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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Freunde auf Leben und Tod

Es waren einmal zwei Burschen, die waren so gute Freunde miteinander, daß sie geschworen hatten, sich weder im Leben noch im Tode zu trennen. Der eine wurde nicht alt, sondern starb früh; und eine Zeit darauf freite der andere um eine Bauerntochter, bekam sie zur Braut und wollte heiraten. Als zur Hochzeit geladen wurde, ging der Bräutigam selbst zum Kirchhof, auf dem der Freund lag, klopfte aufs Grab und rief ihn. Nein, er kam nicht. Er klopfte wieder und rief wieder, aber keiner kam. Das dritte Mal klopfte er heftiger und rief lauter, er möge kommen, damit er mit ihm sprechen könne. Endlich hörte er etwas rasseln, und schließlich kam der Tote aus dem Grab.

»Gut, daß du endlich gekommen bist«, sagte der Bräutigam, »ich habe hier lange gestanden, geklopft und gerufen.«

»Ich war weit weg«, sagte der Tote, »und erst beim letztenmal hörte ich es deutlich.«

»Nun ja, heute soll ich Bräutigam sein«, sagte der Bursche, »du erinnerst dich wohl, daß wir früher davon gesprochen haben, wir wollten zusammenhalten und einer auf die Hochzeit des anderen kommen.«

»Ich weiß«, sagte der Tote, »aber du wirst ein wenig warten müssen,



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bis ich mich ein bißchen gerichtet und geputzt habe; ich bin nicht drauf vorbereitet, in einem Hochzeitszug zu gehen.«

Der Bursche hatte wenig Zeit, denn er wollte heim auf den Hochzeitshof, und sie sollten bald zur Kirche; aber nun mußten sie sich alle etwas gedulden und dem Toten einen Raum für sich geben, wie er gebeten hatte, damit er sich richten konnte und Sonntagsputz anziehen gleich den anderen, denn er sollte mit zur Kirche gehen.

Ja, der Tote ging mit zur Kirche und auch von der Kirche wieder heim; aber als die Hochzeitsfeier so weit gekommen war, daß sie der Braut schon die Krone abgenommen hatten, wollte er fort. Um der alten Bekanntschaft und Freundschaft willen wollte der Bräutigam ihn wieder zum Grab begleiten. Als sie zum Kirchhof gingen, fragte ihn der Bräutigam noch, ob er viel Merkwürdiges gesehen habe oder sonst etwas, das wert zu wissen sei.

»Ja, das habe ich«, antwortete drauf der Tote, »ich habe allerhand gesehen«, sagte er.

»Das wäre hübsch zu sehen«, meinte der Bräutigam, »ich hätte auch Lust mitzukommen und alles zu sehen.«

»Das kannst du schon«, sagte der Tote, »aber es kann eine Weile dauern, die du wegbleiben wirst.«

Das sei ihm recht, meinte der Bräutigam und ging mit. Aber bevor sie in das Grab hineinstiegen, riß der Tote einen Grasbüschel im Kirchhof ab und legte ihn dem Burschen auf den Kopf. Sie wanderten weit durch stockfinstere Nacht, durch Gestrüpp und Moorland, bis sie an eine riesige Pforte kamen. Die tat sich auf, als der Tote sie berührte. Drinnen fing es an, hell zu werden, zu Anfang wie Mondschein; aber je weiter sie kamen, desto heller wurde es. Schließlich kamen sie an eine Stelle, da waren grüne Hügel mit prächtigem, fettem Gras, und eine große Viehherde weidete dort; aber wie sehr sie auch fraßen, die Kühe sahen alle sehr häßlich, verhungert und elend aus.

»Was soll das heißen?«fragte der Bursche, der Bräutigam war, »daß sie so mager sind und so schlecht aussehen, obwohl sie fressen, als kriegten sie dafür bezahlt?«

»Es ist ein Gleichnis von denen, die nie genug bekommen, mögen sie auch noch soviel zusammenraffen«, erklärte der Tote.



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Sie wanderten weit und weiter als weit, bis sie auf eine Berghalde kamen; da gab es nichts anderes als nur Kuppen und nackte Felsen und hier und dort ein paar kleine Grasflecke dazwischen. Hier ging eine große Viehherde, und die Tiere waren derart schön und fett und blank, daß sie nur so glänzten.

»Was?«sagte der Bräutigam, »diese, die so eine magere Weide haben und doch so gut aussehen, was soll denn das wieder heißen?«

»Das ist ein Gleichnis von denen, die mit dem wenigen, was sie haben, wohl zufrieden sind«, sagte der Tote.

Nun gingen sie wieder weit und weiter als weit, bis sie zu einem großen See kamen. Der war so hell und blank, daß der Bräutigam es nicht ertragen konnte, ihn anzusehen.

»Nun mußt du dich hier hinsetzen, bis ich wiederkomme«, sagte der Tote, »ich werde für eine Weile wegbleiben.«

Damit machte er sich fort, und der Bräutigam setzte sich hin; und während er dasaß, überkam ihn der Schlaf, und es war, als ob ihm alles in einem ruhigen und festen Schlaf versank.

Nach einer Weile erschien der Tote wieder.

»Gut, daß du sitzen geblieben bist, daß ich dich hier wiederfinde«, sagte er. Aber als der Bräutigam aufstehen wollte, war er so von Moos und Sträuchern überwachsen, daß er wie in einem Nest von Zweigen und Gestrüpp saß. Er befreite sich davon; sie reisten zurück, und der Tote begleitete ihn denselben Weg bis zum Grab. Dort trennten sie sich und sagten einander Lebewohl; und als der Bräutigam heraufkam, ging er geradewegs zum Hochzeitshof. Als er dort ankam, wo er meinte, daß es sein sollte, konnte er sich nicht auskennen. Er sah sich überall um und fragte alle, die er traf; aber er hörte und vernahm nirgends was von Braut oder Hochzeit, Sippe oder Eltern, ja, er konnte nicht einmal jemanden erfragen, den er kannte. Alle wunderten sich über diese Gestalt, die da ging und wie eine Vogelscheuche aussah. Weil er niemanden finden konnte, den er kannte, machte er sich auf den Weg zum Pfarrer und erzählte diesem von seinen Verwandten und wie es damals zuging, als er Bräutigam gewesen, und daß er von der Hochzeit fortgegangen war. Der Pfarrer wußte nichts darüber; aber nachdem er seine alten Kirchenbücher durchsucht hatte, fand er heraus, daß die Hochzeit vor langer,



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langer Zeit gehalten worden war und daß die Leute, von denen der Mann redete, vor vierhundert Jahren gelebt hatten.

Seit der Zeit war eine riesige Eiche auf dem Pfarrhof gewachsen. Als er die sah, kletterte er hinauf und wollte sich umschauen; aber der Alte, der vierhundert Jahre im Himmelreich gesessen und geschlafen hatte und nun endlich heimgekehrt war, kam nicht unbeschadet von der Eiche herunter. Er war starr und steif, wie man sich wohl denken kann; und als er wieder herunter wollte, griff er fehl, stürzte ab und brach sich das Genick und war tot.


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