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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

Tiefer noch als in den Ländern Skandinaviens gelangen wir hier in germanische Urzeit. Das Wunderland Thule tritt uns ins Bewußtsein — und die Sagenwelt der Edda. Islandsaga!

Es ist bekannt, daß die kleine, fernabgelegene Insel im westlichen Norden Europas, von deren wenig über hunderttausend Quadratkilometern nur die knappere Hälfte bewohnbar sind und deren derzeitige Hauptstadt Reykjavik nicht einmal zweihunderttausend Einwohner zählt, ringsum von den Wassern des Atlantischen Ozeans umflossen wird. Unmittelbar südlich vom nördlichen Polarkreis liegt sie dreihundertdreißig Kilometer vom östlichen Grönland entfernt, und gut achthundert Kilometer sind es noch bis zum europäischen Festland. Das Weideland ist spärlich. Weithin ist vulkanischer Boden. Viele Tausende Krater zeugen von vergangenen Eruptionen. Ober Basaltstufen stürzen wilde Ströme und Flüsse zu den Tälern hinab. Riesige Wasserfälle machen das Passieren beschwerlich, und an weiten Strecken bricht das Hochland oft bis zu fünfhundert Meter hohen Wänden ab. Trotz der Nähe des Golfstromes ist es dort rauh und unwirtlich. Ackerbau wird heute nur noch selten betrieben. Die Bevölkerung lebt meist vom Fischfang, von Schafherden und Pferdezucht. Kraftomnibusse regeln den Verkehr - Eisenbahn gibt es nicht, doch besteht ein geregelter Flugverkehr.

Nordländer mischten sich in frühen Zeiten bereits mit Kelten und Ansiedlern aus anderen skandinavischen Stämmen - vornehmlich Wikingern. Uraltes Wissen aus Götter-, Helden- und Riesensagen hat sich dort erhalten. Kurz vor dem Jahre 8oo hat durch irisch-schottische Mönche die Christianisierung begonnen. Wie sich in den altgermanischen Sagen die Welt der heidnischen Götter noch am Leben gehalten hat, so leben in der isländischen Märchenwelt zum Greifen nahe noch die Vorstellungen der alten Elementargeister fort: die Huldren, Elben und auch die bedrohlichen Riesen, ähnlich die den norwegischen und schwedischen Märchen engverwandten Trolle. Sie treiben ihren Schabernack



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mit dem Menschengeschlecht, können zuweilen wohl auch mal einen Spaß verstehen, erweisen sich aber häufig als ingrimmige Gegner und Feinde der Menschen. Öfter auch stehen sie tückisch mit den bösen Stiefmüttern im Bunde, deren es eine recht ansehnliche und vielfach gespenstige Schar gibt. Zuweilen erweisen sich diese auch gütig und hilfsbereit. Varianten sind vielgestaltig, ähneln einander aber häufig sehr. Eine besondere Abart isländischer Märchen sind die zahlreichen Achtermärchen -Achter sind nach isländischer Überlieferung wilde und starke, meist unbändige Einzelgänger, die Gesetz und Brauch übertreten haben, darum verbannt wurden und in anderen, nur sehr schwer zugänglichen Gebieten, in herrenlosen Gefilden das Dasein von Ausgestoßenen und Vertriebenen führen. In vielen isländischen Märchen finden sie sich zu Familien und geordneten Gemeinschaften zusammen. Sie erwählen selbst ihre Anführer und brechen zu festgesetzten Zeiten zu räuberischen Unternehmungen und Überfällen aus. Besonders gern machen sie sich an junge Söhne von Pfarrern heran und entführen mit Vorliebe auffallend schöne Mädchen. Und von denen verstehen sich manche darauf, sie mit allerlei List und Verwegenheit hinters Licht zu führen und ihnen zu entkommen. Von vielen dieser Achter geht etwas aus von der Furcht und dem Grauen, das auch sonst besonders Starke, Räuber und Riesen auszeichnet. Mitunter mischt sich in dieses Grauen auch etwas von übernatürlicher Achtung, die bis zur Hochachtung und schlotternden Verehrung aufsteigen kann. Doch können Achter und Huldren leicht auch zu Unholden werden. Gespenster- und Wiedergänger-Geschichten sind in Island beliebt. Wir begegnen deutlichen Anklängen an das Lenore-Motiv, wie wir es bei uns noch am klarsten in Bürgers Ballade überliefert erhalten haben. Oberhaupt werden wir viele dieser bäurischen und ländlichen Märchen weit eher wohl als Geschichten oder Novellen ansprechen. Sie alle sind der Vertrautheit und Bekanntschaft mit unheimlichen Kräften voll. Greuel und Vernichtung drohen unentwegt. Zur Christnacht - der höchsten Feier der Christenheit -zwischen Eis, Frost und grausigstem Winter feiern Totschlag, Mord und tausendfältiger Spuk die höchsten Triumphe. Finsterster Gegensatz zwischen heidnischem Brauch und christlicher Sitte findet da seinen mehr als nur sinnbildlich zu verstehenden Ausdruck. Schauerliche Bannflüche bringen empfindsame Gemüter schier zum Erzittern; und das unflätige oder hämische Gekreisch und Gezeter der Riesen und Riesinnen endet bei seinen



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Höhepunkten meist in maßlosem Geschlemme und das Blut zum Stocken bringender Menschenfresserei. Ein kleiner Trost nur, daß dem ab und zu auch wackere, sich vor keinem Schrecknis fürchtende Gesellen sich entgegenstellen. Daneben behauptet sich auch eine Art von volkhaft drastischem und durch nichts zu überbietendem, geradezu höllischem Humor. Einmal wird das Gespenst eines Wiedergängers zum Schluß in seinen Sarg zurückgetrieben, muß aber zuvor dem Manne, der es besiegt hat und im Leben vorher sein Freund gewesen ist, seine Untaten beichten und feierlich versprechen, daß es nie wieder erscheinen wird. Es gibt auch den ein Menschenleben überdauernden Haß der Kämpfenden gegeneinander, wie er im Märchen von dem furchtiosen Burschen erwähnt wird. Dieser beobachtet heimlich bei Nacht, wie eine geheimnisvolle Frau aus dem Erdboden heraufsteigt und die im Kampfe Erschlagenen durch Bestreichen der Wunden, die ihnen den Tod gebracht haben, wieder zum Leben und so zu neuem Kampfgetümmel erweckt. Der dessen Zeuge gewesen ist, kann den schier endlos werdenden Wechsel zwischen Leben und Tod nur dadurch zum Abschluß bringen, daß er nun seinerseits dieses unheimliche Weib zum Tode befördert. Aber auch da noch findet in aller schauderhaften Blutbaderei die Lust am Gelächter einen Ausweg und leitet zu versöhnlichem und befriedigtem Ausgang. Die geradezu viehische Gefräßigkeit isländischer Riesen und Riesinnen erinnert mitunter an ostasiatische Gegenstücke.

So ureigen und uralt isländische Märchenüberlieferung immer auch sein mag - es sind Märchenmotive aus aller Welt hier eingedrungen. Seefahrt vermittelte von jeher Wanderung und Austausch. Auch Aschenbrödel und Dornröschen, selbst Rumpelstilzchen haben hier ihre Varianten. Nur ist die Frau des Fischers längst nicht so hochmütig verstiegen wie jene im »Fischer un syner Fru« beim norddeutschen Maler Runge, der das Märchen den Brüdern Grimm weitergegeben hat: sie braucht die Leiter zum Himmel nur, um dort die ihr so überreich verfügbar gewordene Grütze der Jungfrau Maria zum Opfer zu bringen -die Leiter stürzt trotzdem. Der Mann und die Frau fallen herunter, ihre Schädel zerspringen. Aus den Resten der beiden Gehirne und aus den Resten, die vom Grießbrei bleiben, bilden sich weiße und gelbe Flecken auf den am Strand liegenden Steinen. Die isländischen Märchenerzähler pflegen eine derbe und sehr aufrichtige Sprache. Sie machen keine großen Umstände, besitzen auch einen oft trockenen und



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leicht zum Grotesken übergreifenden Witz und Humor. Unerschrockenheit, zäher Mut bis zur verwegenen Draufgängerei paaren sich bei ihnen mit ehrlicher Hilfsbereitschaft, Liebe zur Wahrhaftigkeit und einer inneren Frommheit, die sich mit volkhafter Meinung, die nur irrigerweise mancherorts Aberglaube geheißen wird, sehr wohl verträgt, sich vor Dämonen nicht zu fürchten braucht und durchaus auch Fähigkeiten zu entwickeln vermag, die selbst ein alltäglich geführtes Leben mit dem Wissen um höhere Welten zu vereinen vermögen.

Zu den von Andreas Heusler übersetzten »Kleinen Geschichten«, die wir mit Erlaubnis aus dem erstmals i 91 2 im Georg D. W. Callwey Verlag in München erschienenen »Isländerbuch« von Arthur Bonus entlehnten, sagte der verdienstvolle Übersetzer innerhalb seiner Erläuterungen:

»Die isländischen Prosageschichten soll man im lauten Lesen genießen, nachdem man sich erst den Inhalt vertraut gemacht hat, so daß man jeder Gestalt ihre Tonart geben, für das Wichtige und Nebensächliche den rechten Grad von Herauswölbung und die vielen kleinen Anspielungen und Spitzen zur Geltung bringen kann. Alles ist hier durchaus für mündlichen Vortrag gedacht.«

Die folgenden drei Erzählungen - sie spielen um das Jahr 1000 im nordöstlichen Island -haben den Vorzug, daß sie abgerundete kleine Kompositionen sind; sie werden aus sich selbst verständlich und spinnen ihren Faden zu Ende. Die zweite und die dritte von ihnen bedürfen kaum eines Begleitwortes. Es handelt sich um die Darstellung anspruchsloser Begebenheiten, die durchaus mit dem Anteil für das Seelische angefaßt sind; kleine Charakterstudien: >Wie dem großen Gauhäuptling eine Lehre beigebracht wurde< — so könnte man sie überschreiben. Hier dreht es sich einmal nicht um grimmige Fehden: es ist gemütliche Genrekunst, von Anfang bis zu Ende von einer geheimen Schalkhaftigkeit getragen. Die bäuerliche Umwelt in der Rauchtälergeschichte mutet uns naturfrisch an, als wäre es etwas von gestern. Köstlich kommen in den Reden diese Großbauern heraus, diese sehr erdenhaften Gestalten mit ihrem Menschlich-Allzumenschlichen. Etwas für Feinschmecker ist die Zwiesprache von Gudmund und Thorarin in der letzten Novelette; ein Dialog, der sich so den leisen Gedankenkrümmungen des Alltagslebens anschmiegt, überrascht in einem Werke aus dem Mittelalter. Es wäre verzeihlich, wenn der Leser hier an der Ehrlichkeit des Übersetzers zweifelte! Andern Schlages ist



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die erste Erzählung: ernsthaft, gewichtig, schicksalsvoll. Es ist eine der tausend Abwandelungen des Hauptthemas der altnordischen Dichtung: wie stellt sich ein rechter Mann, wenn die Ehrenpflicht der Rache an ihn tritt? Unsre kleine Saga zeigt die isländische Erzählkunst in ihrer äußersten Verfeinerung, man darf wohl sagen: Vergeistigung. Ein Schritt weiter, und wir befänden uns in Manier und Unklarheit.

Die äußeren Vorfälle sind ungewöhnlich flach angegeben: >gab ihm den Todeshieb<. . . >er läßt sie nun begraben< und ähnliches, ein verwunderlicher Telegrammstil bei den ernstesten Dingen. In wenigen Geschichten tritt das Innenleben so beherrschend hervor. Der Held, sein Vater und der Häuptling, was in diesen drei Männern vorgeht, darauf kommt es an, das Übrige hat nur zu spiegeln.

Aber das Innenleben bekommen wir nur als Zuschauer und Zuhörer zu erschließen. Diese Verschweigungstechnik der isländischen Sagamänner gipfelt wiederum in der kleinen Thorsteinsaga und bringt so Unvergleichliches hervor wie im dritten Abschnitt das Gespräch zwischen Vater und Sohn. Man mache sich klar, wie dies in kunstlos-direkter Weise erzählt worden wäre, das Schweigen des Helden über seine Wunde, die ihn bei der Arbeit hemmt, und wie der Alte die Sache erfährt und seinen Unmut anfangs herunterwürgt, bis er bei Gelegenheit den Jungen zur Rede stellt! Noch mehr verstehendes Hinhorchen verlangt die große Zweikampfszene. Die Hauptsache ist dies: Thorstein in seiner jungen Reckenkraft ist dem bestandenen Häuptling überlegen, aber er muß an sich halten. Sein >Unstern< wäre nicht, selber zu fallen, sondern den Gegner zu erschlagen: denn dann träte Bjarnis ganze Sippschaft auf den Plan und fegte den alten Kotsassen mit alldem Seinigen hinweg. Thorstein zittert für das Leben des Gegners. Daher bringt er ihm das schärfere Schwert; daher führt er die eigene Waffe anfangs nicht mit voller Kraft -dies und anderes müssen wir aus knappen dramatischen Antworten herauslesen. Die Spannung, ob Thorstein aus dem Gleichgewicht kommen und den Gegner beim Wassertrinken und Schuhbinden niederhauen wird, will mitempfunden sein: auch hierfür bringt ein späterer Ausspruch eine Andeutung. Hier heißt es wirklich sich einfühlen, wie in einen Satz alter kunstreicher Musik! Von unmittelbarer Wirkung ist wieder die Meisterszene am Schluß. Man beachte nebenbei, wie mehrmals die langen schleppenden Sätze den Alten kennzeichnen. Und an der üblichen >Einführung< zu Beginn der Saga bemerke man, wie umsichtig sie das Nötige anbringt: Thorarin ist arm,



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aber als alter Seeräuber hält er sich doch gute Waffen: die spielen dann im Zweikampf; und die guten Rosse spielen nachher in der Pferdehatz. Ein feiner Zug ist, wie die Rede des Ungenannten bei den Röstfeuern auf Bjarnis Edelmut vorbereitet.« Dem vorgenannten »Isländerbuch« entstammen auch die Geschichten »Thorstein der Gruseler« und »Wie Olaf der Heilige seine Stiefbrüder prüfte«.

Mit Erlaubnis der Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker e.V. haben wir aus der im Verlag Aschendorff veröffentlichten Sammlung übernommen: »Die Geschichte vom Königssohn Hlinur« in zwei Variationen, die von Frau Gudrun Eyforsdottir und von Frau Elin Briem Jonsson erzählt wurden. Alle übrigen Märchen dieses Landes sind übersetzt von Hans und Ida Neumann und erschienen 1923 im damals noch in Jena wirkenden Eugen Diederichs Verlag, dem wir für die Genehmigung danken, diese Stücke in unsere Reihe aufzunehmen.

Der letzte Abschnitt des Bandes bringt ergänzend noch Märchen von den Färöer-Inseln, jenen 24 vulkanischen Felseninseln zwischen Schottland und Island. Von ihnen sind 17 bewohnt. Sie umfassen insgesamt 1400 Quadratkilometer. Die größte dieser Inseln heißt Strömö, deren Hauptstadt Torshaven mit reichlich 5000 Einwohnern. Eine baumlose Moränendecke über Basaltschichten ist mit Gras und Heide überzogen. Darauf weiden während des ganzen Jahres Schafe und Pferde. Kartoffeln, Gerste und Kohlrüben werden angebaut. Die Bevölkerung ernährt sich von Walfischfang, Schafzucht und Dorschfischerei. Schon zu Anfang des 9. Jahrhunderts gab es dort irische Bevölkerung. In der ersten Hälfte des ii. Jahrhunderts wurde diese durch eindringende Wikinger verdrängt. Um 1035 kamen die Inseln in norwegischen Besitz und fielen 1380 an Dänemark, zu dem sie bis heute gehören.

K. R.


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