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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


1. Die Ureltern der Welt und die primitive Amazonenmythe

Im Anfange lebten die Menschen nicht über der Erde. Es gab überhaupt nur einen Mann und eine Frau und die lebten unter der Erde. Diese beiden Menschen waren die ersten und einzigen und sie wußten nicht, daß von ihnen jeder ein anderes Geschlecht hatte. Eines Tages waren sie an ihrem Brunnen und wollten Wasser trinken. Der Mann sagte: "Laß mich trinken." Die Frau sagte: "Nein, ich werde zuerst Wasser nehmen, ich bin die erste." Der Mann wollte die Frau beiseite stoßen. Die Frau aber schlug ihn. Beide schlugen sich. Der Mann schlug die Frau so, daß sie hinfiel. Ihre Kleider fielen zur Seite. Ihre Schenkel wurden nackt.

Der Mann sah die Frau nackt vor sich liegen. Er sah, daß sie anders beschaffen war als er. Er sah, daß sie eine Tachschunt (d. i. eine Vagina von Mädchen, die Vagina der Frau heißt achtschun) hatte. Er fühlte, daß er einen Thäbuscht (der Penis junger Männer, der Penis älterer Männer heißt äbusch) hatte. Er betrachtete die Tachschunt und sagte: "Wozu ist das ?" Er steckte den Finger hinein und die Frau sagte: "Das ist gut." Der Mann fühlte seinen Thäbuscht wachsen. Er beschlief die Frau. Er blieb acht Tage lang mit der Frau liegen, dann erhob er sich erst.

Nach neun Monaten gebar die Frau vier Töchter. Wieder nach neun Monaten gebar die Frau vier Söhne. Wieder nach neun Monaten gebar die Frau vier Töchter. Wieder nach neun Monaten gebar die Frau vier Söhne. So ward es weiter, bis der Mann und die Frau zuletzt fünfzig Töchter und fünfzig Söhne hatten. Der Vater und die Mutter wußten aber nichts mit den Kindern anzufangen. Die Eltern sandten ihre Kinder fort.

Die fünfzig Mädchen zogen zusammen nach Norden fort. Die fünfzig Burschen zogen zusammen nach Osten fort. Nachdem die Mädchen einige Jahre lang unter der Erde nach Norden hingezogen waren, sahen sie über sich ein Licht. Es war hier ein Loch in der Erde. Die Mädchen sahen über sich den Himmel, die Mädchen riefen:

"Was sollen wir hier unter der Erde bleiben, sollen wir nicht zur Erde hinaufsteigen, da man dort oben den Himmel sehen kann?" Die Mädchen stiegen darauf durch das Loch zur Erde hinauf.

Die fünfzig Burschen zogen auch einige Jahre lang in ihrer Richtung unter der Erde hin und kamen dann an eine Stelle, an der auch ein Loch in der Erde war und sie über sich den Himmel sehen konnten. Die Burschen sahen den Himmel und sagten: "Was sollen



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wir unter der Erde bleiben, wo es doch eine Stelle gibt, von der aus man den Himmel sehen kann ?" Die Burschen stiegen also durch ihr Loch zur Erde hinauf.

Die fünfzig Mädchen zogen nun auf ihrem Wege über die Erde hin und die fünfzig Burschen zogen auf ihrem Wege über die Erde. Sie wußten aber nichts voneinander.

Damals sprachen noch alle Bäume und Kräuter und Steine. Die fünfzig Mädchen sahen die Kräuter und fragten sie: "Wer hat euch gemacht?" Die Kräuter sagten: "Die Erde hat uns gemacht (hervorgebracht)." Die Mädchen fragten die Erde: "Wer hat dich gemacht ?" Die Erde sagte: "Ich bin wie ihr vorhanden." Des Nachts sahen die Mädchen den Mond und die Sterne und sie riefen: "Wer hat dich gemacht, daß du so hoch über uns und allen Bäumen stehst? Bist du es, der uns Helligkeit gibt? Wer seid ihr kleinen und großen Sterne? Wer hat euch großen und kleinen Sterne gemacht? Oder seid ihr es etwa, die alles andere gemacht haben?" Alle Mädchen riefen und schrien. Aber der Mond und die Sterne waren so hoch; sie konnten nicht antworten. Alle fünfzig Mädchen schrien und riefen.

Die Burschen waren auf ihrer Wanderung in eine Gegend gekommen, die dem Ort der fünfzig Mädchen so nahe war, daß sie aus der Entfernung das Schreien der Mädchen hörten. Sie sagten zueinander: "Dies sind noch andere von unserer Art, wir wollen sehen, wie sie sind. Wir wollen zu den anderen ziehen." Die fünfzig Burschen machten sich auf den Weg. Sie zogen in der Richtung, aus der sie die Rufe der Mädchen gehört hatten.

Als sie aber ganz nahe dorthin gekommen waren, kamen sie an das Ufer eines großen Flusses. Der Fluß lag zwischen den fünfzig Mädchen und den fünfzig Burschen. Die Burschen hatten aber vorher noch keinen Fluß gesehen und riefen. Die Burschen riefen. Die Mädchen hörten aus der Entfernung die Rufe und kamen den Burschen entgegen. Die Mädchen kamen an das andere Ufer des Flusses. Sie sahen drüben die fünfzig Burschen stehen und riefen: "Wer seid ihr? Was schreit ihr? Seid ihr auch Menschen?" Die fünfzig Burschen riefen: "Wir sind auch Menschen. Wir sind aus der Erde hervorgekommen. Was schreit ihr aber?" Die fünfzig Mädchen sagten: "Wir sind auch Menschen und aus der Erde hervorgekommen. Wir schrien und fragten den Mond und die Sterne, wer sie gemacht hat oder ob sie alles gemacht haben ?"

Die fünfzig Burschen fragten den Fluß: "Du bist nicht wie wir,



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wir können nicht auf dir gehen und dich nicht greifen, wie man über die Erde gehen kann. Was bist du? Wie kann man über dich hinweg auf die andere Seite kommen?" Der Fluß sagte: "Ich bin das Wasser. Ich bin da zum Baden und Waschen. Ich bin da als Getränk. Wenn ihr auf mein anderes Ufer kommen wollt, geht nach weiter oben, wo ich ganz seicht bin, da könnt ihr mich überschreiten." Die fünfzig Burschen gingen den Fluß hinauf. Sie fanden eine Stelle, die war seicht. Sie gingen auf das andere Ufer des Flusses.

Die fünfzig Burschen wollten nun zu den fünfzig Mädchen. Die fünfzig Mädchen sagten: "Kommt nicht so dicht heran. Wir leiden es nicht. Geht ihr dort drüben. Wir bleiben hier (d. h. in einiger Entfernung). Diese Steppe lassen wir zwischen uns." Die fünfzig Mädchen und die fünfzig Burschen zogen so in einiger Entfernung nebeneinander her. Sie kamen aber nicht zusammen.

Auf ihrem Wege kamen die fünfzig Burschen eines Tages an eine Quelle. Die fünfzig Mädchen kamen auch an eine Quelle. Die Burschen sagten: "Hat der Fluß uns nicht gesagt, daß das Wasser da wäre zum Baden? Kommt, wir wollen baden." Die fünfzig Burschen begannen ihre Kleider abzulegen und stiegen in das Wasser und badeten sich. Die fünfzig Mädchen saßen um die Quelle und sahen von dort aus auf die Burschen. Ein keckes Mädchen sagte: "Kommt mit mir, wir wollen sehen, was die anderen Menschen machen." Zwei andere Mädchen sagten: "Wir gehen mit."Alle anderen sagten: "Nein, wir gehen nicht mit."

Die drei Mädchen schlichen sich zwischen den Büschen zu den Burschen hinüber. Zwei von ihnen blieben unterwegs zurück. Nur das kecke Mädchen kam im Schutz der Büsche ganz dicht zu den Burschen heran. Das Mädchen sah durch die Büsche die Burschen, die die Kleider abgelegt hatten. Die Burschen waren nackt. Das Mädchen sah alle Burschen an. Das Mädchen sah, daß die Burschen nicht so beschaffen waren wie sie. Das Mädchen sah alles ganz genau an. Als die Burschen sich wieder anzogen, schlich das Mädchen sich zurück. Die fünfzig Burschen hatten es nicht gesehen.

Das Mädchen kam zu den andern Mädchen zurück. Die andern Mädchen kamen dicht zusammen und sagten: "Was hast du gesehen ?" Das kecke Mädchen sagte: "Kommt, wir wollen auch baden, dann werde ich es euch sagen und zeigen." Die fünfzig Mädchen kleideten sich auch aus. Sie stiegen an ihrer Quelle in das Wasser. Das kecke Mädchen sagte: "Die Menschen dort sind anders



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beschaffen als wir. Wo wir die Brüste haben, da haben sie nichts. Wo wir die Tachschunt haben, haben sie etwas andres. Auf dem Kopfe haben sie nicht lange Haare wie wir, sondern kurze. Wenn man sie nackt sieht, schlägt das Herz stark, und man möchte sie umarmen. Wenn man sie nackt gesehen hat, kann man es nicht mehr vergessen." Die andern Mädchen sagten: "Du lügst." Die Kecke sagte: "Geht selbst hin und seht, wie es ist. Ihr werdet dann verrückt werden, wie ich es geworden bin." Die andern Mädchen sagten: "Wir wollen weiter gehen."

Die fünfzig Mädchen zogen auf ihrem Wege weiter. Die fünfzig Burschen zogen auf ihrem Wege weiter. Die Burschen zogen aber langsam weiter. Die Mädchen dagegen zogen schneller weiter und machten einen Bogen und kamen so in den Weg der Burschen. Sie lagerten nun ganz dicht nebeneinander.

An dem Tage, an dem die fünfzig Burschen ganz dicht bei den fünfzig Mädchen lagerten, sagten die Burschen: "Wir wollen nicht mehr im Freien unter dem Himmel schlafen. Wir wollen uns Häuser bauen." Einige Burschen begannen sich Löcher in der Erde zu machen. Sie schliefen in den Löchern in der Erde. Andre machten sich Gänge und Kammern unter der Erde und schliefen darin. Einige Burschen aber sagten: "Was macht ihr? Um Häuser zu bauen, grabt ihr die Erde auf? Gibt es hier herum nicht genug Steine, die man aufeinander schichten kann?"

Diese Burschen legten Steine aufeinander, die sie zusammentrugen. Sie ließen nur eine Lücke in den Wänden, um hinein- und hinauszugehen. Als sie die Wände gebaut hatten, ging einer der Burschen hin und begann einen Baum zu fällen. Der Baum aber schrie und sagte: "Was, du willst mich umschlagen? Was unternimmst du? Bist du etwa älter als ich? Was nimmst du dir heraus ?" Der Bursche sagte: "Ich bin nicht älter als du. Ich will mir auch nichts anmaßen. Ich will nur fünfzig von euch Bäumen umschlagen. Eure Stämme will ich auf mein Haus als Dach legen und dann zudecken. Eure Zweige werde ich dann aber in den Schutz meiner Häuser legen, so daß sie nicht mehr naß werden." Der Baum sagte: "Das ist mir recht." Der Bursche schlug dann fünfzig Bäume. Er legte die Stämme auf sein Haus und deckte sie mit Schilf und Erde zu. Die Zweige aber zerschlug er und speicherte sie im Hause auf. Einige große Bäume stellte er jedoch in der Mitte auf, so daß sie das Dach trugen. Als die andern sahen, wie schön das Haus war, machten sie es ebenso. Es war aber unter den Burschen ein wilder



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(ihebill), wie auch unter den Mädchen ein wildes (thehebill) war. Dieser wilde Bursche wollte nicht in einem Hause wohnen. Er baute sich kein Haus wie die andern, sondern schlich sich zwischen den Häusern der andern umher und suchte jemand zu fangen und ihn zu verschlingen. Denn er war so wild, daß er nur daran dachte, andere zu töten und zu fressen.

In einiger Entfernung lagerten die fünfzig Mädchen. Die Mädchen sahen aus der Ferne, wie die fünfzig Burschen sich erst Löcher und Gänge gruben. Sie sahen dann, wie die fünfzig Burschen ihre Häuser bauten. Die fünfzig Mädchen sagten untereinander: "Was machen die andern Menschen? Was machen sie mit den Steinen? Was machen sie mit den Bäumen?" Das kecke Mädchen sagte: "Ich werde wieder hingehen. Ich werde mich wieder hinschleichen und sehen, was die andern Menschen machen. Ich habe sie einmal nackt gesehen und will sie wiedersehen."

Das kecke Mädchen schlich sich zwischen den Büschen dahin zu den Häusern der Burschen. Das Mädchen kam ganz dicht zu den Häusern. Das Mädchen schlich sich in ein Haus hinein. Es war niemand darin. Das Mädchen sah, wie schön das Haus war. Das Mädchen sah sich im Hause um. Draußen kam aber gerade der Wilde (ihebill) vorbei. Er roch das Mädchen. Er brüllte. Das Mädchen erschrak und schrie. Das Mädchen lief aus dem Hause und so schnell sie konnte davon, in der Richtung auf den Platz, wo die Mädchen lagerten.

Alle Burschen hatten den Schrei des Mädchens gehört. Alle Burschen sprangen auf und liefen hinter dem Mädchen her. Das Mädchen lief durch den Busch und schrie. Die andern Mädchen hörten das Schreien. Die Mädchen sprangen auf und liefen dem kecken Mädchen entgegen, um ihm zu helfen. Im Busch stießen die fünfzig Mädchen und die fünfzig Burschen aufeinander. Es trafen immer ein Bursche und ein Mädchen zusammen. Die Mädchen und die Burschen schlugen sich. Es waren immer zwei, die sich im Gebüsch trafen, ein Mädchen und ein Bursche. Auch das wilde Mädchen und der wilde Bursche trafen aufeinander.

Es war im Gebüsch, und sie konnten einander nicht sehen. Es sahen sich überall immer nur das Mädchen und der Bursche, die einander getroffen hatten. Die fünfzig Mädchen waren sehr stark. Die fünfzig Mädchen warfen die fünfzig Burschen auf die Erde. Die fünfzig Mädchen lagen über den Burschen. Die fünfzig Mädchen sagten bei sich: "Nun will ich doch sehen, ob die Kecke gelogen



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hat oder nicht." Die Mädchen griffen den Burschen zwischen die Schenkel. Sie fanden bei den Burschen den Thäbuscht. Als sie ihn berührten, schwoll der Thäbuscht der Burschen, und die Burschen lagen ganz still. Als die Mädchen den Thäbuscht der Burschen berührten, schwoll ihnen das Herz. Die fünfzig Mädchen schlugen ihre eigenen Kleider beiseite und schoben den Thäbuscht in ihre Tachschunt. Die Burschen lagen ganz still. Die fünfzig Mädchen beschliefen die fünfzig Burschen. Die fünfzig Burschen wurden darauf noch toller als die fünfzig Mädchen.

Jeder Bursche nahm ein Mädchen und ging mit ihm in sein Haus. Sie heirateten einander. Im Hause sagten die Burschen: "Es ist aber nicht recht, daß die Frau auf dem Manne liegt. Wir wollen in Zukunft den Beischlaf so vollziehen, daß wir Männer auf den Frauen liegen. So werden wir die Herren werden." In Zukunft beschliefen sie also einander in der Weise, in der es die Männer und die Frauen der Kabylen heute noch meist tun*.

Die Burschen wurden nun noch toller wie die Mädchen. Sie lebten alle sehr zufrieden untereinander. Nur der Wilde und die Wilde, die kein Haus hatten, zogen zwischen ihnen umher und suchten den einen oder andern zu verschlingen. Die andern jagten sie deshalb überall aus ihrer Nähe, und wenn sie sie trafen, mißhandelten sie den Wilden und die Wilde.. Der Wilde und die Wilde sagten zuletzt zueinander: "Sind wir nicht anders als diese Menschen? Werden wir nicht überall von ihnen mißhandelt? Ist es nicht besser, wir gehen den andern aus dem Wege? Wollen wir nicht zusammen in das Holz (den Wald) gehen?" Der Wilde und die Wilde machten sich auf den Weg. Sie zogen in den Wald. Sie kamen in Zukunft aus dem Walde und raubten Kinder, die sie fraßen. Die Wilde wurde so zur ersten Teriel, der Wilde aber wurde der erste Löwe. Beide nährten sich von Menschen, die sie fraßen.

Die andern Frauen und Männer waren froh, daß sie von den Menschenfressenden befreit waren. Sie lebten sehr glücklich miteinander. Ihre Nahrung bestand, nur aus Kräutern, die sie pflückten.


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