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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Der Küster von Myrka

Es war einmal ein Küster zu Myrka im Eyjafjord. Wie er hieß, weiß man nicht, nur daß er eine Liebste hatte, die Gudrun hieß, die war Dienstmagd in ihrem Heimatort Bägisa, jenseits des Hörgbaches, bei dem Pfarrer daselbst, und außerdem ein graumähniges Pferd, das er immer ritt, und das Faxi hieß. Nun geschah es einmal kurz vor Weihnachten, daß der Küster nach Bägisa ritt, um Gudrun zum Weihnachtsfeste nach Myrka einzuladen. Er hatte ihr versprochen, sie zur bestimmten Zeit abzuholen und sie zu dem Fest am Abend vor Weihnachten zu begleiten. Aber in den Tagen vorher, ehe der Küster hingeritten war, hatte es viel Schnee und Eis gegeben, an seinem Reisetage aber war Tauwetter, der Fluß schwoll an, führte Treibeis und war unpassierbar. Der Küster dachte nicht an diese Dinge, ritt über den Ynadalsbach auf einer Brücke, konnte aber über den Hörgbach nicht



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hinüber und ritt an diesem entlang bis nach Saurhof, wo die nächste Brücke war. Wie er aber mitten auf der Brücke war, brach sie und er fiel in den Fluß.

Als der Bauer von Thufnavellir am nächsten Morgen aufstand, sah er ein Pferd mit Reitzeug am Grasgarten stehen, und es war ihm, als ob das der Faxi des Küsters von Myrka wäre. Da er aber den Küster am Tage vorher hatte vorbeireiten sehen, erschrak er und ahnte bald, was geschehen sein mußte. Er ging hinaus, Faxi war ganz naß, und an der Landspitze fand er auch die angetriebene Leiche des Küsters. Am Hinterkopf war er von einer Eisscholle schwer verletzt. Er wurde nach Myrka gebracht und noch in der Vorweihnachtswoche begraben. Nach Bägisa war in der ganzen Zeit wegen des Hochwassers keine Nachricht gekommen, weil aber am Tag vor dem Fest besseres Wetter und in der Nacht das Wasser auch gesunken war, machte sich Gudrun doch Hoffnung auf die Reise. Gegen Abend fing sie an, sich fertigzumachen, und noch ehe sie damit zu Ende war, hörte sie jemanden an die Tür klopfen. Eine andere Magd ging zur Tür, sah aber niemanden draußen. Dabei war es weder hell noch dunkel, denn der Mond war hinter ziehenden Wolken, die ihn zuweilen freiließen.

Als das Mädchen wieder hereinkam und sagte, sie habe nichts gesehen, sagte Gudrun: »Es wird mir gegolten haben, ich will jetzt hinausgehen.« Sie war schon fertig bis auf den Mantel; den nahm sie und fuhr in den einen Ärmel, den andern warf sie sich über die Schulter und hielt ihn fest. Als sie hinauskam, sah sie Faxi vor der Tür stehen und einen Mann daneben, von dem sie meinte, es sei der Küster. Man weiß nicht, ob sie zusammen gesprochen haben, nur daß der Mann Gudrun aufs Pferd gehoben und sich selbst vor sie gesetzt hat. So sind sie eine Weile geritten, ohne miteinander zu sprechen. Sie kamen an den Hörgbach, da waren hohe Eisbänke am Rande, und wie das Pferd über diese Eisbank hineinsprang, lüpfte sich der Hut des Küsters hinten ein wenig, und Gudrun erblickte den verletzten Schädel. In diesem Augenblick wurde der Mond frei, und der Küster sprach:

»Mond der gleitet,
Tod der reitet.
Siehst du nicht den weißen Fleck
in meinem Nacken,
Garun, Garun?«



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Gudrun erschrak heftig und schwieg. Andere erzählen auch, Gudrun habe selber den Hut gelüpft und dabei den weißen Schädel gesehen; da habe sie gesagt: »Ich sehe nun, wie sich's verhält!« Weiter weiß man von ihren Gesprächen und ihrer Fahrt nichts, als daß sie schließlich nach Myrka kamen und vor der Seelenpforte vom Pferde stiegen. Da sagte der Küster:

»Warte nun hier, Garun, Garun,
daß ich führe Faxi, Faxi
weiter hin am Zaune, Zaune.«

Damit führte er das Pferd weg; sie aber schaute in den Kirchhof, erblickte dort ein offenes Grab und erschrak mächtig. Doch kam sie noch auf den Gedanken, den Glockenstrang zu ziehen. Da aber wurde sie von hinten ergriffen, und es war ihr Glück, daß sie nur den einen Mantelärmel hatte anziehen können, denn so heftig war der Griff, daß der Mantel an der Achselnaht des angezogenen Ärmels entzweiriß. Das war nun das Letzte, was sie von dem Küster sah, daß er sich mit dem Mantelfetzen, den er festhielt, von oben in das offene Grab stürzte und die Erde von beiden Seiten über ihn herabgefegt wurde.

Von Gudrun ist bekannt, daß sie in einemfort läutete, bis die Bauern von Myrka kamen und sie fanden. Denn sie war von alledem derart erschrocken, daß sie nicht wegzugehen wagte, noch aufzuhören zu läuten. Sie sah ein, daß sie es hier mit dem Gespenst des Küsters zu tun hatte, obwohl sie von seinem Tod noch nichts wußte. Nun aber erzählten ihr die Leute von Myrka die ganze Geschichte.

In derselben Nacht, als man zur Ruhe gegangen war und die Lichter gelöscht hatte, kam der Küster wieder, suchte Gudrun und bedrängte sie so gewaltig, daß die Leute wieder aufstehen mußten und keiner in dieser Nacht schlafen konnte. Noch einen halben Monat lang konnte sie nicht allein sein, jede Nacht mußte jemand bei ihr wachen. Man weiß sogar, daß der Pfarrer selbst auf ihrem Bettrand sitzen und im Gesangbuch lesen mußte. Dann aber wurde ein Zauberer westlich aus dem Skagafjord geholt. Der ließ oben am Grasgarten einen großen Stein ausgraben und ihn an die Giebelwand des Hauses wälzen. Am Abend, als es dunkelte, kam der Küster und wollte in das Haus hinein, aber der Zauberer erwischte ihn südlich von der Giebeiwand, drückte ihn mit starken Beschwörungen zu Boden und wälzte dann den Stein auf



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ihn. Dort soll der Küster noch heute liegen. Danach hörte der Spuk von Myrka auf, und Gudrun erholte sich wieder. Ein wenig später fuhr sie wieder heim nach Bägisa, aber die Leute sagen, daß sie nie wieder so geworden war wie zuvor.


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