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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Die kluge Finna

Ein Mann mit Namen Thrand war Richter. Seine Frau war gestorben, er selbst war alt geworden, aber sehr klug. Er hatte zwei Kinder, einen Sohn, der Sigurd hieß, und eine Tochter namens Finna. Diese war



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ebenso klug wie schön, und es ging das Gerede, daß sie mehr wisse als andere Leute. Einmal fuhr ihr Vater zum Thing, da sagte sie zu ihm: »Mir ahnt, Vater, daß jemand auf dieser Fahrt bei dir um mich werben wird, aber du sollst mich keinem versprechen, es hinge denn dein Leben davon ab.« Das versprach ihr der Vater und fuhr zum Thing. Dort baten nun viele vornehme Männer um Finna, aber er schlug es ihnen allen aus. Als das Thing zu Ende war, ritt Thrand der Richter wieder heim, aber da begegnete ihm eines Abends, als er allein und entfernt war von allen seinen Knechten, ein Mann auf einem schwarzen Pferde, der sehr gefährlich aussah. Er stieg ab, nahm Thrands Pferd am Zaum und sprach: »Sei gegrüßt, Richter Thrand!«Thrand erwiderte seinen Gruß und fragte, wie er hieße. Er nannte sich Geir und verlangte nichts andres als Finna zum Weibe. Thrand schlug es ihm ab. Da setzte ihm Geir sein Schwert auf die Brust und ließ ihm nur die Wahl zwischen der Einwilligung und dem augenblicklichen Tod. Da versprach ihm denn Thrand seine Tochter und sagte ihm, er solle nach einem halben Monat kommen, sie abzuholen; dann trennten sie sich.

Als Thrand heimkam, stand Finna draußen, begrüßte ihren Vater und sprach: »Ist es so, wie ich vermute, daß du mich einem Mann versprochen hast?« Er sagte, so sei es und sein Leben habe davon abgehangen. Sie sagte, sie ahne, daß sie werde keine große Freude davon haben. Zur bestimmten Zeit kam Geir, sie abzuholen. Er wurde gut aufgenommen, aber er sagte, er könne nicht lange verweilen, und hieß Finna, sich zum nächsten Morgen fertigzumachen. Sie tat so und nahm nichts als ihren Bruder Sigurd mit auf die Fahrt. Sie grüßten noch Thrand und ritten fort, bis sie zu einer Alm kamen, auf der Rinder grasten. Geir sagte, diese Rinder gehörten niemand anderem als ihm und ihr. Am andern Tag kamen sie zu einer Alm voll Schafen, und Geir sagte wieder, die gehörten niemand anderem als ihm und ihr. Am dritten Tag kamen sie zu einer Alm, die war voller Pferde, und zum drittenmal sagte Geir, sie gehörten niemand anderem als ihm und ihr. Dann ritten sie weiter den ganzen Tag. Am Abend kamen sie zu einem großen Gehöft. Da stieg Geir ab und hieß Finna mit ihm kommen und sagte, hier wäre sein Heim. Finna ward gut aufgenommen und nahm sich sogleich aller Dinge an. Geir kümmerte sich wenig um sie, aber sie achtete darauf nicht viel. Ihrem Bruder Sigurd erging es dort auch ganz gut.

Am Abend vor Weihnachten wollte nun Finna dem Geir den Kopf waschen lassen. Er wurde gesucht, aber man fand ihn nirgends. Nur seine



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Ziehmutter weinte sehr und sagte, schon seit langer Zeit sei er Weihnachten niemals daheim gewesen. Finna verbot nun den Leuten, nach ihm zu suchen, und sagte, er werde schon von selber wiederkommen, wenn seine Zeit gekommen sei. Sie rüstete das Festmahl wie gewöhnlich und achtete nicht auf Geirs Abwesenheit. Als aber nach dem Mahle das ganze Gesinde schlafen gegangen war, stand Finna auf und nahm ihren Bruder Sigurd mit sich. Sie gingen zur See, fanden ein Boot und ruderten zu einer nahen Insel. Sigurd wartete bei dem Boot, aber Finna ging an Land, bis sie zu einem kleinen, schönen Hause kam. Die Tür stand halb offen, ein Licht brannte im Hause und ein schönes Bett war darin. In diesem lag Geir, und er hielt eine fremde Frau im Arm. Finna setzte sich auf den Estrich neben dem Bett und sprach eine Weise, dann ging sie zurück zu ihrem Bruder, bat ihn, ans Land zu rudern und niemandem etwas zu sagen, wo sie gewesen waren. Als Weihnachten vorüber war, ging Finna eines Morgens in ihre eheliche Kammer. Sie fand Geir darin, der auf und ab ging, und in dem Bett lag ein Kind. Geir fragte, wem das Kind gehöre. Da sagte sie, es gehöre niemand anderem als ihr und ihm. Dann nahm sie das Kind und gab es der Ziehmutter Geirs zum Aufziehen. Dann verging das Jahr, aber zu Weihnachten ereignete sich alles genauso wie im Jahre zuvor, nur daß sich Finna auf einen Schemel vor dem Bette setzte, als sie ihre Weise sprach. Und als das dritte Mal zu Weihnachten alles wieder genauso kam wie in den Jahren zuvor und Sigurd mit Finna hinaus nach der Insel ruderte, da bat er sie, sie diesmal an Land begleiten zu dürfen, und sie erlaubte es ihm auch, aber verbot ihm, ein Wort zu reden. Sie bat ihn, draußen vor dem Hause zu warten, und ging hinein. Sie setzte sich auf den Bettpfosten und sprach folgende Weise:

»Hier sitze ich allein auf dem Pfosten,
die Stimmung der Freude ist von mir gewichen.
Getötet hat der kluge Gatte
den Sommer hindurch meine Freude.
Eine andere gewann den, den ich liebe.
Oft bricht die See über die Schiffsrollen.«

Da stand Geir auf und sprach: »Das soll auch nicht länger so dauern.« Aber die Frau, die bei ihm im Bette lag, fiel in Ohnmacht, da träufelte Finna Wein auf ihre Lippen, und als sie erwachte, war sie ein wunder-



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schönes Mädchen. Da sagte Geir zu Finna: »Nun hast du mich aus großen Nöten erlöst; denn das war nun das letzte Jahr, in dem ich erlöst werden konnte. Mein Vater war der König von Gardareich. Und als meine Mutter gestorben war, da hat mein Vater eine Fremde geheiratet. Sie lebten nur eine kurze Zeit zusammen, dann hat sie meinen Vater mit Gift getötet. Und da ich und diese meine Schwester hier, die Ingibjörg heißt, ihr nicht gehorchen wollten, verfluchte sie mich, daß ich mit meiner Schwester drei Kinder haben sollte. Und wenn ich nicht eine Frau bekäme, die von alldem wisse und doch dazu schwiege, so sollte ich zu einer Schlange und meine Schwester zu einem ungezähmten Füllen werden, das mit andern Stuten auf die Weide ginge. Aber jetzt hast du mich aus dieser Not erlöst, und ich will nun diese meine Schwester deinem Bruder Sigurd zum Weibe geben, und dazu will ich ihm das ganze Reich geben, das mein Vater besaß.«

Dann fuhren sie alle ans Land und zum Gehöfte des Geir. Es wurde aufs neue ein Mahl bereitet und zu Thrand, Finnas Vater, geschickt, und es wurde das Verlobungsbier Sigurds und Ingibjörgs getrunken. Dann fuhr Sigurd nach Gardareich und unterwarf es sich ganz. Geirs Stiefmutter wurde ergriffen, zwischen zwei Pferde gebunden und von ihnen in Stücke gerissen. Sigurd und Ingibjörg herrschten lange über Gardareich, aber Geir wurde Richter nach Thrand, und sie hatten Söhne und Töchter.


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