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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Die Volksdichtung als Ausdruck von Kultur und Geschichte

Rein äußerlich und flüchtig betrachtet, sind die Kabylen ein phantasiearmes, ein materialistisches Volk. Sie scheinen so besitzgierig, so ergeben den Tagesbedürfnissen, daß wohl niemand hinter ihrem Gesicht des Tages ein anderes, ein feineres, ein innerliches, ein Gesicht der Nacht ahnen wird, es sei denn, daß ihm das sehr Schwere gelänge - nämlich mit ihm eine wahre, innerliche Freundschaft zu schließen. Ich meine, dieser mein erster Eindruck muß wohl allgemein sein, denn in der reichen Literatur über die Kabylen habe ich von ihrem feineren Nachtgesicht nichts gefunden. Wohl sind hier und da einige Erzählungen abgedruckt, aber nur jene, denen die Kabylen selbst keinen besonderen Sinnwert mehr beilegen. Und ich muß es sagen, daß sich unter all den vielen Völkern, mit deren Volksdichtung ich mich beschäftigt habe, keines mir so lange verschlossen blieb wie die Kabylen, —aber auch keines, dessen Herz und Mund einmal eröffnet, so reichen und unerwarteten Segen gespendet hat. Ich gehe so weit zu sagen, daß mir unter allem in Afrika bekannt Gewordenen das, was ich kabylischer Volksdichtung entnehmen konnte, nach den Ritterepen aus Faraka an erster Stelle beachtenswert erscheint. Die große Männlichkeit, die weite Sinnführung der Farakaepen fehlt. Aber die Variabilität der Stoffe, die natürliche Lebendigkeit, die Kunst im Erzählen, der naiv-kunstvolle Innenbau, die Dimension der Schöpfungsaufgabe, die Wahrheit und Klugheit der Lebensbildung und der Witz der Dichtung sind oft so erschütternd, so bedeutend, daß ich nicht anstehe, den Kabylen unter den doch im Fabulieren geschickten Afrikanern die erste Stelle einzuräumen.

Die Kunst zu erzählen ist in der Kabylie noch lebendig, aber -wie wohl überall - im Niedergang begriffen. In alten Zeiten unterschied man ganz genau die Erzählung (wenn auch ausgeschmückt), ein Erlebnis, eine Fabel, ein Märchen, die Legende, Lebensbilder und die Mythen. Heute ist das vielfach verwischt. Die Namen für die einzelnen Erzählungsarten sind teils vergessen, teils durch arabische ersetzt, anderenteils auch verwechselt, und ich kann wohl



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Zur Frühlingszeit maskierte Berberknaben in El Maiz Nach Originalphotographie von L. F.



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sagen, daß es mehr Mühe gemacht hat, die generellen Namen zu erkunden, als seltene Stücke aufzutreiben. Ich will es versuchen, die alten Arten aufzuzählen, betone aber, daß ich für die Richtigkeit der Namen nicht vollkommene Gewähr leisten kann.

Da ist zunächst das Tämaschahuts (in anderem Dialekte auch tamaschahuts; Plur.: timuschuha oder temaschuha), das ist ein Märchen. Das Tämaschahuts ist nicht rein profaner Natur; früher durfte man es nur abends oder nachts erzählen. Erzählte man es auch bei Tage, so fielen einem die Haare aus. Nicht alle Tämaschahuts waren gleichwertig. Die alten Kabylen wußten, daß man manche von den Arabern erlernt habe, konnten aber nicht mehr genau sagen, welche. Im dritten Bande dieser Werke, in dem die eigentlichen Tämaschahuts Aufnahme gefunden haben, werde ich auf den Punkt näher eingehen. Alte Leute versicherten mir, daß man die älteren von den jüngeren unterscheiden könne, da die alten Märchen in stereotyper Weise eingeleitet wurden mit den Worten: "maschachu" = "hört"! und dann begonnen wurde mit einem: "l'län" d. h. soviel wie "es war einmal". — Leider ist diese Einleitung aber auch bei alten Märchen nicht mehr üblich.

Als eine besondere Gattung der Märchen galten früher die Thahadjis. Diesen Namen fand ich nur zweimal. Die Gattung war die der Wuarssen- und Terielgeschichten, der Riesen- und der Hexenmärchen, die ich im zweiten Bande zusammengefaßt habe.

Eine Art für sich waren die eigentlichen Fabeln, für die ich zwei Namen erhielt: akulath (Plur.: thirkulain) und thakthät l(i) uhausch (Plur.: thikthithin eaden aphulousch). Das sind harmlose Erzählungen, die man zu jeder Tageszeit unterhaltungsweise wie auch beispiels- und gleichnisweise vorträgt oder einflicht.

Hochinteressant ist nun eine Art von Erzählungen, deren ursprünglicher Name themhai (Plur.: themhajen) oder tamajeth (Plur.: thimauja) heute zum Teil nur noch spezialisiert, zum Teil falsch, dem Sinne gemäß aber nie mehr voll umfassend angewandt wird. Unter Themhai versteht man heute ein Scherzrätsel, etwas Witziges, auch wohl etwas Pikantes, und damit wurde die scherzhafte Form, in der man den tiefen Sinn barg, mit dem Namen belehnt, der in einer vergangenen Zeit dem Sinn zukam. Denn Themhai war früher Lebensklugheit, Weisheit, gehüllt in lebendige Beispiele. Man verstand darunter etwas, was man sinnvoll vortrug, etwa als Lehren oder Einführung in das Leben auf den Männerversammlungsplätzen, das Narrentum und das Spiel des Lebens, das Tragische



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wie das (im tieferen Sinne genannte) Humoristische, das alles war früher Themhai.

Ferner gab es ausgeschmückte Erzählungen wirklicher Geschehnisse, das waren die Thachkajen eaden aphkarun (Sing.: thach kaith eaden), d. h. nach dem Gedächtnis erzählte wahre Geschichten. Früher soll eine besondere Kunst der Verbindung von geschickter Tatsachenschilderung und entsprechender Ausschmückung bestanden haben. Ich habe davon nichts Wesentliches bemerken und auftreiben können. Ihre Erzähler (= um isauelen) sind wohl ausgestorben. Sie wurden ersetzt durch die Hamda (Sing.: imdahen [?).

Dann gibt es noch etwas, dessen Entdeckung mich ebenso mit frommem Schauer erfüllte wie meine Berichterstatter. Das sind die Leuhe-dennia, die Mythen der Schöpfungsgeschichte, —uralte Weisheit, über deren ursprüngliche Beziehung zu den monumentalen prähistorischen Felsbildern ich schon oben sprach. Die Leuhedennia, die Mythen von der Entstehung der Welt, sind natürlich tiefes Geheimnis und meine alten Erzähler baten mich immer wieder, sie niemals den Arabern mitzuteilen. Es gibt für die Erzählung der Mythe verschiedene Vorschriften. Zunächst sollen Erzähler wie Zuhörer einige Weizenkörner auf die Zunge legen. Der Vortrag darf nur nachts, nie in der Nähe einer Frau, möglichst außerhalb des Gehöftes stattfinden. Vor dem Beginn der Erzählung soll in der ersten Nacht ein Hahn, nach der Beendigung in der vierten Nacht (länger darf nicht davon gesprochen werden) eine Ziege oder ein kleiner Hammel geopfert werden. Beachtet man diese Vorschrift nicht, so stirbt die ganze Familie des Vortragenden, nur er selbst bleibt am Leben.

Der Inhalt der Schöpfungsmythologie ist nicht einheitlich. Schon das, was mir von den zugehörigen Stücken einzuheimsen gelang, zeitigt eine große Fülle von Gedanken und Vorstellungen. Ich bin aber weit davon entfernt zu glauben, daß das Gewonnene vollständig ist. Aber dies Gewonnene ist schon so wesentlich und gedankenreich, daß zum mindesten die so gut wie verschütteten Grundlagen dieser uralten Weltanschauung damit als wiederaufgedeckt gelten können. Daß meine Alten mir noch etwas Wesentliches, ihnen Bekanntes verschwiegen hätten, ist nicht anzunehmen. Denn wir sprachen sehr offen miteinander, — sie fühlten sich so frei, daß sie mir z. B. sagten, daß die Bezeichnung Leuhe-dennia nicht der alte Name der Schöpfungsmythe sei. Sie baten mich, diesen alten Namen



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verschweigen zu dürfen; und da sie sich mehr davor fürchteten, mir den heiligen Namen zu nennen, als den Inhalt zu berichten, habe ich natürlich nicht weiter in sie gedrungen. Nun aber sollen die alten Legenden selbst sprechen! Der ungemeine Reichtum und dennoch Einheit des Stiles werden zeigen, wieso ich die Kultur der Kabylen als zusammengedrängtes Berbertum bezeichne.

Was den Leser und gleichzeitigen Kenner wirklicher Volksdichtung am meisten in Erstaunen setzen wird, sind neben der verblüffenden Tatsache einer hier am Rande des Mittelmeeres noch erhaltenen kosmogonischen Mythe der Libyer (vgl. Diodor) die aus dem Leben gegriffenen tiefen Weisheiten. Immer wieder (so in Aini Nr. 30 und in Djeha Nr. 36) gelangt der Mensch zu der Erkenntnis, daß er mit der ursprünglichen Natürlichkeit der intellektuellen Kunstfertigkeit der Welt nicht gewachsen ist. Der Kabyle kennt die einfache Güte der Nichtstuenden und vom Schicksal zu Höherem als nur durch bienenmäßigen Fleiß erreichbar Bestimmten und feiert den zauberhaften Reiz der Intuition durch tiefpoetische Darstellung. (So M'hemd Lascheischis Flöte Nr. 55.) Das Leben ist ihm ein Spiel der Anlagen, aber eine humorvolle Tragödie. Die Form der kabylischen Volksdichtung ist bald zierlich (Die trauernde Laus Nr. 47), bald schauerlich (Das Grauen Nr. 54), stets aber schlicht und selbstverständlich.

Die kabylische Volksdichtung ist im wahren Sinne primitiv, zeigt aber eine so unendlich reiche Ausgestaltung der Primitivität, daß wir ganz offensichtlich hier einem dem Schöpfungsstadium noch sehr nahen Kräftespiel gegenüberstehen.


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