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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Das Mädchen von der Alm

Einmal wohnte in Nordland ein Pfarrer, der ein Mädchen zu sich genommen und aufgezogen hatte. Weit davon entfernt hoch oben in den Bergen lag die Almwirtschaft des Pfarrers, wohin er im Sommer gern sein Vieh nebst Hirt und Sennerin schickte. Als die Pflegetochter herangewachsen war, wurde sie die Sennerin und erledigte die Haushaltung dort so gut wie jede andere Arbeit, denn sie war eine vortreffliche Wirtin, klug, hübsch und gar behende. Es warben viele reiche Freier um sie, denn es gab nicht ihresgleichen in der ganzen Gegend. Sie aber wies alle ab. Zwar sprach der Pfarrer einmal darüber mit seiner Pflegetochter und riet ihr, sich zu verheiraten, denn er sei alt und könne nicht immer für sie sorgen. Sie aber hörte gar nicht darauf; ihr stünde der Sinn gar nicht nach solchen Dingen; sie sei zufrieden damit, wie es sei, und nicht jeder werde in der Ehe glücklich. Von da absprachen sie vorläufig nicht weiter darüber.

Als ein gut Teil des Winters vorbei war, war es so, als beginne die Sennerin dicker zu werden unter dem Gürtel, und die Leute sahen, daß dies mit der Zeit zunahm. Im Frühjahr stellte der Pflegevater sie zur Rede und bat sie, ihm die Wahrheit zu sagen, und wenn sie ein Kind erwarte, dann solle sie besser in diesem Sommer nicht auf die Alm gehen. Sie sagte, sie bekomme kein Kind und sei ganz munter, ihren Dienst auf der Alm könne sie in diesem Sommer genauso gut versehen wie früher auch. Der Pfarrer sah, daß er ihr nicht beikommen konnte, und ließ sie gewähren. Er sagte aber den Sennern, sie sollten sie nicht ein einziges Mal allein lassen, und das versprachen sie auch.

Sie zogen nun auf die Alm, und die Sennerin war sehr fröhlich. So verging eine Zeit, und nichts geschah. Die Leute behüteten das Mädchen und ließen es nie allein. Da geschah es, daß eines Abends dem Hirten alle Schafe und Kühe verlorengingen, so daß alle mitsuchen mußten und nur die Sennerin allein zurückblieb. Das Suchen war schwierig, denn es war dichter Nebel, und deshalb fand man die Herde erst gegen Morgen. Als sie heimkamen, war die Sennerin aufgestanden und sehr fröhlich, und die Leute merkten auch, daß ihre Dickigkeit jetzt wieder verschwunden war. Sie konnten nicht verstehen, wie das zugegangen war.

Als sie im Herbst wieder heimwärts zogen von der Alm, da sah auch der Pfarrer, daß das Mädchen wieder schlanker geworden war. Er frug



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nun die Senner, ob sie denn nicht seinen Befehl ausgeführt und das Mädchen etwa allein gelassen hätten. Da erzählten sie ihm, wie es gewesen war und daß sie sie nur ein einziges Mal allein gelassen hätten, weil alles Milchvieh abhanden gekommen sei. Da war der Pfarrer sehr zornig und verwünschte sie und sagte, das habe er schon gewußt, als das Mädchen im Frühjahr auf die Alm zog.

Im Winter darauf hielt ein Mann um das Mädchen an, sie wies ihn jedoch ab. Der Pfarrer aber sagte ihr, das dürfe nicht sein, sie solle ihn heiraten, er sei ein guter Mann und aus gutem Hause. Er hatte im Frühjahr nach des Vaters Tod die Wirtschaft übernommen, und seine Mutter lebte mit ihm auf dem Hofe. Die Heirat kam also zustande, ob es der Sennerin nun lieb war oder leid. Im Frühjahr war die Hochzeit beim Pfarrer. Ehe aber das Mädchen sein Brautkleid anzog, sagte es zu seinem Bräutigam: »Das verlange ich, da du mich ohne meinen Willen zur Frau bekommst, daß du nie einen Wintergast beherbergst, ohne mich zu fragen; du würdest es bereuen.« Der Bauer versprach ihr das. Das Festmahl war vorüber, und sie zog mit ihrem Mann auf seinen Hof und versah das Hauswesen. Aber sie tat alles ohne rechten Frohsinn, sie war nicht glücklich, obwohl ihr Mann alles tat, was er ihr Liebes tun konnte, und kaum zuließ, daß sie auch nur eine Hand in kaltes Wasser tauchte. Jeden Sommer bei der Heuernte blieb sie mit ihrer Schwiegermutter daheim und diese half ihr kochen. Sie strickten und fingen an zu spinnen, und die Schwiegermutter erzählte ihr allerhand Geschichten.

Einmal nun, als die Alte wieder erzählt hatte, bat sie auch ihre Schwiegertochter um eine Geschichte. Sie sagte, sie wisse keine, und als die Alte sie so sehr darum bat, versprach sie, ihr die einzige Geschichte erzählen zu wollen, die sie wisse, und sie begann: »Auf einem Hofe war eine Sennerin. Nicht weit von der Sennhütte waren große Felsen, an denen sie oft vorüberging, und da drinnen wohnte ein Huldrenmann. Er war fein und schön, und sie lernten sich kennen und hatten sich inniglich lieb. Er war so gut, daß er dem Mädchen alles Liebe tat, was er nur konnte. So ging es eine Zeitlang, und schließlich fing sie an elend zu werden, so daß der Hausherr sie zur Rede stellte, als sie wieder zur Sennhütte hinauf wollte. Sie aber wehrte sich gegen jeden Verdacht und zog wieder auf die Alm. Der Hausherr befahl aber den Sennen, das Mädchen gut zu behüten und sie nie allein zu lassen, und sie versprachen es auch. Aber sie gingen doch einmal alle fort, um die Herde zu



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suchen, und da wurde sie von einem Knäblein entbunden. Jener Huldrenmann, der sie liebte, kam zu ihr, stand ihr bei, badete das Kindlein und wickelte es. Aber bevor er mit dem Kindlein von dannen ging, gab er ihr etwas zu trinken aus einem Glase, und das war das Süßeste, was ich jemals« . . . und in diesem Augenblick verlor sie ihren Knäuel zum Stricken, sie bückte sich und hob ihn auf - >was sie jemals gekostet hatte<, wollte ich sagen, und wurde von Stund an wieder frisch und gesund. Seither sahen sie sich nie wieder. Sie mußte einen andern Mann heiraten, sehnte sich aber nach ihrem Geliebten, so daß sie nie mehr froh sein konnte. Und so schließt die Geschichte.« Die Schwiegermutter dankte ihr und behielt die Geschichte in ihrem Herzen.

So verstrich eine Zeit, ohne daß etwas geschah, die Frau war wie immer bekümmert, war aber immer gut zu ihrem Mann. Da, als die Heuernte fast vorbei war, kamen zwei Männer zum Bauer, ein größerer und ein Knabe. Beide trugen tief herabhängende Hüte, so daß man ihre Gesichter kaum erkennen konnte. Der größere bat den Bauer um Winterherberge, der aber sagte, er nehme niemand, ohne seine Frau zu fragen, und wolle erst mit ihr darüber sprechen. Der größere sagte, das sei unwürdig, wenn ein Häuptling wie er sich so von seiner Frau beherrschen lasse, daß er sie nicht einmal ohne ihr Wissen einen Winter lang beköstigen dürfe. Da machten sie denn aus, daß er ihnen Herberge gebe, ohne sie gefragt zu haben. Abends kamen die Fremden ins Haus, er gab ihnen ein Zimmer vorn im Hause und bat sie dazubleiben. Dann ging er zu seiner Frau und erzählte ihr davon. Sie war böse und sagte, es sei wohl ihre erste und zugleich letzte Bitte gewesen. Da er allein die Männer aufgenommen habe, möge er sehen, was daraus werde. Nun ging alles wie immer, bis die Hausfrau im Herbst mit ihrem Mann zum Abendmahl gehen wollte.

Damals war es Sitte, wie noch heute ab und zu auf Island, daß die, die das Abendmahl nehmen wollten, zu jedem im Hause gingen, ihn küßten und ihm Abbitte leisteten für etwaige Kränkungen.

Bis jetzt hatte die Hausfrau sich nie vor den Wintergästen sehen lassen, und so nahm sie auch keinen Abschied von ihnen. Der Bauer und seine Frau machten sich auf den Weg, und als sie eben aus dem Grasgarten heraus waren, da sagte der Bauer: »Du hast doch den Wintergästen auch Lebewohl gesagt?« Und als sie das verneinte, bat er sie, doch so etwas Gottloses nicht zu tun, davonzugehen ohne Lebewohl zu sagen. »Du scheinst mich wenig zu achten, wie du in allem zeigst, da du erst



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die Leute ohne meinen Willen aufnahmst und nun mich noch zwingst, sie zu küssen. Aber ich will dir gehorchen, du wirst es zu büßen haben, denn es geht um mein Leben und sicher auch um das deine.« Sie ging zurück, und als sie allzu lange drinnen blieb, ging der Bauer auch dorthin, wo er die Wintergäste vermutete, und dort fand er sie auch. Er sah den größeren der beiden Männer mit seiner Frau in zärtlichster Umarmung tot daliegen. Vor Gram war ihnen das Herz gebrochen. Der andere aber stand weinend über sie gebeugt. Als der Bauer hereinkam, verschwand er alsbald, und niemand wußte, was aus ihm geworden war. Es wußten aber nun alle aus der Geschichte, die die Hausfrau ihrer Schwiegermutter erzählt hatte, daß jener Größere der Huldrenmann gewesen war, der die Hausfrau auf der Alm kennengelernt hatte, und der Kleinere, Entschwundene ihr Sohn.


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