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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Sigrid, die Sonne des Inselfjords

In Mödrufell im Inselfjord wohnte einmal ein reiches Ehepaar, aber ihre Namen sind nicht bekannt. Sie hatten nur eine einzige Tochter mit Namen Sigrid. Sie war aller Frauen schönste, und man nannte sie deshalb die Sonne des Inselfjords. Sie war ebenso tugendhaft, wie sie schön war.

Als sie herangewachsen war, kamen viele Freier, gelehrte und ungelehrte, aber der Vater wies sie alle ab, auch dann, wenn sie gern einen davon genommen hätte.

Damals war es allgemeine Sitte, in der Christnacht zur Kirche zu gehen, aber nie wollte einer auf dem Gehöft allein daheim bleiben. Nun sprach man unter dem Gesinde auf Mödrufell davon, wer wohl am Weihnachtsabend zu Hause bleiben wolle. Da kam Sigrid gerade dazu und fragte, was sie ihr geben wollten, wenn sie dabliebe und dann alle andern zur Kirche gehen könnten. Alle waren der Meinung, daß, wenn sie nur irgend etwas besäßen, sie es ihr von Herzen gern gäben. Sie sagte aber gleich, das sei nur ein Scherz gewesen, sie wolle ja von niemandem etwas haben, wolle aber gern für sie zu Hause bleiben, wenn sie das wünschten. Die Leute meinten jedoch, ihr Vater werde es ihr nicht erlauben. Sie bat nun ihren Vater, aber dem Vater war's durchaus nicht recht und er fand es wunderlich, daß sie zu Hause bleiben und nicht wie sonst mit ihnen gehen wollte. Er sagte, es ahne ihm, daß ihr irgendein



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Unglück bevorstehe, da sie so großes Verlangen danach habe, zu Hause zu bleiben. Da sie aber gewiß sagte, ihr werde nichts geschehen, gab er ihr endlich nach und sagte den Dienstleuten, sie könnten gehen, da Sigrid daheim bleiben wolle. Die Leute waren froh darüber.

Als nun der Heilige Abend herankam, machten sich die Leute voller Freude fertig. Das Wetter war schön, die Erde schneefrei und gefroren, aber kein Mondschein. Als die Leute fertig waren, sagte der Bauer, sie möchten Sigrid Lebewohl sagen, er selbst wolle sich zuletzt von ihr verabschieden und das Haus gut verwahren, ehe er fortginge.

Sie begleitete nun die andern hinaus, und dann trennten sie sich. Ihr Vater sagte noch, sie dürfe heute nacht ja niemand hereinlassen, wenn das etwa versucht werden sollte. Auch dürfe sie zu niemandem hinausgehen und solle sich nicht darum kümmern, falls etwa geklopft oder nach ihr gerufen würde. Dann trennten sie sich, und er sagte, es würde niemand hineinkommen, wenn das Haus gut verschlossen bliebe.

Die Leute gingen nun fort, das Mädchen aber ging wieder hinein und zog sich an. Dann zündete sie ein Licht an, nahm ein Buch und setzte sich in die Schlafkammer der Eltern, um zu lesen. Bis Mitternacht ereignete sich nichts Besonderes. Da pochte es plötzlich an die Tür, aber das Mädchen blieb ganz still. Es klopfte noch einmal und ein drittes Mal und diesmal so stark, daß das Haus eingestürzt wäre, wäre es nicht so fest gebaut gewesen. Das Mädchen aber blieb noch immer still. Kurz danach hörte sie, wie jemand am Haus hinaufging und oben entlang bis an das Fenster über ihr. Es rief am Fenster und begrüßte sie. Sie dankte und sah durch das Fenster. Obwohl es draußen dunkel war, bemerkte sie doch das Gesicht eines Mannes, so schön, wie sie noch nie eines gesehen hatte. Er bat sie hinauszukommen. Aber sie sagte, das könne sie nicht und dürfe es nicht. Er bat sie noch mehr und nur für eine kleine Weile, aber sie sagte, das sei ganz gleich, sie käme nicht hinaus, und er solle am Fenster ihr sagen, was er zu sagen habe. Er meinte, das könne er nicht, und sie müsse ihm auch einen Trunk reichen. Sie sagte, er solle den Schöpfeimer draußen an der Wand nehmen und damit aus dem Bach trinken, der am Gehöft vorbeifließe, einen andern Trunk bekäme er nicht. Er sagte, klares Wasser könne er nicht trinken, und sie antwortete, dann könne sie ihm nicht helfen. Er meinte nun, wenn es sich so verhielte, müsse er sie unverrichteter Sache verlassen, aber das müsse er ihr noch sagen, daß einst die Zeit kommen werde, wo es ihr im tiefsten Herzen so heiß werden würde wie jetzt ihm. Sie sagte: »Das wird



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geschehen, wie es mir bestimmt ist.« Dann ging er fort, und sonst geschah in dieser Nacht nichts weiter.

Am Morgen kamen die Leute heim, und gleich nach der Begrüßung fragte sie der Vater, ob sie nichts erlebt habe in der Nacht. Sie sagte nein; er aber sagte, es sei gar nicht nötig, daß sie es sage, er sähe es ihr sowieso an, und drang heftig in sie, bis sie ihm alles erzählte. Er fragte sie, ob sie dem Fremdling aufgeschlossen habe, was sie verneinte. Er sagte, das sei recht so gewesen. Aber sie meinte, das wüßte sie noch nicht und es würde sich wohl erst später zeigen, ob es ihr Glück bringen würde, daß sie ihm folgsam gewesen sei. Und dann wurde davon nicht weiter gesprochen.

Beim nächsten Weihnachtsfest handelte es sich wieder darum, wer daheim bleiben solle. Sigrid sagte, sie sei auch diesmal dazu bereit, und demgemäß wurde beschlossen. Am Heiligen Abend war das Wetter wieder schön und dazu Mondschein. Da aber wurde plötzlich die Mutter krank und wollte nicht reisen, und Sigrid sagte, es würden nun mehr Leute daheim bleiben, als vorauszusehen war, denn auch der Vater würde jetzt kaum mitgehen. Die Leute rüsteten zum Kirchgang und brachen auf, aber Sigrid blieb mit ihren Eltern zurück. Der Bauer verschloß selbst das Haus und fing dann an zu lesen. Nahe um Mitternacht, wie er aufgehört hatte, klopfte es stark an die Türe. Sigrid fragte den Vater, ob sie an die Tür gehen solle. Er verbot es, er wolle selber den Ankömmlingen entgegengehen, denn ihn wollten sie zuerst und allein sprechen. Damit ging er hinaus und blieb so lange, daß Mutter und Tochter ängstlich wurden. Schließlich fragte Sigrid, ob sie nicht einmal nach dem Vater sehen solle. Aber die Mutter wollte das nicht, falls die bösen Geister den Vater geholt hätten, so würde es nicht besser, wenn sie nun auch die Tochter holten. Nach einer Weile wollte Sigrid nun doch hinaus, aber da kam der Bauer sehr aufgeregt herein. Er hieß Sigrid, sich so schnell wie möglich fertig zu machen, denn jetzt sei der gekommen, für den er sie schon lange bestimmt habe. Sie war vor Schrecken fast sprachlos und konnte nur fragen, wer das sei und wohin sie denn solle. Der Vater sagte, das würde sie später erfahren, jetzt solle sie sich beeilen, denn der Mann wolle nicht warten. Die Mutter fragte, was das alles zu bedeuten habe, wem er sie denn überliefere, und sagte, das sei etwas sonderbar von ihm. Aber der Bauer sagte, sie sollten sich nicht darum kümmern. Dann zog sie sich an, und der Vater hieß sie Abschied nehmen von der Mutter. Das tat sie auch, aber man kann sich



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denken, in welcher Stimmung sie schieden. Die Mutter sagte, sie habe immer auf ein besseres Los ihrer Tochter gehofft, aber nun schiene das nicht mehr möglich zu sein. Dann brachte der Bauer seine Tochter hinaus. Draußen sah sie auf dem Platz vor dem Hause drei Männer stehen, Trollen ähnlicher als menschlichen Wesen. Einer war besonders groß und häßlich und sah so boshaft aus, daß es Sigrid schauderte. Vier Pferde standen da, darunter Sigrids Reitpferd, und das war gesattelt. Da kam der Häßlichste auf sie zu und hob sie in den Sattel. Dann verabschiedeten sich die Männer von dem Bauern auf sehr höfliche Weise, besonders der eine, und Sigrid sagte ihm auch Lebewohl.

Dann ritten sie davon, voran der Häßlichste, und den hielt sie für den Freier. Zuerst ritten sie den Fjord entlang, dann auf die Berge, und nun wußte sie nicht mehr, wohin es ging. Sie sprachen nicht mit ihr und auch nicht untereinander. Das Mädchen wurde müde und wankte im Sattel. So ritten sie weiter, dreimal zwölf Stunden, wie sie meinte, und gegen Abend kamen sie auf einen schmalen Weg. Hier stiegen sie ab. Jener eine kam auf sie zu, riß sie aus dem Sattel und hieß sie kurz, bergab zu Fuße zu gehen. Sie führten die Pferde am Zügel, sie selbst ging hinterdrein, aber der Weg war so schmal, daß sie sich am Bein ihres Pferdes festhalten mußte, das zuletzt ging. Unten kamen sie in ein tiefes Tal. Sie stiegen wieder auf, und der Mann setzte sie auf grobe Art in den Sattel, ohne mit ihr zu reden. Sie ritten das Tal entlang; Gras wuchs da, und das Tal war blutrot bis zu den Spitzen der Felsen. Ein Fluß lief hindurch; nirgends war ein Werk von Menschenhand. Aber bei froher Stimmung hätte sie das Tal gewiß lieblich und schön gefunden. Schweigend ritten sie weiter, bis sie eine große Herde von Pferden sahen, in allen Farben und Lebensaltern.

Jener eine rief sie an und fragte sie, ob sie nicht den zum Manne haben möchte, dem dies alles gehöre. Sie sagte: »Besser ist Freude als Reichtum!« Dann ritten sie weiter, bis sie eine Ochsenherde sahen, ebenso groß und mit Tieren verschiedenen Alters. Er fragte sie wieder, und sie antwortete wieder das gleiche.

Dann trafen sie auf eine ungeheuer große Schafherde; es schienen ihr mehr zu sein als sämtliche Schafe aus dem Inselfjord zusammengenommen. Wieder fragte er sie, und wieder antwortete sie das gleiche. Nach einer Weile sahen sie ein großes prächtiges Gehöft, gut und fest gebaut, wie es ihr schien. Sonst sah sie weiter keine Höfe. Sie kamen auf einen weiten umzäunten Grasplatz mit einem Tor, und ein eingehegter Weg



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führte hindurch zu den Häusern. Der Grasgarten war glatt und mit vielen schönen Kräutern bewachsen.

Sie ritten bis auf den Platz vor den Häusern. Dort stand eine kleine hübsche Kirche, die ihr kostbarer schien als alles andere. Sie stiegen ab; jener hob sie aus dem Sattel und fragte sie: »Was wünschest du dir jetzt?« — »In die Kirche zu gehen«, sagte sie. Er sprach: »Da mußt du mit mir gehen!«Erzog den Schlüssel hervor, schloß die Kirche auf und hieß sie hineingehen und solange darinnen verweilen, wie sie wolle, dann solle sie auf den Hofplatz zurückkommen. Sie ging hinein bis zu dem hintersten Platz, setzte sich dort nieder, betete und schlief ein, und da träumte ihr, wie eine blaugekleidete Frau aus dem Estrich des Chores zu ihr träte; die ging bis an die Chortür und sprach: »Da bist du also auch da, Sigrid, du Sonne des Inselfjords. Dein Vater hat dich nicht umsonst solange zurückbehalten. Dieser Mann hat schon zwei Frauen gehabt, ich bin die zweite, und er hat uns beiden den Tod bereitet. Das hängt aber so zusammen. Hier sind drei Brüder, die stehen alle unter einem Zauberbann. Am ersten Abend, als wir schlafen gehen wollten, legte er uns einige Fragen vor, und als wir sie nicht beantworten konnten, da durchbohrte er uns. Aber jetzt weiß ich, was wir hätten antworten müssen, und dir will ich es sagen, weil ich dir ein längeres Zusammenleben mit ihm wünsche, als uns vergönnt war.«

Sie sprach ihr nun die Fragen dreimal vor, ließ sie sie wiederholen und sich ganz genau einprägen. Sie müsse jede Frage beantworten, sobald er sie gestellt habe, und dürfe sich nicht fürchten, auch wenn es ihr scheine, seine häßlichste Gestalt angenommen zu haben. Es war ihr im Traum, als wiederhole sie dreimal die vorgesprochenen Worte. Dann wachte sie auf, und da schien ihr die Frau zu verschwinden. Die Worte wußte sie noch und sagte sie sich immer wieder leise vor. Dann ging sie hinaus auf den Hof. Ein schönes Mädchen stand in der Haustür, grüßte Sigrid und führte sie hinein. Sie sagte, sie sei die Schwester der drei Brüder, und unterhielt sie freundlich und heiter. Sie führte sie durch das ganze Haus von oben bis unten, und Sigrid war erstaunt über die Ordnung und Pracht überall. Es zeigte sich ein großer Reichtum in allen Dingen, aber außer den Brüdern und der Schwester war kein Mensch zu sehen.

Ein halber Monat verging; da sagte ihr die Schwester, nun sei der Hochzeitstag nahe, aber Sigrid war darüber wenig erfreut. Die Vorbereitungen wurden mit großer Pracht getroffen. Als der Tag herangekommen



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war, erschien ein Pfarrer mit einigen andern Leuten. Das Paar wurde zusammengegeben und ein Festmahl gehalten, und es fehlte an nichts, weder an Wein noch allem übrigen. Nach dem Festmahl machten sich die Gäste möglichst schnell von dannen; aber die Brüder waren derart betrunken, daß sie besinnungslos waren und sich wie die schlimmsten Trolle aufführten. Neben der Wohnstube war noch eine kleine Kammer, in dieser blieben sie in ihrem betrunkenen Zustande und durchschwärmten die ganze Nacht. Dann sagte die Schwester zu Sigrid, sie solle nun zu Bett gehen, und führte sie in ein kleines Seitengemach, das dem Brautpaar zur Schlafkammer bestimmt und sehr prächtig war. Darin waren sie nun beide mit sehr traurigem Sinn. Das Mädchen sagte zu Sigrid, sie solle sich niederlegen, er werde gleich kommen. Sigrid tat wie ihr geheißen. Kurz danach verließen die Brüder die kleine Kammer und gingen zu ihren Schlafstellen, der Bräutigam kam zu Sigrid hinein, setzte sich auf die Bettkante und sah sehr böse aus. Er legte ihr nun die Fragen vor, und zugleich schien er unten am Bettrande etwas zu suchen. Aber so wie er die Fragen stellte, hatte sie sie auch schon richtig beantwortet, wie sie von jener Frau belehrt worden war. Da stürzte er ohnmächtig zu Boden, und es war auf einmal der schönste Mann aus ihm geworden. Ebenso geschah es auch mit seinen Brüdern. Und nun kamen viele Leute herbei, um den Brüdern zu helfen. Sigrid aber sah die Heirat nun viel freundlicher an, denn der Mann kam ihr so schön vor wie jener, der damals in der Weihnachtsnacht an ihrem Fenster stand. Als er wieder zur Besinnung gekommen war, gingen sie schlafen, und die drei Brüder waren fortan freundliche und gute Menschen, und die Eheleute liebten sich sehr.

Am andern Morgen ging Sigrid ins Freie und schaute sich um. Da erblickte sie Gehöfte und Menschen zu beiden Seiten des Tales, und auch auf ihrem eigenen Gehöft waren viele Männer und Frauen. Nun war Sigrid wohlversorgt; sie hatte alles in Menge und durfte schalten und walten nach Herzenslust, denn ihr Mann war sehr gut zu ihr.

Nach einem Jahre bekamen sie eine Tochter, die auch wieder Sigrid hieß. Das Mädchen wurde ganz das Ebenbild der Mutter. Die Leute des Tales reisten jeden Sommer nach einem Handelsplatz alle zusammen und blieben immer drei Wochen fort. Einmal riet Sigrids Mann ihr, doch zum Vergnügen mitzureisen. Aber das wollte sie nicht wegen des Kindes, das sie kürzlich bekommen hatte. Nun reiste der Mann allein, und als er heimkam, brachte er seiner Frau einen Brief von ihrem



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Vater mit, der schrieb darin, daß die Mutter gestorben sei, und sie solle ihre Erbschaft aus dem Inselfjord holen. Als aber ihr Mann nächsten Sommer wieder hinreiste, schickte sie ihrem Vater einen Brief mit, er solle das Erbe unter die armen Leute des Inselfjords verteilen, denn sie sei reich genug.

Im dritten Sommer, als das kleine Mädchen drei Jahr alt war, mußte eines Tages Heu gebunden werden bei schönem Wetter draußen auf der Wiese. Alle waren draußen, nur Sigrid mit dem Kind war daheim. Da pochte es an die Tür. Sie ging hin mit dem Kinde und erblickte einen schönen Mann in vornehmer Kleidung mit einem schönen gesattelten Pferd. Er trat heran, grüßte und bat um einen Trunk. Sie grüßte freundlich wieder, ging hinein, holte Milch und gab sie ihm. Er trank und gab ihr das Gefäß zurück. Sie ging wieder hinein, um es nochmals zu füllen. Wie sie aber wieder herauskam, war er mitsamt dem Kinde spurlos verschwunden, das zum Spielen draußen geblieben war. Da erschrak sie und verwunderte sich, daß sie ihn auch in der Ferne nicht mehr sehen konnte und er so unglaublich schnell verschwunden war. Sie suchte überall und rief nach dem Kinde, aber das half ihr nichts. Da kam ein Knecht mit einem Zug heubeladener Pferde heim. Sie befahl ihm, schleunigst das Heu abzuladen, auf dem schnellsten Pferde zu ihrem Manne zu reiten und ihm zu sagen, ihr Leben hinge davon ab, daß sie ihn so bald wie möglich spreche. Das tat der Knecht. Der Bauer kam sogleich heim und erfuhr von Sigrid alles. Er war sehr betrübt, aber er beherrschte sich um seines Weibes willen. Er rief alle Leute vom Heu weg und die übrigen Talbewohner, um suchen zu helfen. Drei Tage suchten sie umsonst nach allen Richtungen. Sigrid wurde krank und legte sich und alle glaubten, daß sie sterben würde. Ihr Mann tröstete sie, so gut er konnte. Aber erst nach einem halben Jahr stand sie wieder auf, blieb aber immerfort traurig und blaß.

Nun verging die Zeit, und oft lud er sie ein, mit ihm an den Handelsplatz zu reisen, aber sie sagte immer, das mache ihr kein Vergnügen. Zwölf Jahre vergingen, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Einmal nun wieder im Sommer rüsteten sich die Brüder gerade zur Abreise, da sprach Sigrid davon, daß sie auch etwas Lust verspüre mitzureisen und daß dies etwas bedeuten müsse. Der Bauer ging freudig darauf ein, denn erhoffte, nun werde sie ihren Verlust überwinden. Sie bekam das allerbeste Pferd, und so brachen sie auf. Es wird nun von dieser Reise weiter nichts erzählt, als daß sie eines Abends ankamen



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und in der Nähe des Ortes abluden. Am andern Morgen lud der Mann Sigrid ein, mit ihm zu einem Kaufmannsladen zu gehen, weil es dort viel zu sehen gäbe. Es gäbe hier wohl viele Kaufleute, aber er handle immer nur mit dem einen. Auf dem Wege überraschte sie aber ein so heftiger Regenschauer, daß sie in ein Haus treten mußten. Darinnen saß ein Kaufmann und war gerade beim Schreiben. Sie begrüßten einander, und außer dem Kaufmann war niemand in der Stube. Er bat nun den Kaufmann, er möge seiner Frau erlauben, hier drinnen zu sitzen, bis das Wetter vorüber sei. Der Kaufmann hieß sie willkommen, stellte einen Stuhl an das andere Tischende und bat sie, sich zu setzen. Der Bergbewohner ging wieder hinaus, und Sigrid blieb zurück.

Der Kaufmann saß und schrieb. Er sprach nicht mit Sigrid, allein sie merkte doch, wie er sie von Zeit zu Zeit ansah. Es kam ihr so vor, als habe sie sein Gesicht schon irgendwann einmal gesehen. Endlich fing der Kaufmann an mit ihr zu sprechen und fragte sie, ob sie schon früher einmal in der Handelsstadt gewesen sei. Sie sagte nein. Er wunderte sich sehr darüber, daß sie ihren Mann niemals begleitet hätte, und sagte, ihr Mann sei ihm wohlbekannt. Da sagte sie, sie habe niemals Lust verspürt zu der Reise, die ihr sonst wohl erlaubt worden sei, außer jetzt zum erstenmal. Er meinte, es sei sehr gut, daß sie diesmal mitgekommen sei; dabei hörte er auf zu schreiben und fragte, ob sie denn kein Kind hätten, sie und ihr Mann. Sie verneinte das und wurde ganz blaß. Als er das sah, lächelte er und meinte, er glaube nicht, daß sie da die Wahrheit sage. Sie sagte, er möge glauben, was er wolle, ein Kind aber besäßen sie nicht. Er meinte, da sei er reicher als sie, denn er habe ein junges Mädchen, und das wolle er ihr zur Kurzweil jetzt zeigen.

Er stand auf, ging in eine Kammer hinter der Stube und kam alsbald mit einem Mädchen zurück, das, wie Sigrid meinte, so ungefähr fünfzehn bis sechzehn Jahre alt war. Sie grüßte es und sah, daß es schön und blühend und prächtig gekleidet war. Der Kaufmann sagte, dies sei das Mädchen, das er gemeint habe. Sigrid konnte sich nicht sattsehen an ihr und betrachtete sie genau. Der Kaufmann hatte sich wieder hingesetzt und sah, wie sie wiederum ganz blaß geworden war. Da fragte er Sigrid, ob sie nicht aus dem Inselfjord stamme. Das bejahte sie. Und ob sie nicht in Mödrufell gewohnt habe? Sie bejahte auch das, ihre Eltern hätten da gewohnt. Ob sie sich nicht erinnere, daß sie in einer Weihnacht allein zu Hause geblieben sei? Sie sagte, sie erinnere sich. Ob sie sich auch erinnere, daß ein Mann am Fenster mit ihr gesprochen



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habe? Sie sagte, auch daran erinnere sie sich. Ob sie noch wisse, was sie damals zusammen gesprochen hätten? Sie bejahte auch das. Ob sie nicht finde, daß es nun so gekommen sei, wie ihr jener Mann beim Abschied gesagt habe? Sie sagte, gewiß fände sie, daß es nun so gekommen sei. Da sagte der Kaufmann, jetzt könne er sich nicht länger vor ihr verstecken, und sprach: »Ich bin nämlich eben jener Mann, der mit dir gesprochen hat, und ich gestehe, daß ich dich entführt hätte, wenn du mir damals geöffnet hättest. Aber das mißglückte, und da wuchs in mir die Lust, Unheil zu stiften, und da habe ich das Verschwinden deiner Tochter bewerkstelligt. Das war vor zwölf Jahren, als sie drei Jahre alt war. Sie ist es, die ich hier bei mir habe, und ich habe sie wie meine eigene Tochter gehalten. Sie hat alle weiblichen Kunstfertigkeiten erlernt und ist so gut wie möglich unterrichtet worden. Aber ich habe das Mädchen deshalb zu mir genommen, weil ich ein Abbild von dir selber haben wollte, so sehr liebte ich dich. Nun habe ich dir alles gestanden und nun hängt es von dir oder von euch Eheleuten ab, ob mir mein Plan gelingt. Gewiß wirst du mit Recht zornig auf mich sein, trotzdem erbitte ich von euch das Mädchen zu meiner Frau.«

Sigrid sagte, sicherlich hätte sie ihre Tochter nicht so gut ausbilden lassen können, aber sie könne allein über die Heirat keine Entscheidung treffen. Der Kaufmann meinte, wegen ihres Mannes sei er keineswegs in Sorge, denn sie beide seien gute Bekannte. Da kam ein Knecht herein, und Sigrid befahl ihm, ihren Mann zu holen, sie habe mit ihm zu sprechen. Der kam alsbald, Sigrid erzählte ihm alles, und es herrschte nun große Freude. Der Kaufmann warb bei den Eltern um das Mädchen und sagte, dieses selber sei ihm wohlgeneigt. So kam es zur Verlobung, und der Kaufmann sagte, das Mädchen könne nun vorerst drei Jahre bei den Eltern verbringen. Er wolle sie nicht heiraten, bevor sie achtzehn Jahre alt sei. Aber das Mädchen wollte sich auch nicht einen Tag von dem Manne trennen, so sehr liebte sie ihn. Und die Eltern waren nun auch beruhigt, denn sie wußten sie ja nun gut aufgehoben. Nach drei Jahren reisten sie wieder in die Handelsstadt, und da feierte der Kaufmann seine Hochzeit mit großer Pracht. Sie wurden ein glückliches Paar und lebten lange und froh miteinander. Sigrid aber reiste jetzt jedes Jahr mit in die Handelsstadt, um da ihre Tochter zu besuchen. Auch sie lebte mit ihrem Manne bis in ihr hohes Alter in dem Tale. Und so schließen wir die Geschichte von Sigrid, der Sonne des Inselfjord.


Copyright: arpa, 2015.

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