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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Die Frau in der Sippe

Die Gesellschaftsbildung der Kabylen beruht nach allem Bisherigen ganz allein auf der patriarchalischen Sippe. Sippenrecht und -pflicht, ausgedrückt durch Besitzgemeinschaft resp. -genuß und unbedingte Blutrache sind so ausgesprochen, daß ein ersprießliches Familien-, soll heißen Eheleben daneben nicht aufleben kann. Der Vorgang der Verehelichung ist ein ungemein roher. Die Sippe kauft eine Frau für einen ihrer herangewachsenen Burschen. Es ist ein regelrechter Kauf nach Sinn wie nach Wort und die Ware selbst, das betreffende junge Mädchen wird prinzipiell nicht gefragt, ob es für seinen zukünftigen Gatten eine Neigung verspürt oder nicht. Der Kauf wird zwischen den Vätern auf dem Tadjemait abgeschlossen und die einzigen Bedingungen sind dabei Unberührtheit des jungen Wesens auf der einen und genaue Einhaltung der Zahlungsbedingungen auf der anderen Seite. Oft wird der Vertrag schon geschlossen, wenn die beiden Hälften des zukünftigen Gespannes in den Kinderjahren sind.

Ich habe oben schon darauf hingewiesen, daß das Weib als Mutter der kabylischen Anschauung nach lediglich Durchgangsgefäß ist. Der Mann pflanzt sich fort. Ja, man kann sogar sagen, daß es gar nicht der Mann persönlich oder individuell ist, der in dem Kinde "sich selbst vererbt", — man drückt diese Anschauung viel treffender aus, indem man sagt: die patriarchalische Sippenlinie pflanzt sich fort. Alte Kabylen sprechen solches wohl aus. Deutlicher aber als alle Sprache äußert eine alte Sitte den Innensinn, die Sitte der Bruderehe. In alten Zeiten hatte nämlich jeder Bruder Anrechte an die Gattin des Bruders. Wie weit der eigentliche Gatte hier eifersüchtige Vorrechte geltend machen konnte, ist mir nicht mehr gelungen zu erkennen. Aber soviel ist sicher: welcher von mehreren Brüdern auch immer der wahrscheinliche Urheber eines Kindes war,



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das Kind galt im Grunde genommen mehr als das Kind der Sippe, als als Kind des nominellen Gatten der Mutter. Der Onkel von Vaterseite (Vaterbruder, je nach dem Dialekt = ami oder animi, auch wohl äning; Plur.: leamum) hatte demnach natürliche Pflichten am Kinde. Sein Anteil an der Hilfe im Leben des Neffen oder Anrecht an dem durch den Verkauf der Nichte (in der Ehe) erzielten Gewinn war selbstverständlich. Tat der Mutterbruder (=chuseli; Plur.: chali oder chuali oder chueli) etwas für Neffen und Nichten, so galt das als etwas Besonderes, etwas "Gutes", eine Pflicht bestand für ihn nicht. Deswegen hießen Vettern natürlich mis-animi, d. h. Verwandte von Vaterbruderseite her. Vettern im Sinne der Mutterseite gab es eigentlich nicht.

Die konsequente Durchführung dieser Anschauung hat zu Gewohnheiten geführt, die in ihrer Primitivität geradezu erschütternd sind, die auch weder der Islam, noch eine moderne französische Gesetzgebung aus der Welt zu schaffen vermochten. War die junge Frau besonders reizvoll, so war sie nicht nur den Belästigungen ihrer Schwäger ausgesetzt, sondern auch der Verfolgung und Vergewaltigung durch den Schwiegervater, ja sogar durch den Schwiegergroßvater. Islam und französisches Gesetz haben diese eigenartige Gesittung wie gesagt nicht ausrotten können; sie haben beide nur zu einer Verheimlichung, d. h. zu einer Verschlimmerung geführt. Die grauenvollen Bilder, die sich vor den Augen der tiefer Blickenden abspielen, lassen an Schamlosigkeit kaum Schlimmeres erdenken. Diese Anschauung im Bereiche einer geradezu viehischen Sinnlichkeit, wie sie den Kabylen eigen ist, hat in dem Sippenbau eine wollüstig-schwüle Atmosphäre geschaffen, die nichts zu tun hat mit einer biologisch naiven Pantogamie, sondern in raffiniertester Genußsucht gipfelt. Ich habe Einblick in Fälle gewonnen, in denen junge Frauen sich den allseitigen Ansprüchen nur durch freiwilligen Tod zu entziehen vermochten, andere, in denen die Eifersucht den jungen Ehemann zum Selbstmord, wieder andere, in denen sie zum Vatermord führten. Es war ursprünglich meine Absicht, einige solcher Familiengeschichten hier wiederzugeben. Denn sie sind höchst dramatisch. Es würde das aber gleichbedeutend sein mit einem Wühlen in ekelhaftem Schmutz, mit Schilderungen, die unsere europäischen Gefühle peinlich verletzen.

Dieser innerlichen Zügellosigkeit entspricht ein auf das sorgfältigste beobachtetes und durchgeführtes Verbergen. Verlobte gehen, ohne sich anzusehen, mit gesenkten Augen aneinander vorüber.



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Und wenn sie verheiratet sind, sprechen Gatte und Gattin in Gegenwart anderer nie miteinander. Auch die Frau schlägt den Blick zu Boden, wenn sie dem Ehemann begegnet. Nie sprechen sich Gatte und Gattin mit ihrem Namen an! Vor der Welt sind sie füreinander nicht vorhanden. Nie wird also bei den Kabylen ein Mann den Namen seiner Geliebten oder Gattin in den Mund nehmen. Der Zauber des Namenaussprechens äußert sich hier deutlicher als in sonstigen heute noch lebendigen Sitten. Nur wenn Gatte und Gattin allein sind, nehmen sie ihr Mahl auch gemeinsam ein. Sonst essen Männer und Frauen unbedingt getrennt.

Daß unter solchen Umständen sich ein eigener Frauentypus entwickeln mußte, ist ganz selbstverständlich, und daß er nicht gerade ideal sein kann, nur folgerichtig. Dabei muß eins betont werden: die kabylischen Frauen im Alter von siebzehn bis etwa dreißig Jahren sind von einer bezaubernden Schönheit! Hochgewachsene, schlanke Körper mit feinen Gliedern tragen auf feinlinigem Halse Köpfe, aus deren liebenswürdig klassischem Schnitt ein paar wundervolle Augen klug und fröhlich in die Welt schauen. Wer die Gelegenheit gewinnt, etwa in der Nähe eines Brunnens diese schönen Kinder der Natur ganz unter sich und nicht in der Bewegung durch das Bewußtsein der Nähe eines Mannes eingeengt, zu beobachten, der muß sogleich erkennen: hier bewegt sich ein Geschlecht, das sich sowohl seiner Schönheit als auch seiner Macht und seiner gerade unter dem Zwang eines elend versklavenden Sittenrechtes künstlich großgezüchteten Selbsthilfsmittel bewußt ist. Jeder muß hier sehen, daß die Frauen dieser Rasse viel zu klug und - zu schön sind, um sich zwischen den Mahlsteinen solcher rohen Sippenanschauungen zermalmen zu lassen. Das sind Frauen, die sich ihr Selbstbestimmungsrecht nicht nehmen lassen, Frauen, die durch die Verhältnisse hindurchgreifen.

Ohne Frage an eigene Wünsche der Seele und des Körpers werden diese Wesen in ihrer Jugend verkauft. Danach haben sie sich fast zuchtmäßig nicht nur dem eigenen Mann hinzugeben, sondern durch solche Hingabe an die Sippe lernen sie, je schöner und je klüger, desto reizvoller sie sind, die Begehrlichkeit am anderen Geschlecht kennen, und solche Erkenntnis führt zielsicher zu dem Studium, wie sie etwa die eigene Sehnsucht stillen können, der sie in der Ehe um so bewußter nachfolgen werden, je weniger auf sie beim Eheschluß Rücksicht genommen wurde. Ein alter Kabyle hat mir einmal ein sehr weises Wort gesagt: "Nur die jungen Mädchen, die



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in der Jugend einmal einen Fehitritt begingen und die deswegen nur noch einen Mann finden, der sie ,mit dem Herzen' liebt, werden treue Ehefrauen. Alle andern werden ihre Männer betrügen oder ihnen fortlaufen."

In der Tat kann man wohl sagen, daß der weitaus größte Teil der Kabylenmädchen jungfräulich in die Ehe tritt, daß aber ebensoviele ihren Mann betrügen so daß dieses Betrügen direkt ein Sport unter den Kabylenfrauen ist -, eine Angelegenheit, zu deren Durchführung der Verstand bis zur äußersten Kunstfertigkeit im Versteckspiel und Mitteilungswesen entwickelt wird. Rein äußerlich tritt das in einem ständigen Weglaufen der Frauen, in Entführungen, in Messerstechereien und vor allem in der Tatsache zutage, daß die Kabylenfrauen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich (ich gebe die Zahl wohl eher zu niedrig als zu hoch an) dreimal den Gatten wechseln.

Der den Kabylen wie allen Berbern eigentümliche Drang zum Verheimlichen, die Lust am Mystischen, das tiefe Verständnis für Reiz und Zauber, heute weniger des mythischen als des persönlichen Geheimnisses, belebt bei den Männern die Bundesbildung (athrum oder Ssoff), führt aber die Weiber zu einem ständigen Aufreizen der Männer und zu unentwegten Neueroberungen von Liebhabern. Das zeigt sich in der Entwicklung einer sehr originellen "Frauensitte", der Lahrouf lekhalath (sprich auch: lacharuf lachalaph), d. h. "Zeichen der Frauen".

Nach einer halbverschollenen Tradition haben die Kabylenfrauen in der alten Zeit, als noch Kleider aus Leder und aus Schilf üblich waren, es verstanden, alles, was sie jemand anderem mitteilen wollten, auf Leder zu malen oder in Schilf zu weben. Die Kunst ging mit dem Islam und der Einführung der arabischen Männerschrift so gut wie verloren, und als Rest ist nur noch die Erinnerung an alte Zahlenzeichen, an die lahsav alkhalath (sprich auch: lahsäf ei l'chaleph) erhalten, die bis ioo reichten und von denen ich noch einige retten konnte. —Die Behauptung einer untergegangenen Schrift der Kabylenfrauen hat insofern etwas Wahrscheinliches, als ich 1908 in Timbuktu Frauen der Tuareg (also südlicher Saharaberber) im vollen Verständnis ihrer alten Schrift fand, die ihre Männer nicht verstanden.

Mit dieser alten Berberschrift muß nun die Sitte und Übung, sich in lahrouf lekhalath zu äußern, in irgendeinem Zusammenhange stehen, sei es nun, daß sie die Wurzel, sei es, daß sie den Auslauf



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einer untergegangenen Kunst darstellen. Jedenfalls sind diese "Frauenzeichen" eine symbolische Schrift, mittels deren sich die Frauen sowohl untereinander als mit ihren Liebhabern verständigen. Ich habe eine größere Zahl solcher "Zeichen der Frauen"gesammelt, die an anderer Stelle einmal allgemein bekanntgemacht werden sollen. Sie sind sehr verschieden. Sendet z. B. eine Tochter ihrer Mutter eine reife Melone mit einem Messer darin (d. h. "ich bin reif wie eine Melone; es wird Zeit, daß mein Vater mich anschneiden läßt, d. h. verheiratet"), so ist das sehr sinnfällig, — so ist solches zu einer allgemeinverständlichen symbolischen Sitte geworden und stellt an den Scharfsinn des Empfängers der Botschaft keinen besonderen Anspruch.

Anders schon folgendes "Zeichen der Frauen". Ein junger Mann empfängt von seiner Geliebten, einer verehelichten Frau, ein länglich-viereckiges Stoffstück, auf dem oben, rechts und unten je ein farbiger Punkt oder Fleck angebracht ist. Der obere Punkt ist rot, das bedeutet "Blut", der rechte Punkt ist schwarz, das ist die "Nacht", der untere Punkt ist gelb, das bedeutet hier die "Stadt". Im Zusammenhange lautet der Sinn des Briefes: "Komme heute nicht bei Tage, denn es würde blutigen Streit geben. Komme in der Nacht in die Stadt, wo ich dich erwarte." Eine solche Botschaft setzt nicht nur eine genaue Kenntnis der persönlichen Verhältnisse, d. h. also der Eventualitäten voraus, sondern sie stellt auch, und zwar auch bei Kenntnis der gegebenen Möglichkeiten, doch noch einen verhältnismäßig hohen Anspruch an den Scharfsinn des Empfängers.

Hierin aber liegt ein starker Reiz für die Kabylin. Mit der durch Sippenversklavung hervorgerufenen Gier nach Freiheit verbindet sich hier das echt weibliche Bedürfnis, den Mann der Wahl auf die Probe zu stellen, ihn klüger als den eigenen Gatten und als sich selbst geistig gewachsen zu finden. Wenn man sagen kann, daß in den Frauenzeichen einiges auf Tradition beruht und anderes verabredet ist, so spekuliert doch ein integrierender dritter Anteil auf den Scharfsinn, und hierauf sind die Weiber sehr stolz. In der Entwicklung solcher Ansichten und Verhältnisse gewinnen die Frauen denn auch eine Stellung, die sehr eigenartig ist. Die Kabylin repräsentiert eine Macht, die sich nicht im Besitz eines Einspruchsrechtes, nicht in der Erteilung eines erbetenen Ratschlages, fast nie jedenfalls in dem, was wir ein Eheleben nennen, äußert. Die Macht der Kabylin steigt aus rechtloser Selbstbefreiung und Entwicklung der



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Intelligenz im geheimen Zielgewinn empor und drückt ihrer Art deshalb den Stempel auf. Die Kabylin hat nichts gemein mit der Frau aus der südlichen Sahel, die aus matriarchalischem Recht, aus matriarchalischem Selbstbewußtsein heraus in stolzer Selbstverantwortung den Geliebten selbst erwählt und zum Gatten erhebt, die den minderwertig befundenen Gatten herauswirft und mit seinem tapferen Besieger das Lager teilt. Das sind stolze Charaktere, emporgewachsen aus der offen anerkannten Sitte. Die Kabylin ist aber eine kluge Aufrührerin, eine sittenlos Gierige. Deshalb endet der Lebenslauf der matriarchalischen Sahelin in der edlen Gestalt einer Matrone, die der Kabylin aber in der "Setut".

Wenn die junge Frau so schon ihre innere Ausbildung in Übung raffinierten Scharfsinnes findet, so gehört nur eine gewisse Begabung, Zusammenhänge der Tatsächlichkeit und der Erfahrung zu sammeln, dazu, um unmerklich und unbewußt aus ihr eine "weise Frau" (= lekavela; Flur.: lekavelath; sprich auch: lechav[e]la; Flur. lechavleth) werden zu lassen, die von anderen Weibern gern um Rat gefragt wird. Die "weise Frau" spielt aber in der Kabylie nicht etwa die Rolle einer wohlwollend gütigen Beraterin, sondern vielmehr die der in allem Unheilvollen, in allen Kniffen, in den Hintertürangelegenheiten des Lebens beschlagenen Kupplerin. Und aus ihr wird die alternde Kabylin, die nämlich nicht auf ein harmonisch und wohl sittengemäß, aber nicht sittlichkeitsgemäß gewonnenes, nicht auf ein an innerer Befriedigung sattes, sondern nur auf ein durch Befriedigung der Begierde gesättigtes Leben zurückschauen kann, die Setut.

"Das alte Weib" und "Setut" und "Hexe" ist eigentlich identisch. Das Kabyle betrachtet die "alte Frau", "die Setut" als die Quelle alles Bösen und alles Übels. Sehr klar bringt er das in der Entwicklung der "ersten Mutter der Welt" zum Ausdruck. Dort zeigt er, wie sie "von Herzen böse" ist, wie sie am Zwist, an der Entwicklung von Streit und Unfrieden ihre Freude hat. Viele der Märchen zeigen, wie die alten Frauen beglückt werden, wenn es ihnen gelingt, das harmlose Glück anderer zu zerstören. Auch in der Volksdichtung ist die Setut die "Quelle alles Übels". Und nur ganz selten ist in den Erzählungen und Märchen die Spur einer gütigen Alten zu finden. Gütig sind die alten Kabylenfrauen eigentlich nur, wenn es sich um das Schicksal des eigenen Kindes handelt.

So sieht bei diesem begabten Volke der Weg aus, den die in der Jugend so zauberhaft schöne und reizend unschuldige, im Alter so



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intelligente und böse Frau durch ein familienloses Sippenleben nimmt.


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