe von dem Fleisch ab und macht sich ans Kochen. Nach einer kleinen Weile kommt die Riesin ans Fenster und fragt die Alte, was sie da jetzt koche, aber die Alte gibt keine Antwort; da verschwindet die Riesin vom Fenster und kommt in die Küche. Als die Alte sie in der Tür erblickt, ruft sie laut: »Stoß dich nicht an meinem Fleischstück!« Die Riesin sagt: »Ach, hast du ein Stück Fleisch? Das sollst du nicht länger mehr haben!« Die Alte wollte den Fleischtopf verbergen und stößt ihn ins Aschloch, aber die Riesin hatte Wind davon bekommen, sie nimmt das Fleisch aus dem Topf und ißt es auf, und als sie sich zum Gehen wendet, reckt sie sich und langt das Fleischstück oben von der Giebeldecke und nimmt es mit.

Am Abend, als der Mann nach Hause kam, fand er, daß seine Frau Übles angerichtet habe, aber er sagt dennoch wenig dazu. Am nächsten Tag ging er nicht in den Wald, sondern blieb daheim. Er holte seine Axt hervor und schärfte sie, befahl seiner Frau, aufs Feuer zu legen, setzte ein großes Eisengitter in die Küchentür und ließ seine Frau sich auf den Querbalken in der Küche setzen und setzte sich dann neben sie mit der Axt in der Hand. Seiner Frau verbot er, auch nur ein einziges Wort zu sagen, was sie auch immer höre und sehe, und das versprach sie. Nach einer kleinen Weile kommt die Riesin ans Fenster und fragt die Alte, was sie jetzt koche, und als sie keine Antwort erhält, stürzt sie in großer Hast in die Küche hinein, bleibt aber in dem Eisengitter an der Tür stecken. Da springt der Mann schnell von dem Balken herunter und haut dem Riesenweib den Kopf ab. Nun hilft er seiner Frau von dem Balken herab, und dann schaffen sie die Riesin hinaus und verbrennen sie. Darauf gehen sie zu der Elf enf rau im Hügel und berichten ihr und bitten sie, mit ihnen zu kommen, um nachzusehen, was sich Wertvolles im Fels des Riesenweibs finde.

Sie gehen nun alle drei und finden zuerst die Kuh, das Huhn und das Fleischstück und außerdem eine Menge Reichtum aller Art. Alles das teilen sie unter sich und lebten dann in Ruh und Frieden bis ins hohe Alter.


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