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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Graumann

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche und ein alter Mann mit seinem alten Weibe in ihrer Hütte. Der König war sehr reich an Vieh, aber an Kindern hatte er nur eine einzige Tochter und diese wohnte mit ihren Mägden in einem schönen Frauenhaus. Der alte Mann war sehr arm; Kinder hatte er keine, und er bezog den Lebensunterhalt für sich und seine Alte nur von einer einzigen Kuh, die sie



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besaßen. Einmal ging der alte Mann wie öfter in die Kirche, da sprach der Pfarrer gerade von der Mildherzigkeit und ihren guten Folgen. Als er aus der Kirche heimkam, fragte ihn sein Weib, was er Schönes in der Predigt gelernt habe. Der Alte war sehr heiter gestimmt und sagte, es sei gut gewesen, heute dem Pfarrer zuzuhören, denn er habe gesagt, daß dem, der gäbe, tausendfältig wiedergegeben werde. Die Alte meinte, das sei wohl nicht so ganz wörtlich zu nehmen und der Mann habe den Pfarrer wohl nicht ganz richtig verstanden. Der Alte blieb fest bei seiner Sache, und sie stritten sich eine Stunde lang, aber jedes blieb bei seiner Meinung.

Am Tage darauf mietete der Alte eine Menge Arbeiter und baute einen Stall für tausend Kühe. Die Alte erboste sich mächtig über seine Dummheit, wie sie es nannte, konnte es aber nicht hindern. Als der Stall fertig war, überlegte der Alte, wem er seine Kuh geben solle. Er wußte zwar keinen, der so reich war, daß er ihm hätte tausend Kühe wiedergeben können, außer dem König, aber zu dem zu gehen, konnte er sich nicht entschließen. So beschloß er, zum Pfarrer zu gehen; er wußte, daß der Pfarrer reich war, und dachte, daß der wohl am wenigsten seine eigenen Worte zuschanden werden ließe. Er machte sich nun mit seinem Vieh zum Pfarrer auf den Weg, wie sehr die Alte sich auch widersetzte.

Er kam also zum Pfarrer und gab ihm die Kuh. Der Pfarrer wunderte sich und fragte, was das bedeuten solle. Der Alte erklärte ihm alles; da wurde der Pfarrer wütend, schalt ihn aus, daß er die Predigt so falsch verstanden habe, und trieb ihn wieder heim mit seiner Kuh. Der Alte nahm seine Kuh und ihm schien die Reise übel ausgegangen. Da erhob sich ein rabenschwarzes Unwetter von Norden und Frost. Er konnte nichts mehr sehen und glaubte, er würde die Kuh bald verlieren, um selbst heil davonzukommen. Und wie er so nachdenklich stand in seinem Unglück, begegnete ihm ein Mann mit einem großen Sack auf dem Rücken. Der fragte ihn, wie es käme, daß er bei solchem Wetter mit seiner Kuh unterwegs sei. Der Alte erzählte ihm alles. Jener meinte, es sei sicher, daß er noch seine Kuh verliere, unsicher, ob er nicht auch noch selber umkomme. »Und es ist deshalb besser, mein Lieber, du gibst mir die Kuh für den Sack, den ich trage. Mit dem kommst du noch leidlich vorwärts, und es ist Fleisch und Bein darin.«

Ob sie nun länger oder kürzer darüber redeten, schließlich wurden sie handelseinig. Der Mann verschwand mit der Kuh, und der Alte machte



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sich mit dem Sack davon, der ihm schwer vorkam. Daheim sagte er der Alten, wie's mit der Kuh gegangen sei, und tat gar wichtig mit dem Sacke. Die Alte war außer sich, aber er bat sie, schnell einen Topf mit Wasser aufzusetzen. Sie nahm den größten, den sie hatte, und füllte ihn mit Wasser. Als es siedete, wollte der Alte den Sack öffnen, es lebte und bewegte sich in dem Sack, und wie er ihn öffnete, sprang da ein lebendiger Mann heraus, ganz grau vom Wirbel bis zur Zeh. Der sagte, wenn sie etwa sieden wollten, sollten sie etwas anderes dazu nehmen als ihn.

Der Alte war ganz verdutzt, die Alte schimpfte und sagte, soweit sei's nun gekommen mit seiner Dummheit. »Zuerst bringst du uns um unsern einzigen Lebensunterhalt«, sagte sie, »und dann bringst du noch einen fremden Menschen mit, den wir füttern sollen.« So zankten sie sich noch eine gute Weile, bis der Graue sagte, das führe zu nichts, er wolle hinausgehen und sehen, ob er nicht etwas für sie alle zum Essen finde. Und schon war er hinaus in der Finsternis, schon aber kam er wieder herein mit einem alten feisten Hammel, hieß ihn schlachten und zubereiten. Sie waren zuerst etwas bedenklich dabei, denn sie wußten natürlich, daß der Hammel gestohlen war. Schließlich aber gingen sie doch darauf ein, und sie lebten nun fröhlich in der Hütte, bis der Hammel zu Ende war, dann holte der Graue einen anderen, einen dritten, einen vierten, einen fünften. Es schien nun den Alten nicht schlecht, daß sie den Grauen zu Gast bekommen hatten, und sie lebten in Überfluß von Schaffleisch.

Nun geht die Geschichte wieder zurück an den Königshof. Der Hirt des Königs merkte, daß ihm ab und zu ein Stück aus der Herde abhanden kam. Er konnte sich das gar nicht erklären, und beim fünften Schafe meldete er's dem Könige und sagte, es müsse ein Dieb in der Nachbarschaft sein. Der König forschte nach, ob irgendein Neuankömmling in der Gegend sei, und erfuhr schließlich von dem Fremdling bei den beiden Alten, den niemand kenne. Er schickte einen Boten zu ihm, er solle an den Königshof kommen. Der Graue ging auch gleich mit, aber die Alten waren zu Tode erschrocken. Sie glaubten, er würde als Dieb gehängt und sie ihres Ernährers beraubt werden.

Als der Graue in den Königshof kam, fragte ihn der König, ob er es sei, der ihm seine fünf alten fehlenden Schafe gestohlen habe. Der Graue sagte: »Ja, Herr, das habe ich getan!« Der König fragte, warum er das getan habe. Da sagte der Graue: »Wegen der beiden Alten da draußen, die nichts zu essen haben; aber du, König, hast's im Überfluß,



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mehr als du brauchst oder selber essen kannst. Und es schien mir nun nicht unbillig, daß die Alten etwas von dem bekämen, was du gar nicht brauchst und im Überfluß hast.« Der König war sehr erstaunt und fragte, ob denn das seine einzige und beste Kunst sei zu stehlen. Der Graue ließ sich wenig darüber aus. Da sagte der König, er würde ihm die Strafe erlassen, wenn er ihm morgen seinen fünfjährigen Ochsen stehlen könne, den er mit seinen Leuten hinaus in den Wald zu schicken gedenke. Aber wenn er das nicht könne, so würde er gehängt. Der Graue sagte, das würde wohl unmöglich sein, denn der König würde den Ochsen gut bewachen lassen. Da müsse er selbst zusehen, sagte der König.

Nun ging der Graue heim, und die Alten empfingen ihn wohl. Er sagte dem Alten, er solle ihm einen Strick beschaffen, da er ihn morgen früh brauche. Das tat der Alte, und dann schliefen sie in der Nacht. Früh am Morgen stand der Graue auf, nahm den Strick und ging fort. Er ging hinaus in den Wald, wo er wußte, daß die Leute mit dem Ochsen vorüberkommen müßten. Er stieg auf eine große Eiche dicht am Wege, machte sich den Strick um den Hals und hing sich an die Eiche. Kurz danach kamen die Königsleute mit dem Ochsen. Sie sahen den Grauen an der Eiche hängen und meinten, er habe auch wohl noch andere Leute bestohlen als nur den König allein; diese hätten ihn da gehängt und er würde es nun wohl bleiben lassen, ihnen den Ochsen zu stehlen. Sie setzten ihren Weg bald fort, und als sie verschwunden waren, ließ sich der Graue herab, überholte die Königsleute auf einem kürzeren Waldpfad und hing sich von neuem an einer Eiche dicht am Wege auf. Als die Königsleute ihn sahen, waren sie über die Maßen verblüfft und meinten, hier sei Zauberei im Spiele. »Gibt es denn zwei so verfluchte Graue?« sagten sie. »Das wäre jetzt ein Spaß, hier Bescheid zu wissen. Laufen wir schnell zurück und sehen wir, ob das derselbe ist!«

Sie banden ihren Ochsen an die Eiche und kehrten um. Schnell stieg der Graue herab, band den Ochsen los, führte ihn schleunigst nach der Hütte, hieß die Alten den Ochsen schlachten, ihm die Haut ganz abziehen und aus dem Talg Kerzen gießen. Da war nun die Hütte voller Lust und Freude. Die Königsleute aber fanden natürlich den Grauen an der ersten Eiche nicht mehr, und wie sie wieder zur zweiten kamen, da war auch dort der Graue mitsamt dem Ochsen verschwunden. Da merkten sie, daß sie übertölpelt waren, fuhren heim und erzählten es dem König. Dieser ließ ihn allsogleich holen; die Alten waren zu Tode erschrocken,



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sie meinten, nun würde er unverzüglich gehängt werden. Aber der Graue war guten Mutes und ging sogleich mit.

Der König sagte: »Hast du meinen Ochsen gestohlen?« »Ja, Herr«, sagte er, »um mein Leben zu retten.« — »Ich will dir auch das verzeihen«, sagte der König, »wenn du heut nacht mir und meiner Königin die Bettüchter unterm Leibe wegstehlen kannst.« —»Das kann keiner«, sagte der Graue, »wie soll man in den Königshof kommen und dann dies tun?« — »Da siehe du zu«, sagte der König.

Als der Graue heimkam, meinten die Alten, er sei von den Toten auferstanden, und begrüßten ihn froh. Er nahm einige Töpfe voll Mehl und hieß die Alte einen dicken Grützebrei kochen. Der Graue tat ihn in eine kleine Schüssel und bedeckte sie, damit er nicht auskühle. Dann schlich er sich damit zum Königshof, kam auch unbemerkt gegen Abend hinein und versteckte sich in einem dunklen Winkel. Dann ward der Königshof fest verschlossen, damit der Graue nicht hineinkäme. Als der Graue nun merkte, daß sie alle fest schliefen, auch der König und die Königin, ging er leise in ihre Schlafkammer, deckte sie von den Füßen bis zur Mitte auf und ließ die Grütze vorsichtig zwischen sie beide tröpfeln. Dann ging er schnell wieder in sein Versteck.

Die Königin erwachte, als sie den warmen Brei fühlte. Sie ward böse, weckte den König und sagte: »Was ist denn das? Du hast ja ins Bett gemacht, mein Liebster!«Der König wollte das nicht zugeben, bezichtigte seinerseits die Königin, und so stritten sie eine Zeitlang. Schließlich nahmen sie die Bettücher und warfen sie mit allem, was darin war, auf den Estrich. Dann schliefen sie wieder ein. Der Graue nahm die Bettücher, wickelte sie zusammen, trug sie zu den Alten in die Hütte, gab sie ihnen, ließ sie von der Grütze reinigen und für ihr eigenes Bett benutzen.

Am Morgen sahen der König und die Königin, daß ihre Bettücher verschwunden waren. Der König dachte nun sogleich an den Grauen und ließ ihn holen. Und nun wußten die beiden Alten genau, daß er ganz bestimmt gehängt werden würde, und nahmen schmerzlichen Abschied von ihm. Der Graue ging wohlgemut in den Hof, und der König fragte: »Hast du heute nacht mir und meiner Königin die Bettücher unter dem Leibe weggestohlen?« —»Ja, Herr, um mein Leben zu retten.« —»Ich will dir alles verzeihen, wenn du heute nacht uns beide, mich und meine Königin selber, aus unserm Bette stiehlst. Wenn du das nicht kannst, wirst du ohne Gnade gehängt.« —»Das kann keiner«,



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sagte der Graue. »Da siehe du zu«, sagte der König. Dann trennten sie sich, und daheim empfingen die beiden Alten ihren Grauen, als ob er wirklich von den Toten wieder auferstanden sei.

Am Abend, als es dunkel war, nahm der Graue einen großen, hohen, breitkrämpigen Hut, der dem Alten gehörte, machte viele Löcher hinein und steckte da hinein die Kerzen aus Ochsentaig. Auch an sich selber brachte er von oben bis unten viele Kerzen an. Dann setzte er den Hut auf, nahm den Ochsen Haig und ging in die Kirche des Königshof es. Hier legte er den Balg vor dem Altar nieder, zündete alle Kerzen an und begann die Glocken zu läuten. Der König und die Königin wachten von dem ungewöhnlichen Läuten auf und blickten zum Fenster hinaus, um zu sehen, was los sei. Da sahen sie eine leuchtende Gestalt an der Kirchentür stehen, die strahlte nach allen Seiten. Sie waren erstaunt über dieses Gesicht und meinten nicht anders, als ein Engel sei vom Himmel gekommen, auf die Erde eine Botschaft zu bringen. Man müsse einen solchen Gast ehrfürchtig empfangen, sagten sie und ihn um Barmherzigkeit bitten. Sie zogen schnell ihre königlichen Kleider an und gingen hinaus zu dem Engel. Sie fielen vor ihm auf die Knie und baten ihn um Gnade und um Vergebung ihrer Sünden. Er aber sagte, er würde ihre Bitte nirgends erhören, es sei denn drinnen in der Kirche vor dem Altar.

Als sie nun dem Engel dorthin gefolgt waren, sagte er, es würden ihnen ihre Sünden vergeben, aber nur unter einer Bedingung. Sie fragten, welche Bedingung das sei. Er sagte: diese, daß sie beide in den Balg kriechen müßten, der dort am Altar liege. Das dünkte sie weiter nicht schlimm, und so krochen sie beide in den Balg hinein. Aber sie waren kaum drin, da band der Engel oben den Balg fest zusammen. Der König fragte, was das bedeuten solle. Da sagte der Engel und schüttelte dabei alle Lichter ab: »Ich bin kein Engel, mein König«, und schleifte den Baig schleunigst über den Kirchenestrich, »sondern ich bin dein guter Bekannter, der Graue aus der Hütte da draußen. Da habe ich nun dich mitsamt deiner Königin gestohlen, wie du es mir gestern abend befohlen hast, und du sollst auch deine Sündenvergebung haben, indem ich euch beide erschlage, außer du erfüllst mir meine einzige Bitte und schwörst mir einen Eid darauf, bevor ich euch wieder herauslasse.« Der König konnte nichts anderes tun als alles versprechen, was der Graue wollte, und er beschwor ihm die Erfüllung jeder Bitte. Da ließ der Graue die beiden frei und sagte dem König, er bitte ihn um seine Tochter



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und das halbe Königreich und um die Erlaubnis, die beiden Alten zu sich zu nehmen. Der König gab alles zu.

Dann ging der Graue zu den Alten und war nun nicht wenig stolz auf sich selbst, er hieß sie sich etwas herausstaffieren, denn sie sollten nun in eine andere Wohnung. Die Alten staunten mächtig, als sie das hörten und als der Graue erzählte, wie sich das alles verhielt. Andern Tags nahm er sie mit sich in den Königshof, und sie wurden gut aufgenommen. Er bekam die Königstochter und das halbe Reich dazu. Aber beim Hochzeitsmahl teilte der Graue zur Unterhaltung mit, daß er der Sohn des Nachbarkönigs sei. Er habe von dem Plane des armen Häuslers gehört und sei dann mit dem Pfarrer des Königs übereingekommen, dessen Worte nach dem Glauben des Alten in Erfüllung gehen zu lassen. Und damit könne der Alte nun wohl zufrieden sein.

Der Graue lebte lange und glücklich mit seiner Königin. Nach dem Tode des Königs erbte er das ganze Reich, und er regierte es klug und weise bis in sein Alter. Aber die Alten lebten noch bei ihm bis zu ihrem Tode in allem Überfluß. Und damit schließt die Geschichte vom Grauen.


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