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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Reisepelle

Reisepelle war ein merkwürdiger Kerl; er war in vielen Ländern gewesen und nun heimgekehrt. Seine Mutter und alle seine Tanten waren sehr froh, als sie ihn so gesund wiedersahen. Die Mutter fragte ihn, ob er nichts von seinen Reisen mitgebracht habe, aber er



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antwortete: »Nichts als einen riesigen Hunger!«Die Mutter merkte, daß er Speckpfannkuchen haben wollte; sie setzte daher die Bratpfanne auf den Herd, und bald prasselte der Speck und siedete das Schmalz. Und dann taten sie sich alle zusammen gütlich.

Sobald der schlimmste Hunger gestillt war, drang sie in Reisepelle, daß er seine Abenteuer erzählen möge. Reisepelle strich sich ein paarmal um den Mund und fing so an: »Also - es geht sehr wunderlich in der Welt zu, viel wunderlicher, als ihr, die ihr immer am Ofen sitzt, euch vorstellen könnt. Und ein Paar tüchtige Stiefel muß man haben, wenn man sie durchwandern will; dessen wisset, sie ist gewaltig groß, sowohl vorn wie hinten und an allen Seiten. Während der drei Jahre meines Herumstreichens habe ich viele Abenteuer erlebt, und die will ich euch nun erzählen.

Wohin ich zuerst kam, da war ein großer Krieg. Die Trompeten schmetterten, und die Kanonen donnerten. Da hielt ich es für das beste, mich davonzumachen; ich trollte mich daher fort und kam in einen großen Wald. Anfangs hörte ich keinen Ton; aber eins, zwei, drei vernahm ich eine Stimme, die sehr demütig um ein Almosen bat. Als ich mich umsah, bemerkte ich einen zerlumpten Kerl dicht hinter mir stehen, der ein ganz bärtiges Gesicht hatte. Ich zog meine Börse, um ihm ein paar Geldstücke zu geben; denn der Ärmste tat mir leid. Ich fragte ihn, was er in diesem großen, wilden Walde vorhatte. >Ja, süßer, kleiner Herr<, sagte er, >ich bin Bettler von Beruf und schlage mich ganz gut durch<.

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da entriß er mir in einem Hui meine ganze Börse.

>Seid so reizend nett<, sagte er weiter, >und nehmt Eure neuen, schönen Kleider ab; Ihr sollt meine dafür bekommen. Es gibt so viele Bettler im Walde, und man läßt Euch eher in Ruhe, wenn Ihr meinen fadenscheinigen und leichten Rock anhabt.<

Eine solche Art zu betteln war mir noch nie vorgekommen. Ich sann eine Weile nach, was ich tun sollte, als er aber meine Unschlüssigkeit bemerkte, bat er mich noch einmal in der ihm eigenen beredeten Sprache und zog ein großes Messer hervor. Da konnte ich mich nicht länger enthalten, seinem Wunsche zu willfahren, und wir trennten uns als gute Freunde. Er mit meinen neuen Kleidern und ich mit seizerlumpten



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Rocke und ohne Geld. Daß er recht hatte, merkte ich bald, denn ich begegnete über hundert Bettlern; aber alle grüßten mich äußerst höflich, als sie meinen zerlumpten Rock bemerkten, und so kam ich glücklich durch den Wald.«

Reisepelles Mutter war's todesangst zumute, bis sie hörte, daß er wohlbehalten aus dem Walde gekommen sei. Sie und alle Tanten umarmten ihn darauf und sagten, er sei mächtig klug und verständig.

Reisepelle erzählte weiter: »Als ich eine Zeitlang in meiner schlechten Reisetracht umhergestrichen war, sah ich eines schönen Tages zur Mittagszeit eine mächtige Staubwolke auf mich zukommen. Als sie näher gekommen war, entdeckte ich, daß es eine Reiterschar war, bewaffnet vom Kopf bis zur Zehe; alle hatten ein so finsteres Aussehen, als wollten sie jemanden umbringen. Das war auch wirklich ihre Absicht. Denn kaum hatten sie mich bemerkt, da umringten sie mich, und der Anführer fragte:

>Hast du einen Kerl mit einem kleinen Kinde gesehen? Ein Troll hat den jüngsten Sohn unseres Grafen gestohlen, und den suchen wir gerade. Wir sind zwei ganze Tage umhergeritten und haben nach dem Troll gesucht, ohne eine Spur finden zu können.<

Es kam mir fast so vor, als hätte ich vor einer Weile einen Kerl mit einem kleinen Kinde im Busch versteckt liegen sehen. Das Kind hatte so jämmerlich geschrien, und der Kerl sah mir wie ein Schelm aus. Dies erzählte ich den Reitern. Einer hob mich daher gleich auf sein Pferd, und nun mußte ich mit, um ihnen beim Suchen zu helfen.

Nach Verlauf einer Stunde fand ich richtig dieselben Büsche wieder. Wir stiegen ab und suchten überall, aber vergebens. Während ich so herumstöberte, gewahrte ich ein Stück weiter zwischen zwei Steinen ein Loch. Es war mit Laub und Zweigen so gut zugedeckt, daß es nicht leicht zu erkennen war. Sogleich schob ich das Laub und die Zweige zur Seite und - hat man je so was gehört - wer saß wohl darin? Ja, just der Troll mit dem kleinen Kinde. Voll Schrecken fiel er mir zu Füßen und bat mich, ihn um Gottes willen nicht zu verraten, sonst nähme man ihm das Leben, und das wolle er nicht gern verlieren. Aber wenn ich mich seiner erbarmte, würde er mich alle



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seine Künste lehren und mir obendrein einen tüchtigen Beute! voll Geld geben.

Aber ich antwortete ihm: >Ein solcher Schelm wie du muß notwendig gehängt werden; gib sogleich das Kind her und warte dein Schicksal ab!< Als er merkte, daß ich kein Mitleid mit ihm hätte, wurde er gelb und grün im Gesicht vor Todesangst. >Du elender Bettler<, sagte er zu mir, >das soll dein Unglück sein, dich werde ich schon kleinkriegen.<Damit wollte er mich zur Seite puffen und sich mit Gewalt einen Weg aus dem Loche bahnen. Er war furchtbar stark; aber ich nahm alle meine Kräfte zusammen und schrie, so laut ich konnte, damit mir die Reiter zu Hilfe kämen. Diese fanden sich auch gleich ein und legten ihm Handschellen und Fußfesseln an, die hatten sie für diesen Zweck mitgenommen. Der Troll war ganz außer sich vor Verzweiflung, aber es half ihm nichts; er mußte mit. Der Graf war ein reicher und vornehmer Herr und wohnte in einem prächtigen Palaste; er war so froh, seinen Sohn wiederzubekommen, daß er sogleich befahl, mir neue schöne Kleider zu geben. Darauf wurde ich auf das Schloß geführt, und alle Hofleute bückten sich vor mir und baten, ich möchte ein gutes Wort beim Grafen für sie einlegen. Als ich so geputzt und fein zu ihm kam, kannte ich mich selbst kaum wieder, so schön war ich. Dann durfte ich ihm erzählen, wer und woher ich wäre, wie ich den Troll gefunden hätte und so weiter.

Als ich zu Ende war, ergriff der Graf meine Hand und sagte: >Mein lieber Reisepelle, diesen Dienst sollst du mir nicht umsonst erwiesen haben. Du kannst gern immer bei mir bleiben, bis an dein Lebensende, du sollst alles, was du brauchst, vollauf haben, und hast du einen Wunsch, so sage es nur geradeheraus, denn du allein hast mein Kind gerettet und kein anderer!<

Das war ein sehr anständiges Angebot, aber ich dankte ergebenst, da ich mir vorgenommen hatte, ein richtiger Reisepelle zu sein und zu bleiben, und wenn ich mich ordentlich in der Welt umgesehen hätte, in meiner Heimat zu leben und zu sterben.

>Nun gut<, sagte der Graf freundlich, nachdem ich mich offen ausgesprochen und ihn gebeten hatte, meine Ablehnung nicht übel zu vermerken, >dann will ich dich reichlich bedenken, daß du für alle



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deine Lebtage keine Not zu leiden brauchst!< Mit diesen Worten führte er mich in seine Schatzkammer. Da lag Gold und Silber in großen Haufen, und eine solche Menge Edelsteine blitzten mir in die Augen, daß es mir ordentlich weh tat.

Außerdem gab es da eine Menge schöner Sachen, wie sie Könige und Kaiser zu haben pflegen. Aber in einem Winkel stand neben einem köstlichen Kleinod ein Stock aus Holz. Anfangs konnte ich nicht begreifen, wie der Stock unter alle diese Kostbarkeiten gekommen war; denn er sah genauso aus wie ein gewöhnlicher Eichenstock; aber er schien sehr stark zu sein und passend für Fußreisen.

Der Graf führte mich überall herum, damit ich mich ordentlich umsähe; und darauf sagte er zu mir: >Jetzt befehle ich dir, daß du dir aussuchst, was dir am besten gefällt!< Ich schämte mich ordentlich, mich für meinen unbedeutenden Dienst so bezahlen zu lassen. Und da ich gerade einen Stock brauchte, wenn ich auf meinen Wanderungen einem Bettler begegnen sollte, so bat ich den Grafen um den Stock, der in der Ecke stand.

>Den sollst du haben<, sagte er, >und du hast vielleicht besser gewählt, als man glauben sollte. Vor langer Zeit ließ ihn ein weiser Mann meinem seligen Vater und sagte ausdrücklich, daß er einen besonderen Wert habe und gewisse wunderbare Eigenschaften. Ich weiß nichts darüber, aber ich habe ihn aufbewahrt, und wer weiß, vielleicht ist es ein Glück, daß du ihn einmal probierst.<

Darauf schenkte mir der Graf den Stock, und ich fühlte eine unbeschreibliche Freude über seinen Besitz, obwohl ich keinen Unterschied zwischen ihm und anderen Stöcken bemerken konnte.

Ich verbrachte so eine ganze Woche in Saus und Braus am Hofe des Grafen. An demselben Tage, an dem ich abreiste, wurde der Troll hingerichtet. Da fand man in seinen Taschen einen kleinen Schlüssel, der ein höchst sonderbares Aussehen hatte. Als der Graf sah, daß ich ihn so aufmerksam betrachtete, schenkte er ihn mir gleich, und als ich Abschied nahm, standen drei Pferde, mit einer Menge Gold, Silber und prächtigen Kleidern beladen, vor meiner Tür, und sechs Diener hatten den Befehl, mir drei Tage lang das Geleit zu geben und mich nicht eher zu verlassen, als bis ich meine Sachen in Sicherheit gebracht hätte.



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Der Graf hatte sich gewiß nicht vorgestellt, daß mich seine Güte in schwere Lebensgefahr bringen könnte. Die Diener, die er mir zur Reisegesellschaft mitgegeben hatte, waren nämlich große Kanaillen. Als sie sich hinreichend weit von der Residenz des Grafen entfernt hatten, wollten sie mich ermorden, um meine Reichtümer untereinander teilen zu können. In meinem Schrecken hielt ich ihnen ihre Treulosigkeit vor und bedrohte sie mit dem Zorn des Grafen, der sie früher oder später töten würde, aber den fürchteten sie nicht mehr, da sie vorhatten, mit dem Raube weit weg zu fliehen. Ich konnte nur erreichen, daß sie mir das Leben ließen; aber all mein Geld und meine Kleider nahmen sie mit sich, so daß ich eben so arm auf der Landstraße dastand, wie ich zur Welt gekommen. Den Stock und den Schlüssel ließen sie mir jedoch, da sie diese Dinge für ganz wertlos ansahen.«

Als Reisepelles Mutter und Tanten hörten, daß die Diener ihn all seines Geldes beraubt hatten, fingen sie schrecklich zu zetern an. Sie schlugen die Hände vor die Brust und fanden es ganz schauderhaft; es tröstete sie nur einigermaßen, daß ihr Zuckerjunge, der süße Reisepelle, mit dem Leben davongekommen war. Aber nun wollten sie allesamt den Stock und den Schlüssel sehen; diese beiden Reste von Reisepelles Vermögen mußten doch gewisse wunderbare Eigenschaften haben, die er selber nicht bemerkt hatte; aber der Stock sah ganz so aus wie ein anderer Stock und der Schlüssel wie ein gewöhnlicher Schlüssel.

Reisepelle erzählte nun weiter eine Menge wunderbarer Dinge, die ihm während seiner dreijährigen Reise passiert waren. Aber Reisepelles Mutter hatte Mitleid mit ihm, da die Nacht schon weit vorgeschritten war und er nach allen seinen Strapazen ausruhen mußte. Das tat Reisepelle auch wirklich, er schlief bis in den hellen Tag. Als er wieder munter war und seinen Kaffee getrunken hatte, stellten sich alle Tanten von neuem ein, und nun mußte er erzählen, was er am vorhergehenden Tage noch übriggelassen hatte.

Manches Mal sträubten sich die Haare und klopften die Herzen dieser guten Menschen, so angst war ihnen, daß er sich all den scheußlichen Gefahren, in denen er schwebte, nicht würde entziehen können; manches Mal glaubten sie auch, daß er ihnen etwas vorflunkern



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wollte; aber da er versicherte, daß alles so wahr sei, als hätte es im Kalender gestanden, so konnten sie nicht länger an der Wahrheit seiner Worte zweifeln.

Als sich die Gesellschaft so ein paar gute Tage gemacht hatte, bekam Reisepelle schließlich Ruhe. Als sie nun endlich einmal unter vier Augen waren, sagte seine Mutter zu ihm mit einem arglistigen Lächeln: »Aber sag mir mal aufrichtig, kleiner Pelle, wieviel Geld hast du mit nach Hause gebracht? Ein kleines Kapital ist ein guter Anfang, und du tust ganz klug daran, daß du nicht allen dein Geheimnis verraten hast!« Von solchen Fragen hielt Reisepelle nicht viel, sondern antwortete seiner lieben Mutter ganz kurz: »Mit nach Hause gebracht? Genügt es nicht, daß ich mich selbst frisch und gesund nach Hause gebracht habe? Ihr wißt ja, daß die Schelme mir alles nahmen, was ich besaß! Aber das Glück kommt noch, wenn man ihm nur nicht nachläuft. Wer weiß, ob nicht mein Stock einmal den Ausschlag gibt!«

Aber die Mutter sah bekümmert aus und sagte: »Alles das macht sich sehr schön, wohlgemerkt, in Gedanken. Aber wir müssen bald Hungerpfoten saugen!«Und bei sich dachte sie: >Wenn Pelle bis tief in den Mittag schläft und dann noch obendrein wie ein Wolf ißt, welches Ende soll das nehmen für mich armes Weib?<Aber Pelle ließ es sich nicht anfechten, sondern dachte: >Kommt Zeit, kommt Rat.< Dem war auch so. Denn am vierten Tage hielt ein prächtiger Wagen vor der Tür; gold- und silberbedreßte Diener standen hinten drauf, und auf dem Bock saß ein Kutscher, der wie ein König aussah. Das war er freilich nicht; aber der Wagen gehörte dem Könige selbst. Jetzt liefen die Nachbarn zusammen; alle wollten sie den schönen Wagen und die großen Pferde anstaunen. Reisepelles Mutter setzte sogleich ihre schönste Haube auf und beeilte sich, die vornehme Herrschaft in Empfang zu nehmen. In der Tür begegnete sie einem Diener, der fragte, ob hier nicht der junge Herr Peter wohnte, der vor ein paar Tagen aus der Fremde heimgekommen sei.

Reisepelles Mutter verneigte sich vor dem Diener so tief, daß ihre Knie knackten, und sie beantwortete die Frage mit einem »Ja«, während sich ihr Herz wie ein Mühlrad drehte. Sie bat den Diener einzutreten und mit dem Wenigen vorliebzunehmen, was ein so geringes



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Haus wie das ihrige zu geben vermöchte, denn es war gerade Zeit zum Mittagessen; aber der Diener antwortete, er habe schon tüchtig gefrühstückt und außerdem keine Zeit zum Bleiben; Reisepelle müsse sofort aufs Schloß kommen.

Reisepelle stieg darum sogleich ohne weitere Umstände und Komplimente in den Wagen, warf sich rücklings in den mit Sammet überzogenen Sitz und fuhr so zum Könige.

Der König saß in einem großen Saale auf einem goldenen Throne, mit dem Zepter in der Hand, und neben ihm saß die Königin. Alle Wände waren mit schwarzem Tuch bekleidet, an den Fenstern hingen schwarze Gardinen, Stühle und Tische und alles, was sich in dem Raume befand, war schwarz überzogen. Auch der König und die Königin waren schwarz gekleidet, und man sah es ihnen deutlich an, daß sie traurig und betrübt waren und viele Nächte nicht geschlafen hatten.

Als Reisepelle hineinkam, blieb er in der Tür stehen und bückte sich so tief, daß seine Nase den Boden berührte. Aber der König winkte ihm, näher zu kommen, und die Königin sah ihn so freundlich an, wie sie es bei ihrem Kummer vermochte. Da faßte Reisepelle Mut. Der König schüttelte anfangs den Kopf, als grübelte er über etwas, darauf fragte er: »Bist du Reisepelle?«

»Ja, so heiße ich mit Eurer Majestät gütiger Erlaubnis«, antwortete Reisepelle.

»Du scheinst auf deinen Reisen ein kluger Kerl geworden zu sein«, sagte der König weiter.

»Ja, nicht sowenig«, antwortete Reisepelle, »ich habe schon sehr viel auf dieser Welt gesehen und erlebt!«

»Sage mir denn, ob du mich wirklich gern hast«, fragte der König und betrachtete Reisepelle mit gespannter Aufmerksamkeit.

Da wurde Reisepelle ziemlich verblüfft, denn er begriff nicht, worauf es hinaus sollte: aber er dachte bei sich: >Stell dich nur nicht dumm an, Pelle!< —Daher legte er die Hand aufs Herz und drückte sich so schön aus, wie er konnte, und versicherte Seine Majestät, daß er die wärmsten Gefühle für sein Wohl hege, und bat ihn, nicht daran zu zweifeln. Da nickten der König und die Königin einander zu und sahen höchst vergnügt aus.



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»Ja, ich bin überzeugt, daß du mir gern dienen willst, selbst wenn es dein Leben kostet.«

Reisepelle bekam einen heißen Kopf, als er hörte, daß sein Leben auf dem Spiele stände. >Das ist ein Mordskerl von einem König<, dachte er. >Der will, daß ich mein Leben für ihn aufopfern soll.< Er versicherte darum den König noch einmal seiner großen Liebe und Treue, aber machte dabei tausend Umschweife und sagte, was das Leben beträfe, so sei es eine kitzlige Frage, auf die er sich wahrhaftig im Augenblick nicht einlassen könne, so leid es ihm auch täte, seinem gnädigen Könige etwas verweigern zu müssen. Über diese Worte wurde der König so böse, daß er mit dem Zepter auf den Boden stieß, so daß Reisepelle hoch in die Luft fuhr. Aber nun legte sich die Königin ins Mittel und sagte: »Nein, sterben sollst du nicht, aber heiraten sollst du, aus Liebe zu uns!«

»Ja, das sollst du sogleich tun, mein lieber Reisepelle! Sei nicht so schrecklich bange, sondern höre erst, was ich dir zu erzählen habe«, sagte der König.

»Es sind nun zwei Jahre her, da wurde unser Glück durch ein trauriges Ereignis mit einem Schlage zerstört. Wisse nämlich, mein lieber Reisepelle, wir haben eine Tochter gehabt, die bildschön gewesen ist. Wer sie sah, konnte sich nicht satt sehen an ihrem lieblichen, in Schnee und Purpur wechselnden Gesicht, ihren Korallenlippen und himmelblauen Augen. Wir liebten sie so sehr, daß wir sie vielleicht verhätschelten; ich kann nicht leugnen, daß sie etwas naseweis war, aber ihre Schalkhaftigkeit war niemals boshaft. Vor zwei Jahren vollendete sie ihr vierzehntes Jahr; wir feierten ihren Geburtstag mit einem prächtigen Fest.

Am Nachmittag, gerade als wir vom Tisch aufstehen wollten, hörten wir ein Rasseln und Klappern auf der Straße, und in einem Nu stand ein Wagen vor dem Schlosse. Als ich hinunterkam, um zu sehen, wer es sei, geriet ich ganz außer mir vor Schrecken; aber was half es! Wisse nämlich, mein lieber Reisepelle, ich habe eine Tante, die war immer boshaft und abscheulich. Sie ist schon von Jugend an eine arge Hexe gewesen, und ihr höchstes Vergnügen besteht darin, den Menschen Böses zu tun. Ich habe mein Leben lang große Furcht vor ihr gehabt, und sooft sie mir begegnete, versuchte ich immer, ihr auszuweichen;



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aber dann glotzte sie mich immer mit ihren grünen Augen an, so daß ich jeden Augenblick fürchtete, ein Buckel würde mir aus dem Rücken wachsen oder meine Nase sich zu einem langen Horn verlängern; es tat mir bald hier, bald da weh, als hätte mich ein Hexenschuß getroffen. Daß ich keineswegs über ihren Besuch erfreut war, verstehst du jetzt wohl. Aber doch wagte ich ihr nur ein freundliches Gesicht zu zeigen; und obwohl mein Herz vor Furcht klopfte, sprang ich zu, um ihr aus dem Wagen zu helfen, damit sie nicht ihre dünnen Spindelbeine bräche. Sie nahm auch diese meine Artigkeit sehr wohl auf; und nachdem sie eine Viertelstunde gehustet und geprustet hatte, sagte sie sehr freundlich: >Du bist in letzter Zeit ja so reizend nett, mein lieber Vetter, ich wünsche dir auch alles Gute!<—>Wenn nur ihre gute Laune lange dauern wollte<, dachte ich. Aber neben ihr im Wagen saß ein anderes, anscheinend junges Frauenzimmer, das ganz und gar in Schleier gehüllt war, so daß man das Gesicht nicht sehen konnte.

Als sie aufs Schloß gekommen waren, stellte meine Tante das jüngere Frauenzimmer als ihre Tochter vor und befahl ihr, ihren lieben Verwandten eine recht artige Verbeugung zu machen. Das tat sie auch, sagte aber kein einziges Wort dabei und nahm auch ihre Schleier nicht ab. Darüber war ich recht froh; denn ich dachte: >Wenn sie häßlich ist, brauche ich nicht aus Furcht vor der alten Hexe ihre Schönheit zu preisen.<Darauf ließ ich den Tisch decken und bat die Gäste vorliebzunehmen. Da sagte die Alte: >Nun, liebe Tochter, kannst du deine Schleier ablegen, denn hier ist keine Mannsperson gegenwärtig außer Seiner Majestät, und der ist dein Onkel.<

Ich und die Königin und meine Tochter gerieten alle außer uns vor Schrecken, als wir das entschleierte Ungetüm zu sehen bekamen. Die Nase war ganz sicher eine viertel Ehe lang und bog sich wie eine Sichel weit über den Mund hinab, der bis zu den Ohren hinaufging. Sie hatte genau ebensolche Augen wie ihre reizende Mutter; das heißt, sie waren grüngelb und voller Bosheit. Alles, was sie zu fassen kriegte, verschlang sie, als hätte ihr Magen ein Loch.

>Nu, wie gefällt euch meine Tochter<, fragte die Alte, >habe ich nicht ein schönes und munteres Kind?<

>Sehr munter, sehr munter<, antwortete ich, so schnell ich konnte,



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denn ich fürchtete immer, daß sie meine geheimsten Gedanken durchschauen könnte.

>Sie ist auch ein sehr vernünftiges Kind<, fuhr die alte Hexe fort; >sie ist so verständig, daß sie sich jeden Tag verheiraten könnte, und es wird auch wohl nicht lange mehr dauern!< Ein bescheidenes und wohlerzogenes Mädchen wäre ohne Zweifel verlegen geworden und hätte bei solchen Worten die Augen niedergeschlagen; aber das >muntere<und >verständige<Mädchen saß ganz ruhig da und aß immerzu, gerade als hätte die Mutter gesagt: >Beeile dich, liebe Tochter, dann kannst du noch einen halben Ochsen essen!<

Aber dann fragte sie plötzlich meine Teodolinda, warum diese lache; und dabei sah sie so böse aus, daß ihre Augen ordentlich vor Tücke funkelten und ihr Kinn vor Zorn zitterte.

>Ich muß wohl lachen<, antwortete meine Tochter, >es ist zu komisch, daß meine Base heiraten will; wenn ich Freier wäre, möchte ich sicher kein so häßliches Ding haben!<

>Und was scheint dir denn so häßlich an ihr, meine kleine süße Prinzessin?< fragte die Hexe.

>Die lange Nase, liebe Tante; eine so köstliche Nase habe ich wahrhaftig noch nie gesehen.<

>Ja so, also die Nase<, murmelte die Hexe. >Und was denn noch?< >Der breite Mund, liebe Tante; es ist der schlimmste Mund, den ich je gesehen habe.<

>Ja so, also den Mund magst du nicht, mein kluges Kind!<murmelte die Hexe weiter.

>Die Ohren auch nicht; sie sehen wie richtige Eselsohren aus<, fuhr die unvorsichtige Teodolinda fort.

>Da du selbst so schön bist und meine Tochter so häßlich, so ist sicher noch mehr da, was du nicht leiden magst. Sag es nur geradeheraus, mein kleines Mädchen; ich meine es gut mit dir!< sagte die Hexe. Ich und mein Gemahl hatten die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen gesessen und zitterten an allen Gliedern über die Unvorsichtigkeit unseres Kindes. Wir gaben wohl Teodolinda einen Wink, daß sie schweigen möchte; aber da warf uns die Alte ein paar schreckliche Blicke zu, und unsere Prinzessin antwortete, ohne sich weiter zu besinnen:



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>Ja, meine beste Tante, ihre Augen sind ganz schrecklich häßlich, genauso wie Eure; ich möchte nicht mit Euch im Dunkeln allein sein.< Bei diesen Worten wurde die alte Hexe so böse, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte.

>Ich sehe, ich muß dir deinen Willen lassen<, sagte sie zornesmutig. >Du hast mir wirklich mit deinem Geschwätz Spaß gemacht, und darum sollst du auch ein Andenken von deiner häßlichen Tante bekommen!<

Mit der einen Hand packte sie mein armes Kind und mit der andern strich sie ihm übers Gesicht, daß es aufschrie und überlaut jammerte.

>So sollst du aussehen<, sagte die alte Hexe, >bis jemand kommt, der sich mit meiner Tochter verheiraten will und drei Proben besteht, die ich ihm vorlege.<

Darauf nahm sie ihre Tochter an der Hand und lief mit ihr in fliegender Hast die Treppe hinunter und warf sich in den Wagen. Wir eilten ihr nach, aber sie war schon über alle Berge.

Erst als wir wieder in unser Zimmer kamen, erkannten wir die ganze Größe unseres Unglücks. Die Prinzessin weinte bitterlich -wie sehr hatte sie sich verändert! Nase und Ohren waren jetzt dreimal so lang wie vorher. Der Mund war bis an die Ohren aufgerissen. Und die Augen waren fast ebenso häßlich wie bei der Hexe, nur sahen sie nicht so böse aus; denn über ihr Herz hatte der Zauber keine Macht, und das ist das einzige, was uns in unserem Unglück zu trösten vermag. Wie traurig und betrübt wir waren, das kann sich nur der vorstellen, der ein so schönes und liebenswürdiges Kind wie unsere Teodolinda gehabt hat.

Eine Hoffnung bleibt uns trotzdem noch; aber wer weiß, ob sie je in Erfüllung gehen wird.

Da die alte Hexe sagte, daß die Prinzessin vom Zauber erlöst werden würde, wenn sich jemand mit ihrer Tochter verheiraten wollte und drei Proben bestände; so schickten wir gleich einen unserer Hofleute aus mit dem strengen Befehl, er solle sich mit dem Untier verheiraten und die drei Proben ausführen. Das gelobte er auch. Aber als eine lange Zeit verflossen war, ohne daß er von sich hören ließ, schickten wir einen anderen; dem ist es ebenso ergangen und allen folgenden



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auch, die wir zur alten Hexe geschickt haben; daher haben wir fast unseren ganzen Hofstaat verloren. Daß sie ihnen etwas Böses angetan hat, glaube ich nicht, aber vielleicht sind sie von Entsetzen gepackt worden, als sie die Braut zu sehen bekamen, oder sie haben die vorgelegten Proben nicht bestehen können; und da sie sich fürchteten, unverrichteterdinge heimzukehren, haben sie sich lieber in die weite Welt begeben.

Zwei Jahre sind jetzt in fruchtloser Sorge verflossen. Da hörten wir gestern von deiner Ankunft erzählen und daß du ein so kluger und verständiger Kerl sein sollst; und wie ein Blitz fuhr uns der Gedanke durch den Kopf: >Das ist gerade der Rechte, um uns und unser armes Kind zu retten!<Das ist der Grund, mein lieber Reisepelle, warum ich dich rufen ließ, und ich hoffe, du hast jetzt genug gehört, um zu wissen, wie die Sache steht.«

Reisepelle war die ganze Zeit, während der König sprach, mäuschenstill gewesen, die Königin aber weinte bitterlich und sagte: »Ja, mein lieber Reisepelle, jetzt kennst du unsere Not, und wenn du ein menschliches Herz in deiner Brust hast, dann erbarmst du dich über uns und verheiratest dich mit der Tochter der Hexe, damit unsere Teodolinda erlöst wird.« Darauf nahm sie Reisepelle an der Hand und blickte ihn mit tränenvollen Augen an, so daß ihm ganz warm ums Herz wurde vor Rührung. Die Prinzessin selbst vereinte darauf ihre Bitten mit denen der Königin. Sie trug ihr Antlitz mit einem dichten Schleier verhüllt, so daß er es nicht sehen konnte. Aber ihre Stimme klang mild und rührend. Alle drei baten nun Reisepelle so herzlich, daß er ihre Bitte nicht abschlagen konnte.

»Die gnädige Prinzessin will und muß ich von ihrem Zauber erlösen«, sagte er, »selbst wenn ich gezwungen werde, mich selbst mit der alten Hexe zu verheiraten.«

Da konnten sich der König und die Königin kaum beherrschen vor lauter Freude, und sie dankten Reisepelle aufs innigste. Sie wären ihm beinahe um den Hals gefallen und hätten ihn geküßt, so froh waren sie.

Als Reisepelle nach Hause kam und seine Mutter erfuhr, daß er sich auf ein so schauerliches Abenteuer einlassen wolle, weinte sie heftig und stellte sich furchtbar an: »Nun bekomme ich dich nie mehr zu



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sehen, kleiner Pelle; du bist nur drei Tage zu Hause gewesen, und nun willst du wieder fort und noch obendrein zu einem so abscheulichen Hexenpack!«

Reisepelle hatte selbst ein Gefühl der Angst, als er sich darauf besann, was er dem König und der Königin versprochen hatte. >Aber<, dachte er bei sich, >es hilft nun nichts mehr; jetzt ist es zu spät. Und nicht den Mut zu verlieren ist immer das beste, was man tun kann, wenn man nicht weiß, was man tun soll. Wer weiß außerdem, ob es nicht mein Glück ist; denn kein Mensch kennt die Wege Gottes.<

Reisepelles Mutter gab sich auch bald zufrieden; sie überlegte sich nämlich, daß ihr lieber Herr Sohn ein großer Esser war und ihr Mundvorrat bald auszugehen drohte; und daß Pelle je in Verlegenheit geraten könnte, das kam ihr nie in den Sinn; denn sie glaubte steif und fest, er sei der klügste Mann in der ganzen Stadt, abgesehen vom König selber, den sie des Respekts wegen ausnahm. Sie fand es zwar ärgerlich, daß er sich mit einer Hexe verheiraten müsse. >Aber<, dachte sie, >eine häßliche Prinzessin mit viel Geld ist besser als ein armes und schönes Mädchen, und wenn sie hier ins Haus kommt, werde ich sie schon im Zaume zu halten wissen.<

Am folgenden Tage mußte Reisepelle aufbrechen; da wiederholte sie all die Lehren, die ihr das zärtliche Mutterherz diktierte, und beim Abschiednehmen machte sie Reisepelle folgende wichtige Mitteilung:

»Mein lieber kleiner Pelle, du weißt nicht, daß du noch einen Paten hast; der ist ein mächtig kluger Kerl; er kann sogar hören, wie der Wurm im Schlafe schnarcht. Er heißt von Puckelmann; aber ich nenne seinen Namen nicht gern, denn es ist nicht recht geheuer, daß er so klug ist.

Er tat deinem seligen Vater viel Gutes und hat versprochen, auch dir zu helfen. Zu allem Unglück war ich einmal so unvorsichtig, ihn zu beleidigen, und seit dem Tage habe ich ihn nie wieder gesehen. Damals lagst du noch in der Wiege. Wo er ist, weiß ich nicht; aber es ahnt mir, daß du ihn irgendwo auf deiner Reise treffen wirst. Begrüße ihn nur recht höflich und sage ihm, daß du der kleine Peter seist, den er am Walpurgisabend vor zweiundzwanzig Jahren zur



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Taufe trug; du wirst sehen, daß er sich sogleich auf dich besinnt. Er ist so gelehrt, daß er ganz sicher dir und dem Könige helfen kann, wenn er nur will.«

Darauf packte sie in Reisepelles Ränzel einige reine Hemden und ein paar Speckpfannkuchen, die sie in Papier wickelte, damit ihr Pelle wenigstens nicht am ersten Tage verhungere. Dann folgte der Abschied unter vielen Tränen und Liebkosungen.

Aber sie hätte sich gar nicht um seine Reisezehrung zu kümmern brauchen, denn für alles, was er nur irgend gebrauchen konnte, hatte der König und seine Gemahlin Sorge getragen. Als Reisepelle aufs Schloß kam, fand er nämlich alles fertig vor; ja er bekam so viel Geld mit, daß er nicht wußte, was mit dem allen anfangen. Beim Abschied waren alle tief erschüttert, und die Prinzessin weinte hinter ihrem Schleier so bitterlich, daß es einen Stein rühren konnte. Reisepelle sagte darum mit Tränen in den Augen: »Beruhigt Euch, gnädigste Prinzessin, ich will Euch retten oder auch mein Leben aufopfern!« Mit diesen Worten ging er seines Wegs.

Aber man darf nicht glauben, daß der König die alte gute Mutter vergaß; nein, das wäre nicht königlich gewesen! Am selben Tage, als ihr Sohn seine Reise antrat, kam ein königlicher Läufer zu ihr mit einem großen Geldbeutel, und die Königin schickte ihr jeden Tag Essen von ihrem eigenen Tische.

Reisepelle ging nun mit tüchtigen Schritten den geraden Weg vorwärts; aber die Wege wurden immer verlassener und die Wirtshäuser immer spärlicher; schließlich sah er nichts mehr dergleichen, sondern befand sich in einer großen Einöde. Nicht die geringste Spur von Weg oder Steg war noch zu bemerken; er wußte auch nicht, ob er vorwärts oder zurück ging, so leicht konnte man sich verirren. Aber Reisepelle verlor gleichwohl nicht den Mut, sondern marschierte rasch darauf los; denn er glaubte steif und fest, daß er sich auf dem richtigen Wege befände. Und als die freundlichen Sonnenstrahlen zwischen dem grünen Laub hervorguckten und die Vögel des Waldes ihren fröhlichen Gesang anstimmten, da kam es Reisepelle vor, als hätte er einen lieben Gruß von Hause erhalten, und alle Furcht war verschwunden. Den dritten Tag am Abend, als es schon



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dunkel war, glaubte Reisepelle ein Licht zwischen den Zweigen schimmern zu sehen; bei näherer Untersuchung fand er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Das Licht kam von einer Hütte, die tief im Walde versteckt stand zwischen ein paar ungeheuer großen Bäumen. An der einen Seite des Hauses bemerkte Reisepelle ein kleines Fenster; er meinte daher, die Vorsicht erfordere, daß er sich in acht nehme und nachsähe, wer da drinnen wohne. Aber wie überrascht war er über den Anblick, der sich ihm da bot!

An einem kleinen Holztisch saß ein kleiner Mann auf einer Holzbank; vor ihm lag ein ungeheuer großes Buch, in dem er eifrig zu lesen schien. Der kleine Mann mußte sehr alt sein, denn sein Gesicht war ganz gelb und verschrumpelt, und über den großen Buckel, den er am Rücken hatte, fiel langes silberweißes Haar hinab.

Nach einer Weile schlug der kleine Mann das Buch zu und blickte um sich. Es kam Reisepelle merkwürdig vor, daß seine Augen noch so glänzend waren. Nun fing der kleine Alte an, laut vor sich hin zu sprechen:

»Ich habe gelebt schon dreihundert Jahr'
Und gelernt immer mehr und mehr;
Meine Zeit ist vorbei und weiß mein Haar,
Ich zähle die Tage nicht mehr.
Ach, wäre der letzte Tag mir bestellt,
Und könnt' ich verlassen mein irdisches Zelt!
Doch keiner ist da, der begraben kann
Den armen, armen von Puckelmann!«


***
Darauf faltete er seine ausgemergelten Hände und betete mit inbrünstiger Andacht. Reisepelle wollte ihn während seines Gebetes nicht stören; aber sein Herz klopfte vor Freude, seinen Freund und Gönner von Puckelmann gefunden zu haben, und gleich nach Beendigung seines Gebetes schlug Reisepelle die Tür auf und rief: »Ist es wirklich wahr, daß Ihr von Puckelmann heißt?«

»Ja, gewiß heiße ich so«, erwiderte der kleine Alte und betrachtete Reisepelle neugierig; »genauso ist mein Name und nicht anders!«



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»Jaha, wenn Ihr von Puckelmann heißt, so seid Ihr mein Pate; denn ich bin derselbe Peter, den Ihr am Walpurgisabend vor zweiundzwanzig Jahren zur Taufe trugt!«

Von Puckelmann sann eine Weile nach, dann begrüßte er Reisepelle sehr freundlich und hieß ihn willkommen. Darauf setzte er ihm Essen vor. Es bestand zwar nur aus Milch und Brot, aber Reisepelle fand, daß es vortrefflich schmecke; und das war kein Wunder, da er so viele Strapazen durchgemacht hatte. Nachdem Reisepelle ganz satt geworden, fragte ihn von Puckelmann, wie er in den großen Wald gekommen sei, in welcher Absicht usw. Reisepelle gab ihm auf all seine Fragen guten Bescheid und bat ihn um der alten Freundschaft willen, ihm mit Rat und Tat bei seinem gefährlichen Unternehmen beizustehen. Er erzählte ihm, daß er sich auf dem Weg in der sicheren Hoffnung begeben, seinen Paten von Puckelmann zu treffen.

Der alte Mann antwortete hierauf: »Es war mir schon vorher nicht unbekannt, daß die Prinzessin verzaubert sei, und das hat der allweise Gott gefügt; denn sie war ein naseweises Ding, das sich über alle lustig machte, die nicht so schön waren wie sie. Die Schönheit ist ein vergängliches Ding, kein Mensch darf darauf eitel sein, und die Heimsuchung gereicht ihr wahrscheinlich später zu großem Nutzen.«

Reisepelle versicherte, daß die Prinzessin ihren Fehler tief bereue und daß sie weine und sich demütige, soviel sie nur irgend könne. »Nun wohl denn«, sagte der kleine Mann, »ich will sehen, ob ich dir mit einem guten Rat helfen kann, wenn du von mir Abschied nimmst; du hast dir ja nun mal vorgenommen, die Prinzessin von ihrer Verzauberung zu erlösen, obwohl - das muß ich dir sagen - die alte Hexe ein boshaftes und tückisches Wesen ist; sie kann dir leicht einen Possen spielen, daß du all deine Lebtage daran denkst. Leg dich nun schlafen, daß du morgen frühzeitig auf den Beinen sein kannst!«Reisepelle legte sich mit dem Ränzel unter dem Kopfe auf ein Bett von Stroh und Moos. Er schlief süß und träumte von dem Paten von Puckelmann; er sah ihn noch dasitzen und in dem großen Buche lesen und dabei eine Menge wunderlicher Grimassen schneiden.



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Kaum begann der Tag zu grauen, da wurde Reisepelle durch von Puckelmann aus seinem Schlafe geweckt, der ihm ins Ohr rief: »Jetzt ist es Zeit, aufzustehen, du hast noch eine weite Reise vor dir.«

Reisepelle stand gleich auf. Nachdem von Puckelmann eine Weile ganz still gewesen, sagte er zu Reisepelle:

»Mein lieber Pelle, da du mein Patenkind bist, so will ich dir helfen, soweit es in meinem Vermögen steht. Das ist jedoch nicht so leicht, wie du glaubst. Du mußt drei Proben bestehen und dich obendrein mit der Tochter der Hexe verheiraten; aber hiervor brauchst du nicht so schrecklich bange zu sein. Bei den beiden ersten Proben kann ich dir schlechterdings nicht helfen. Aber für die dritte gebe ich dir eine Pfeife. Sei nur ohne Furcht; wenn du dreimal auf ihr geblasen hast, dann hast du alles durchgemacht, und der Zauber der bösen Hexe ist gebrochen. Aber hüte dich wohl, mein lieber Pelle, vor der dritten Probe auf der Pfeife zu blasen, sonst bleibt die Prinzessin ein Scheusal bis an ihren Tod; und wenn du die beiden ersten Proben nicht bestehen kannst, dann verzaubert dich die Hexe sofort, und dann ist es aus - mit dem ganzen Reisepelle.«

Der Alte gab ihm nun eine kleine Pfeife, die nicht weiter merkwürdig zu sein schien; denn sie war weder aus Gold noch aus Silber, sondern aus einfachem Ton. Reisepelle dankte seinem Paten tausendmal und fragte ihn nach dem nächsten Weg zur Hexe.

»Es ist nicht schwer, hinzukommen«, sagte von Puckelmann; »erst gehst du eine Weile geradeaus, bis du an einen ungeheuer großen Baum kommst; darauf biegst du nach rechts ab, bis du an einen Sumpf kommst; dann wendest du dich nach links, bis du an einen hohlen Baum kommst, und dann biegst du nach rechts ab und dann wieder nach links.

Und höre jetzt, was ich dir noch weiter sage. Wenn du die Prinzessin erlöst hast und dich auf den Heimweg begibst, dann schaue in meiner Hütte vor, und wenn du mich tot anfindest, was ich von Gottes Gnaden erhoffe, dann begrabe mich christlich, damit mein Leib vor den wilden Tieren des Waldes geschützt bleibt.« Darauf winkte er ihm, daß er sich auf den Weg begebe.



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Reisepelle war jetzt guten Mutes und hatte keine andere Furcht, als daß er den von Puckelmann gewiesenen Weg verfehlen könnte. Aber es ging besser, als er erwartet hatte. Schon am folgenden Tage bemerkte er von einem kleinen Hügel ein Haus, das mitten in einem tiefen und düsteren Tale stand. Kein Sonnenstrahl konnte dahin gelangen, und das ungeheure Haus machte mit seinen schwarzen Mauern und dunklen Fenstern einen unheimlichen und abschreckenden Eindruck.

Als Reisepelle dem Hause näher kam, begriff er sogleich, daß es die Wohnung der Hexe sei. Rund um das Haus sah man weithin nichts anderes als Heidekraut und Disteln, die so hoch wie kleine Bäume waren, und einige Blumen, die hier und da hervorguckten, sahen so bleich und verwelkt aus, als wären sie nie von einem Sonnenstrahl erwärmt worden. Nirgends zeigte sich ein lebendes Wesen. Wäre nun Reisepelle nicht so tapfer gewesen, wie er war, so wäre er gleich umgekehrt-aber das tat er nicht, sondern ging mit schnellen Schritten weiter. Auf der schmutzigen, verfallenen Treppe trat ihm niemand entgegen; nur ein paar tote Eulen, die an der Wand hingen, glotzten ihn mit ihren goldgesprenkelten Augen an. Als er auf die oberste Treppenstufe gekommen war, bemerkte er eine große Tür, die halb offenstand; mutig trat er ein.

Drinnen saß ein altes, verschrumpeltes Weib, garstiger als alle, die Reisepelle je gesehen hatte. Die Beschäftigung, die sie vorhatte, mußte ihr besonderes Vergnügen machen; denn ihre Augen funkelten vor Freude, und ihr Kinn wackelte vor Wollust hin und her. Es war auch eine Beschäftigung, die für eine Hexe paßte. Sie fütterte nämlich eine große schwarze Katze mit ein paar unschuldigen Vögeln, die sie lebend rupfte. So sehr war sie in ihre Augenweide vertieft, daß sie erst nach geraumer Zeit Reisepelle bemerkte und mit boshaften Blicken durchbohrte.

Reisepelle, der auf die Alte wegen ihrer Grausamkeit gegen die kleinen Vögel zornig war und es für das beste hielt, sich sogleich bei ihr in Respekt zu setzen, fragte barsch:

»Seid Ihr die alte Hexe, die unsere Prinzessin verzaubert hat?« Bei dieser naseweisen Frage sperrte die Alte die Augen auf, daß sie fast doppelt so groß waren wie zuvor.



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»Was seid Ihr für ein Grünschnabel, und was geht's Euch an?«fragte sie mit heiserer und rauher Stimme. »Wartet nur ein bißchen, ich werde schon Eure Höflichkeit beantworten!«

»Was ich will?«rief Reisepelle aus. »Wißt Ihr's nicht? Ich will meine Prinzessin von der Verzauberung erlösen und die junge Hexe heiraten; ich meine Eure Tochter. Quengelt jetzt nicht weiter, sondern sagt mir sofort, was ich tun soll, um den Bann zu brechen. Es riecht so übel bei Euch, daß ich nicht länger bleiben will, als unbedingt nötig ist; beeilt Euch daher!«

Man kann sich leicht vorstellen, wie die alte Hexe diese Rede aufnahm! Ihr ganzes Gesicht zog sich zusammen, und ihre mageren Muskeln zitterten, so böse war sie. Sie schluckte jedoch ihren Verdruß hinunter, da sie sich auf andere Weise zu rächen gedachte.

»So, du bist also ein solcher Teufelskerl, daß du die Prinzessin erlösen willst!«brach sie aus. »Dann darf ich dich wohl mal genau ansehen. Ja, du siehst mir gerade aus, als ob du der Rechte wärst. Ich bin jedenfalls eine gute Alte und will dich gern deine Proben bestehen lassen; aber die Prinzessin, meine Tochter, gebe ich dir nicht gleich auf einmal. Sie ist zu gut, um den ersten besten Landstreicher zu heiraten. Aber wir werden schon übereinkommen, wenn du alles getan hast, was ich dir aufgebe!«

Aber Reisepelle antwortete ihr schlagfertig auf ihre bissigen Worte: »Was die Heirat mit Eurer Tochter betrifft, so dürft Ihr Euch nicht einbilden, daß ich mich ihretwegen aufhängen würde. Jedenfalls soll sie meinetwegen niemandem einen Korb geben!«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als die junge Hexe sich einstellte. Denn sooft sie eine fremde Mannsstimme hörte, war sie schnell zur Stelle. Reisepelle gefiel ihr nicht schlecht; und daß er ein neuer Freier sei, merkte sie gleich; denn alle anderen Leute mieden ihre Wohnung mehr als die Pest.

»Du gefällst mir, mein kleiner Junge«, sagte sie frech zu Reisepelle. »Sieh nur zu, daß du die Proben bestehst; dann will ich mich morgen mit dir verheiraten!«

Reisepelle wußte ja im voraus, daß sie nicht schön sei. Aber ein solch garstiges Aussehen und eine solche Frechheit hätte er nie für möglich gehalten. Sie kam ihm so widerwärtig und ekelhaft vor, daß er ganz



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sicher gleich umgekehrt wäre, wenn ihm nicht die arme Prinzessin und ihre Eltern leid getan hätten. Außerdem hatte er ja sein Ehrenwort gegeben, alles zu wagen, sogar sein Leben.

»Er will dich nicht haben«, sagte die alte Hexe. »Das muß ein merkwürdiger Mensch sein, der ein solch liebes Mädchen nicht haben will!«

Darauf durchbohrten sie ihn mit ihren grüngelben Augen, so daß es Reisepelle kalt über den Rücken lief; denn es kam ihm so vor, als ob die Nasen der beiden Ungeheuer immer länger und länger würden, und er fürchtete jeden Augenblick, daß die beiden Rüssel ihm ins Gesicht stoßen würden. Sein einziger Trost war der Stock, den er vom Grafen bekommen hatte, >im Notfalle verlass' ich mich auf dich<, dachte er bei sich selbst. Er rief daher mit barschem Tone den Hexen zu: »Bekomme ich nun bald die Proben zu wissen, die ich bestehen soll? Kann ich dadurch die Prinzessin befreien, so fürchte ich mich nicht, selbst des Teufels Großmutter zu heiraten; aber ich würde sie auch warm halten, darauf könnt ihr euch verlassen. Nun heraus mit den Proben und spielt nicht länger mit mir!«

Eine solche Sprache hatten die Hexen noch nie gehört. Die alte Hexe meinte, es habe keine Eile; »aber willst du denn durchaus die hoffärtige Prinzessin befreien, so komm«, sagte sie. Die beiden Hexen gingen nun voran, und Reisepelle folgte ihnen. Sie gingen treppauf, treppab und durch eine Menge dunkler Gänge, bis sie endlich an eine Tür kamen; die schlossen sie auf, und darauf traten sie in einen großen Saal. Reisepelle bot sich jetzt ein Anblick, dessen Wirklichkeit er bezweifelt hätte, wenn er sich nicht mit eigenen Augen von der Wahrheit überzeugt hätte.

Eine Menge Personen befanden sich in dem Saale in allen möglichen Stellungen. Es sah genauso aus, als wären sie eben noch am Leben gewesen. Einige schienen aufstehen, andere sich setzen zu wollen, und wieder andere standen mit offenem Munde da. Aber allesamt waren sie steif, unbewegt wie Holzbilder. Keiner konnte auch nur einen Finger rühren, denn sie waren alle verzaubert. Aber als Reisepelle sie genauer betrachtete, wurde es ihm klar, daß es die vielen Hofleute waren, die der König ausgeschickt hatte, um die Prinzessin zu retten, und daß sie von der alten Hexe in Stöcke und Steine verwandelt



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waren. Reisepelle konnte sich nicht enthalten, innerlich vor Furcht zu zittern bei dem Gedanken, daß es ihm ebenso ergehen könnte; vielleicht würde ihn die Hexe gar im Winter ins Feuer werfen, als wäre er ein gewöhnliches Stück Holz.

Die beiden Hexen merkten wohl Reisepelles Angst, denn sie betrachteten ihn mit höhnischen und schadenfrohen Blicken, und die junge Hexe grinste so, daß er glaubte, sie wolle ihn verschlucken.

Und nun sagte die alte Hexe zu Reisepelle: »Du siehst, daß ich es gut mit dir meine. Ich will dir für den Anfang eine leichte Aufgabe stellen, das soll dein erstes Probestück sein. Du siehst hier eine Menge Personen, die weder Hand noch Fuß rühren können. Ich will dir sagen, wie das zusammenhängt. Sie erstarrten mir alle im Winter vor Kälte; geh zu ihnen und sag ihnen ein gutes Wort und bitte sie freundlich, sie möchten sich bewegen. Es ist ganz schändlich von ihnen, daß sie so hartnäckig sind. Geh und hilf ihnen auf die Beine. Das soll dein erstes Probestück sein!«

Reisepelle sah wohl ein, daß die alte Hexe nur ihren Spott mit ihm treiben wollte, denn er hatte gleich bemerkt, daß die Personen verzaubert waren.

»Ich weiß schon ein Mittel«, sagte er, »sie wieder auf die Beine zu bringen, aber ich will es zuerst im guten versuchen.« Er ging darauf bei allen Figuren herum, und da kam es ihm vor, als sähen sie ihn mit wehmütigen Blicken an. Er versuchte ihre Beine und Finger zu heben; aber es war unmöglich. »Ja so, steht es so damit«, sagte Reisepelle. »Wenn ihr nicht gutwillig wollt, so will ich euch schon zu helfen wissen, aber nehmt nur eure Knochen in acht!«

Zwischen Hoffnung und Furcht schwebend, fing er an, mit dem Stocke, den er vom Grafen hatte, aus allen Kräften auf die Herren vom Hofe loszuschlagen. Schon beim ersten Schlag bekamen sie wieder Leben und fingen an, sich zu rühren; aber sie waren über die gewaltigen Schläge Reisepelles so erschrocken, daß sie schleunigst die Flucht ergriffen, so schnell sie nur konnten, ohne auch nur ihrem Befreier zu danken. »Das ist ein herrlicher Stock«, sagte Reisepelle, der nicht wenig stolz auf sich war, als er sah, daß alles so gutging. Er fragte darum sogleich die alte Hexe, worin die zweite Probe bestände. Er brauche sich gar nicht auszuruhen, sagte er, sondern wolle



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sich so sehr wie möglich beeilen. Die Hexen sperrten ihre Augen auf und wunderten sich, wie das nur in aller Welt zugegangen sei; aber soviel sahen sie doch, daß kein einziger der verzauberten Hofherren noch da war.

»Du hast noch zwei Proben zu bestehen; ich freue mich sehr, daß die erste so gutging, aber sie war auch ganz leicht. Komm jetzt mit, ich will dir eine andere geben, die viel, viel besser als die erste ist. Ein so kluger Mann wie du ist lange nicht hier gewesen. Ich habe dich wirklich gern!«Nun gingen sie wieder treppauf, treppab, kreuz und quer.

Sie kamen durch viele Räume, die nichts Merkwürdiges zu enthalten schienen; aber Reisepelle lag auch nichts daran, sich umzusehen, so neugierig war er darauf, was die alte Hexe jetzt mit ihm machen würde. Schließlich sagte sie: »Nun sind wir da; sperre jetzt deine Augen auf und sieh, was vor dir steht!«

Reisepelle sah und sah, aber er konnte nichts anderes entdecken als eine ungeheuer große und schwere Tür mit einer Menge eiserner Schranken, die eine hinter der andern, und die Tür hatte nicht weniger als sieben Schlösser. Ein solches Kunstwerk hatte Reisepelle nie zuvor gesehen. Als er noch so dastand und grübelte, was für Raritäten es sein könnten, die die Hexe dahinter verberge, stieß sie folgende Worte hervor: »Gucke dir nur die Tür genau an, denn dies ist das zweite Probestück. Hier ist die Tür mit den sieben Schlössern! Die sollst du augenblicklich aufschließen!«

»Ja, das werde ich sicher tun«, antwortete Reisepelle, »wenn ich nur die Schlüssel zu den Schlössern habe!«

Die alte Hexe wäre beinahe vor Lachen erstickt, und die junge lachte aus Leibeskräften mit.

»Ja so, du willst Schlüssel haben!« riefen beide mit einem Munde aus. »Ja, das wußten wir, daß du ein Schlaukopf bist! Aber das will ich dir sagen, wenn du die Schlösser nicht aufschließen kannst, dann bleibt deine Prinzessin so, wie sie ist, und du selbst wirst verzaubert!«

Seinetwegen war Reisepelle gar nicht bange, aber wenn er jetzt seine Pfeife hervorgezogen hätte, so wäre es mit der Befreiung der Prinzessin aus der Verzauberung vorbeigewesen.



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>Da mir der Stock schon einmal geholfen hat, so ist es wohl möglich, daß er mir noch einmal beisteht<, dachte Reisepelle und fing an, mit allen Kräften auf die Tür und die Schlösser loszuschlagen; aber all sein Bemühen war vergebens.

Die junge Hexe hohnlachte und sagte: »Ja, ja, du Prahlhans, jetzt sitzt du fest!«

Da war Reisepelle betrübt und dachte an den guten Grafen; wieviel besser wäre es doch gewesen, bei ihm zu bleiben, als nach Hause zu gehen, um später von einer alten Hexe verzaubert zu werden. Aber während er in seiner Verzweiflung auf Auswege sann, fiel ihm der Schlüssel ein, den er von dem Troll geerbt hatte, der des Grafen Kind gestohlen. Kaum war ihm der Schlüssel in den Sinn gekommen, schwapp! war er auch schon aus der Tasche.

Der Schlüssel war auch kein gewöhnlicher Schlüssel; wohl sah er ganz einfach aus, aber er war trotzdem mehr wert als das feinste Kleinod. Kaum hatte er den Schlüssel in das Schloß gesteckt, da sprang es auf; ebenso ging es mit dem zweiten und den anderen, bis alle sechs geöffnet waren. Aber als er an das siebente rührte, erfolgte ein so starker Knall, daß das ganze Haus in seinen Grundmauern erzitterte und die Tür mit einem furchtbaren Krach aufsprang. Diesmal war die alte Hexe ganz baff über Reisepelle; ihre Augen sprühten Feuer, und Geifer zischte um ihren Mund, so aufgebracht war sie, daß die Prinzessin jetzt erlöst würde; denn sie haßte sie von ganzem Herzen, wenn man überhaupt annehmen kann, daß sie ein menschliches Herz in ihrer Brust hatte; wahrscheinlich ist es wohl, daß ein harter Kieselstein die Stelle ihres Herzens einnahm.

Als nun Reisepelle in den großen Raum eintrat, bekam er viele sonderbare Dinge zu sehen. Die Wände und das Dach waren voll bemalt mit den buntesten und wunderlichsten Figuren. Auf dem Boden lagen große Haufen von Gold und edlen Steinen; aber sie hatten ein so unheimliches Aussehen, daß sie an die Schätze Luzifers erinnerten, mit denen dieser die unglücklichen Seelen verblendet und verführt.

Die alte Hexe scharrte nun so viel Gold zusammen, als ihre Schürze halten wollte, und reichte es Reisepelle: »All dies will ich dir geben, wenn du von der dritten Probe abstehst; denn ich will lieber sterben,



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als die Prinzessin erlöst sehen. Stehe deinem Glücke nicht im Wege; wenn du nimmst, was ich dir jetzt biete, so wirst du ein steinreicher Mann, und was brauchst du dich um den König und die Prinzessin zu kümmern?«

»Nein, ich danke vielmals«, antwortete Reisepelle. »Ein solch verächtliches Wesen bin ich nicht, daß ich mein Gelübde breche und die arme Prinzessin im Stich lasse, nur um reich zu werden! Das Gold würde Tag und Nacht wie glühende Kohlen auf meiner Seele liegen, solange ich lebte, und mich wie ein Gespenst noch in mein Grab verfolgen!«

Die alte Hexe glaubte, er führe nur eine so stolze Sprache, weil er noch mehr haben wollte.

»Sage nur geradeheraus, wieviel du haben willst. Ich will dir so viel geben, wie du wünschest; nur darfst du dich nie mehr vor meinen Augen sehen lassen; und das sage ich dir im voraus, wenn du die dritte Probe nicht bestehst, so verzaubere ich dich auf der Stelle, und du wirst nie mehr das Licht des Tages erblicken!«

Aber Reisepelle lachte ganz ruhig über ihre Drohungen; denn er wußte sehr wohl, daß er jetzt nichts mehr zu fürchten hatte. »Ich habe Euch schon gesagt, daß ich mir nichts aus all Eurem Gold mache; denn ich habe mir steif und fest vorgenommen, die Prinzessin zu retten«, war die einzige Antwort, die sie erhielt.

Als die alte Hexe sah, daß er so stolz war und nicht mehr mit sich reden lassen wollte, wäre sie beinahe vor Arger geplatzt. Schließlich machte sie ihrer Bosheit in folgenden Worten Luft: »Ich wundere mich wahrhaftig nicht, daß du so eingebildet bist. Aber warte nur, mein kleiner Junge, noch bist du nicht zu Ende. Obwohl du noch nicht ganz trocken hinter den Ohren bist, so bildest du dir gewiß ein, der Teufel selbst müsse nach deiner Pfeife tanzen; versuche, ob du's kannst, wir werden ja sehen, wie es geht!«

»Ja, ich will's versuchen«, antwortete Reisepelle. »Und das soll meine dritte Probe sein!«

Sogleich zog er die kleine Pfeife hervor, die er vom Paten Puckelmann bekommen hatte, und blies aus allen Kräften darauf, so daß die Wände dröhnten. Die beiden Hexen zitterten an allen Gliedern, und als Reisepelle noch einmal die Pfeife an den Mund setzen wollte,



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fingen sie an zu rufen und zu schreien, daß es für diesmal genug sei und keiner weiteren Probe bedürfe.

Aber Reisepelle ließ sich durch ihr Jammergeschrei nicht abhalten; und als er zum zweiten Male die Pfeife an den Mund setzte, wirkte sie noch entsetzlicher, er erschrak beinahe selbst darüber. Die Wände dröhnten noch heftiger als das erste Mal, und die Erde zitterte und bebte.

Es kam Reisepelle vor, als ob eine Menge blauer Flammen aus dem Boden aufstiegen und überall im Raum umherirrten.

»Hör auf im Namen des Furchtbaren Geistes, dem ich angehöre«, rief die alte Hexe, während sie wie Espenlaub zitterte. Die junge Hexe jammerte nicht weniger und bedrohte Reisepelle mit den furchtbarsten Gebärden.

Reisepelle war selbst ziemlich bange; denn er hätte nie geglaubt, daß eine so kleine Pfeife ein so entsetzliches Wesen machen könne. Er mußte daher allen seinen Mut sammeln, um noch einmal die Pfeife an den Mund zu setzen.

Da ließ sich ein furchtbarer Donnerknall hören, die Erde tat sich auf, und ein großer schwarzer Abgrund öffnete sich, aus dem dicke Rauchwirbel aufstiegen. Man kann sich leicht Reisepelles Bestürzung vorstellen; sein Entsetzen überwältigte ihn, und er fiel bewußtlos zu Boden.

Eine gute Weile mußte verflossen sein, als er sein Bewußtsein wiederbekam; denn als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und die herrlichste Morgenluft umwehte seine brennenden Backen. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er sich auf derselben Bergeshöhe befand, von der er am vorigen Tage die Wohnung der Hexe entdeckt hatte! Alles kam ihm wie ein schrecklicher Traum vor; die Hexe und ihre Tochter, die große Tür mit den Hängeschlössern, alles drehte sich in seinem verwirrten Hirn.

Er rieb sich die Augen, aber vergebens. Das Schloß der Hexe schien nur noch ein gewaltiger Trümmerhaufen zu sein, aus dem brennende Balken hier und da hervorragten.

Nach und nach ordneten sich die Bilder seines Innern. Er besann sich jetzt darauf, wie er selbst bewußtlos niedergesunken; es kam ihm



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so vor, als ob eine große schwarze Gestalt zwischen den Flammen aufgestiegen sei und die beiden Hexen gepackt und mitgeführt hätte. Wie er aber jetzt selbst so frisch und gesund auf dem Berge stehen konnte, das hat er sein ganzes Leben lang niemals begreifen können.

Sein guter Stock lag unbeschädigt neben ihm; auch der Schlüssel war in seiner Tasche; aber die Pfeife, die ihm der Pate Puckelmann gegeben hatte, mußte er in der Verwirrung verloren haben. Reisepelle war nicht sehr traurig darüber, denn er dachte, mit einer solchen Pfeife sei nicht zu spaßen. Nun begab sich Reisepelle mit schnellen Schritten auf den Heimweg. Es war ganz herrlich, in der frischen Morgenluft zu wandern, und die Vögel sangen so schön. Reisepelle tanzte im Weitergehen.

Er vergaß nicht, was er dem Paten Puckelmann versprochen hatte. Als er an dessen Hütte kam, rief er in die Tür: »Guten Morgen, Pate Puckelmann; Dank sollt Ihr für Eure Hilfe haben; ich bin wieder da, frisch und gesund!«Aber kein Puckelmann antwortete ihm; dieser saß mit vornübergebeugtem Kopfe am Tisch und schien zu schlafen. Aber es war der Schlaf des Todes, der seine Augen geschlossen hielt. Reisepelle nahm nun einen Spaten, der in Bereitschaft stand, grub damit eine Grube unter einem dichtbelaubten Baume und bettete den Verstorbenen in die Erde.

Reisepelle wagte nichts von dem zu berühren, was in der Stube war; die Hausgeräte waren außerdem so dürftig, denn ein so großer Gelehrter wie von Puckelmann macht nicht viel Staat.

Nach einem schnellen Marsch von drei Tagen sah Reisepelle endlich seine Vaterstadt wieder. Eine ungeheure Menge Menschen hatte sich am Stadttor versammelt und schien auf jemand zu warten. Aber als er so nahe kam, daß man ihn sehen konnte, brach sie in lauter schallende Jubelrufe aus. Die Kanonen donnerten, und Reisepelle wurde im Triumph durch eine Ehrenpforte geführt, die mit Blumen und Eichenlaubkränzen geschmückt war. Ober diesen prächtigen Empfang war er so gerührt, daß er seine Gefühle nicht mit Worten ausdrücken konnte und heiße Freudentränen über seine Backen hinabrollten. Aber eine noch größere Ehre erwartete ihn; denn der König und die Königin samt der Prinzessin und allem Hofstaat kamen ihm



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entgegen. Alle Herren vom Hofe, die er erlöst hatte, drückten dankbar seine Hand; die Freude und die Dankbarkeit der Prinzessin und ihrer Eltern überstiegen alle Grenzen. Reisepelle erstaunte jetzt über die Schönheit der Prinzessin; und sie sah so mild und gut aus, daß er auch sehr wohl bemerkte, wie nützlich ihre Probezeit auf sie gewirkt hatte.

Sobald die Prinzessin aus ihrer Verzauberung befreit war, hatte die Königin sogleich befohlen, daß ein großes Festmahl stattfinden sollte; aber da man nicht wußte, wie lange Reisepelle ausbleiben würde, hatte man beschlossen, die Feierlichkeiten acht Tage zu verschieben; man hoffte nämlich, daß der ersehnte Befreier unterdessen zurückkommen werde.

Als Reisepelle erzählte, daß er sich nicht mit der Tochter der Hexe verheiratet habe, da stand der König von seinem Thron auf, faßte die schöne Prinzessin, die ihre himmelblauen Augen niederschlug, an der Hand und sagte: »Mein lieber Reisepelle, ich weiß nicht, wie ich dich belohnen soll; aber ich gebe dir das Teuerste, was ich habe, meine Tochter, zur Gemahlin und mit ihr mein halbes Königreich!«

Nun fand eine großartige Hochzeit statt; alle waren froh und glücklich; aber keiner war glücklicher als Reisepelles Mutter. Und nun ist die Geschichte von Reisepelle zu Ende.


Copyright: arpa, 2015.

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