Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Lini, der Königssohn

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche. Er hieß Ring, aber wie sie hieß, wird nicht erwähnt. Sie hatten einen Sohn, der Lini hieß. Früh schon schien er mächtig und ein großer Kämpe. Außerdem wird erzählt, daß da ein alter Mann mit seinem alten Weibe in einer schlechten Hütte lebte; sie hatten eine Tochter, die Signy hieß.

Eines Tages ging der Königssohn mit den Hofleuten seines Vaters auf die Jagd. Wie sie abends wieder heimwollen, fiel ein dichter Nebel, und die Hofleute verloren den Königssohn. Sie suchten ihn lange, fanden ihn nicht, kehrten ohne ihn heim und erzählten die Sache dem König in der Halle. Der war sehr betrübt und ließ viele Leute suchen, drei Tage hindurch, aber immer vergebens. Da wurde er vor Kummer so krank, daß er sich zu Bett legte. Auch ließ er verkündigen, wer ihm den Sohn wiederbringe, bekäme das halbe Königreich. Davon hörte auch Signy; sie ließ sich von ihren Eltern Proviant und neue Schuhe geben und machte sich auf den Weg.

Nach mehreren Tagen kam sie zu einer Höhle, darin sie zwei Betten fand, das eine hatte eine silberdurchwirkte, das andere eine golddurchwirkte Decke. Dann entdeckte sie, daß der Königssohn in dem Bett mit der golddurchwirkten Decke lag. Sie wollte ihn wecken, aber es gelang ihr nicht. Einige Runen waren in das Bettgestell geritzt, aber sie konnte sie nicht lesen.

Da versteckte sie sich am Eingang hinter der Tür. Nun ward auch schon von draußen ein starkes Dröhnen laut, und zwei ungeheure Riesinnen kamen herein. Die eine von ihnen sagte sogleich: »Pfui, Teufel, hier ist Menschengeruch.« Die andere sagte, das käme von dem Königssohn. Dann gingen sie an dessen Bett und sagten:

»Singet, singet, mein Schwäne,
Daß Lini erwache!«



Bd-06-148_Maerchen von Island Flip arpa



***
Da sangen die Schwäne, und Lini erwachte. Die jüngere Riesin fragte ihn, ob er essen wolle. Er sagte nein. Dann fragte sie ihn, ob er sie nicht zum Weibe haben wolle. Er sagte standhaft nein. Da schrie sie auf und sagte:
»Singet, singet, meine Schwäne,
Daß Lini einschlafe!«

Die Schwäne sangen, und er schlief ein. Dann legten sie sich selbst in das Bett mit der Silberdecke. Am Morgen weckten sie Lini und boten ihm Speise an; er aber wollte keine. Darauf fragte ihn die jüngere, ob er sie nicht haben wolle; aber er verneinte das wie vorher. Da schläferten sie ihn wieder ein und verließen die Höhle.

Als sie ein Weilchen weg waren, kam Signy aus ihrem Versteck und weckte den Königssohn, so wie sie es von den Riesinnen gelernt hatte. Sie begrüßten sich freundlich, und er fragte sie nach Neuigkeiten. Signy erzählte ihm alles und auch von dem Schmerz seines Vaters um ihn. Dann fragte sie, was denn mit ihm geschehen sei. Er sagte, kurz nach der Trennung von dem Hofgesinde seien zwei Riesinnen gekommen und hätten ihn in ihre Höhle geschleppt. Die eine hätte ihn zwingen wollen, sie zu heiraten, wie sie ja wisse; er aber habe es immer verweigert. »Nun sollst du«, sagte Signy, »wenn die Riesin dich heute abend wieder fragt, ob du sie haben willst, dein Jawort geben unter der Bedingung, daß sie dir sagen, was auf den Betten steht und was sie den Tag über treiben.« Das dünkte dem Königssohn nicht schlecht; dann brachte er ein Brettspiel, und sie spielten Schach bis zum Abend. Als es dunkel wurde, schläferte sie ihn ein und ging wieder in ihr Versteck.

Kurz danach hörte sie die Riesinnen kommen, sie zündeten ein Feuer an, die ältere machte das Essen, die jüngere ging zum Bette, weckte Lini und fragte ihn, ob er essen wolle. Er sagte ja. Als er mit Essen fertig war, fragte sie ihn, ob er sie nicht haben wolle. Er sagte ja, falls sie ihm sage, was die Runen auf dem Bette bedeuten. Sie sagte, es stände darauf:

»Renne, renne, mein Bett,
Renne, wohin man will.«


***
Er war froh darüber, sagte aber, sie müsse ihm noch sagen, was sie tagsüber im Walde trieben. Sie jagten Wild und Vögel, sagte sie, und zwischendrin setzten sie sich unter eine Eiche und spielten Ball mit ihrem



Bd-06-149_Maerchen von Island Flip arpa

Lebensei. Er fragte, ob das etwas sei, womit man vorsichtig umgehen müsse. Sie sagte, das Ei dürfe nicht zerbrochen werden, sonst müßten sie beide sterben. Der Königssohn gab sich damit zufrieden, sagte aber, nun wolle er noch bis morgen ruhen. Die Riesin war damit einverstanden und schläferte ihn wieder ein. Am Morgen weckte sie ihn zum Essen, und er nahm es an. Auch fragte sie ihn, ob er heute nicht mit ihnen in den Wald hinauskommen wolle. Er sagte, er bliebe lieber daheim. Dann nahm die Riesin von ihm Abschied, schläferte ihn ein, und hierauf verließen sie beide die Höhle.

Nach einer Weile trat Signy zum Bette, weckte den Königssohn und bat ihn, aufzustehen. »Wir werden jetzt«, sagte sie, »in den Wald hinausgehen, dahin, wo die Riesinnen sind. Du sollst deinen Spieß mitnehmen, und sobald sie mit ihrem Lebensei Ball spielen, sollst du den Spieß nach dem Ei werfen. Aber dein Leben hängt davon ab, daß du es triffst.«Dem Königssohn schien das nicht schlecht geraten; sie stiegen nun beide zusammen in das Bett und sprachen:

»Renne, renne, mein Bettchen,
Hinaus in den Wald.«


***
Da rannte das Bett mit ihnen davon in den Wald und machte erst an der Eiche halt. Da hörten sie lautes Lachen. Signy hieß ihn nun auf die Eiche klettern, und er tat das auch. Da sah er die beiden Riesinnen unter der Eiche sitzen und Ball spielen mit einem goldenen Ei, das sie einander zuwarfen. Er warf seinen Spieß und traf das Ei im Flug, daß es zerbrach. Da sanken die Riesinnen tot um, und Geifer trat ihen aus dem Munde.

Sie fuhren nun mit dem Bett in die Höhle, beluden beide Betten mit den Kostbarkeiten der Riesinnen, fuhren auf ihnen heim zur Hütte der Alten, wo sie wohl empfangen wurden, und blieben die Nacht. Am Morgen ging Signy zum König und verlangte die ausgesetzte Belohnung. Der König bezweifelte stark, daß die Häuslerstochter seinen Sohn gefunden habe, sagte aber die Belohnung schließlich zu. Da holte Signy den Königssohn. Der König war froh, ließ sich alles erzählen, gab dem Sohne das Mädchen zur Frau und rüstete ein großes Hochzeitsmahl. Lini und Signy aber lebten lange zusammen und liebten einander sehr.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt