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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Der Knecht und das Seevolk

Es war einmal ein reicher Bauer auf einem Hof. Seine Häuser waren groß und schön eingerichtet, die Wohnstube war gedielt und an Wänden und Decken ausgetäfelt. Aber sein Hof war von dem Unglück betroffen, daß jeder, der in der Weihnachtsnacht zu Hause blieb, andern



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Tags tot aufgefunden wurde. Daher war der Bauer mit seinen Leuten übel dran, denn keiner wollte in dieser Nacht dableiben und dennoch mußte es einer tun.

Einmal nun mietete sich der Bauer wieder einen neuen Hirten, denn seine Schafherde war groß und er brauchte einen tüchtigen Mann dazu. Er erzählte dem Hirten ganz offen von dem Fluche, der auf dem Hofe lag. Aber der Mann meinte, solcher Unsinn ginge ihn gar nichts an und gerade deshalb verspüre er Lust, zu ihm zu ziehen. In der Tat zog er nun zu dem Bauern, und sie mochten einander ganz gern.

So verging der Winter bis zu Weihnachten. Am Heiligen Abend machte sich der Bauer mit all seinen Leuten zum Abendgottesdienst fertig, nur der neue Hirt rüstete sich nicht zum Kirchgang. Der Bauer fragte, warum er sich nicht ankleidete. Und der Knecht sagte, er wolle daheimbleiben, denn es ginge nicht, den Hof so ganz ohne Leute und das Vieh unbehütet zu lassen. Der Bauer bat ihn, sich lieber darum nicht zu kümmern, denn er habe ihm ja gesagt, daß es nicht gut sei, in der Weihnachtsnacht dazubleiben. Jedes Lebewesen im Hause werde getötet, und das wolle er um keinen Preis wieder so haben. Aber der Hirt meinte, das sei nur ein Aberglaube, und er wolle es versuchen. Der Bauer sah, daß er bei ihm nichts erreichen konnte, ging mit seinen Leuten fort und der Knecht blieb allein.

Als es Abend wurde, ward der Hirt nachdenklich und meinte, es sei wohl das beste, sich auf alles mögliche vorzubereiten. Er machte Licht in der Wohnstube und suchte nach einem Ort, wo er bleiben konnte. Er nahm zwei Bretter aus der Wandverkleidung, stellte sich dahinter und fügte die Bretter wieder davor, so daß er zwischen Wand und Verkleidung stand und durch den Spalt die ganze Wohnstube übersehen konnte. Sein Hund lag drinnen unter einem Bett.

Bald darauf traten zwei fremde und schrecklich aussehende Männer herein. Sie spähten nach allen Seiten. Der eine sagte: »Menschengeruch, Menschengeruch!« Aber der andere sagte: »Nein, hier ist kein Mensch.« Sie nahmen das Licht, leuchteten alles ab und fanden zuletzt den Hund unterm Bett. Sie drehten ihm das Genick um und warfen ihn vor die Tür. Der Knecht sah, mit diesen Leuten war nicht gut Kirschen essen, und war heilfroh, dort zu sein, wo er war.

Nun kamen viele Leute in die Stube. Sie stellten Tische auf, deckten Tücher darüber, und alles Tischgerät war von Silber, Teller, Löffel und Messer. Dann trugen sie Speisen auf, setzten sich an den Tisch, aßen,



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tranken und tanzten in Saus und Braus die ganze Nacht hindurch. Zwei waren als Wachen bestimmt und sollten melden, falls ein Mensch käme oder der Tag anbräche. Dreimal gingen sie hinaus und meldeten immer, sie sähen niemand und der Tag sei noch nicht gekommen. Als aber der Knecht meinte, nun müsse der Tag nahe sein, nahm er die beiden Wandbretter, sprang mit Ungestüm auf einmal in die Stube, schlug die Bretter zusammen und schrie aus Leibeskräften: »Tag, Tag!« Da erschraken die Leute gewaltig, stürzten einer über den andern hinaus und ließen alles zurück, Tische, Gerät und auch die Kleider, die sie zum Tanzen abgelegt hatten. Einige wurden gequetscht, andere wurden zertreten, und der Knecht verfolgte sie, schlug immerfort die Bretter zusammen und schrie: »Tag, Tag!« Sie stürzten sich alle miteinander in einen See nicht weit vom Hofe, und da sah der Knecht, daß es Seevolk gewesen war. Er ging heim, zog die Toten heraus, erschlug die Halbtoten und verbrannte die Leichen. Dann reinigte er das Haus und verwahrte die zurückgelassenen Kostbarkeiten.

Als der Bauer heimkam, zeigte und erzählte er ihm alles. Der Bauer meinte, da habe er viel Glück gehabt. Der Knecht behielt sich die Hälfte der zurückgelassenen Kostbarkeiten und gab dem Bauern die andere Hälfte. Das war ein großer Schatz. Er blieb noch einige Jahre da und wurde durch Fleiß ein reicher und angesehener Mann. Aber fortan geschah auf diesem Hof in der Weihnachtsnacht nichts Besonderes mehr.


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